Fastenpredigt im Dom
im Rahmen der Themenreihe »Hoffnung heute …«
Schrifttext: Mk 10,32-45
Mit Provokationen ist das ja so eine Sache. Sie sorgen zwar für Aufmerksamkeit, nicht selten hinterlassen sie aber auch einen ziemlichen Scherbenhaufen. Bei der Hoffnung ist das anders. Die sorgt bei vielen schon lange nicht mehr für große Aufmerksamkeit, hinterlässt aber immer häufiger einen faden Beigeschmack. Weil sie zur Chiffre geworden ist. Zur Chiffre für den durchschaubaren Versuch, doch noch irgendwie zu retten, was zu retten ist, um nicht völlig zu verzweifeln. Vielleicht haben daher jene Menschen, die diese Predigtreihe entworfen haben, gedacht: Versuchen wir es doch mal mit einer »provokativen Hoffnung«. Und ich habe auf die Frage: »Willst Du dazu nicht mal etwas sagen?« nach leichtem Zögern mit »Ja!« geantwortet.
Hoffnung – provokativ: Was soll man sich darunter vorstellen? Ich könnte diese Frage gleich an Sie weitergeben und um Ihre Antwort bitten. Tue ich aber nicht, keine Sorge! Spannend wäre das allerdings ganz sicher! Denn gewisse Erwartungen werden Sie ja haben, sonst wären Sie nicht hier. Ich mache es anders und stelle mir eine Frage: Wäre ich zu diesem Thema hier in den Dom gekommen, als Zuhörer? Und wenn ja: Was hätte ich erwartet? Hoffnung – provokativ … Vielleicht würde ich mich freuen, wenn sich jemand Gedanken macht über eine Hoffnung, die Aufbrüche entdeckt, zum Beispiel innerhalb des Systems Kirche. Oder wenn ich auf einen Weg geführt werde, der so ganz anders daherkommt. Oder wenn von hoffnungsvollen Erfahrungen berichtet wird. Ja, über so etwas würde ich mich freuen.
Und wenn ich mich freuen würde, das zu hören, könnte ich, wenn ich schon mal hier bin, auch darüber sprechen. Und das tue ich jetzt auch. Drei Überschriften sind mir dazu eingefallen:
Hoffnung – Aufbrüche innerhalb des Systems
Hoffnung – ein Weg, der ganz anders daherkommt
Hoffnung – erfahrungsgesättigt
Auf zum ersten Gedanken:
Hoffnung – Aufbrüche innerhalb des Systems
Im Markusevangelium heißt es: »Als die zehn anderen Jünger das hörten, wurden sie sehr ärgerlich über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein« (Mk 10,41-43).
Immerhin merken es noch zehn von zwölf, dass da was gehörig schiefläuft. Keine ganz schlechte Quote. Zumal sich im Kapitel davor noch alle Zwölf darüber Gedanken gemacht haben, wer unter ihnen der Größte sei. Was ist da los? Jesus ist unterwegs mit seinen Jüngern. Ohne Publikum. Nur er und sie. Denn es geht ans Eingemachte. Die Zwölf kennen Jesus schon recht lang. Sie waren Zeugen, wie er Menschen berührt und verwandelt hat. Haben gemerkt, dass von ihrem Meister eine Kraft ausgeht, die die Welt verändern kann. Sie wissen auch: Auf den roten Teppichen ist er nicht zuhause. Im Gegenteil. An die Ränder und Grenzen, da, wo Menschen ausgebeutet und erniedrigt werden ohne Aussicht auf Besserung – dort, ja dort geht er hin. Am Ende wird er selber einer dieser Kleinen sein. Am Ende seines Lebens wird er draußen vor der Stadt hängen. Verurteilt als Verbrecher.
Jesus ahnt, dass es so enden wird. Und genau deshalb will er mit seinen engsten Weggefährten darüber sprechen. Die Zwölf aber verstehen das nicht. Sie können nicht. Oder wollen nicht. Trauen sich aber auch nicht nachzufragen. Und weil sie sich nicht trauen, wirklich zum Kern vorzudringen, unterhalten sie sich – man glaubt es kaum – über ihre Rangfolge. Das muss man sich nur mal vorstellen: Da packt einer sein Leben auf den Tisch, seine Angst vor diesem Weg – und die engsten Freunde haben nichts Besseres zu tun, als sich Gedanken über ihre hierarchische Stellung zu machen! Jesus rückt die Dinge zwar schnell zurecht: »Bei euch soll es nicht so sein!« Aber werden sie es jetzt verstehen? Werden sie nicht.
Und wir? Wir sind es gewohnt, vom Dienstamt zu sprechen. Je höher, desto mehr Diener. Nicht umsonst ist einer der Titel des mit Unfehlbarkeit und Jurisdiktionsprimat ausgestatteten Papstes »servus servorum Dei« – »Diener der Diener Gottes«. Christiane Florin, die wortgewandte Journalistin mit einer Gabe für treffende Wortschöpfungen, spricht in diesem Zusammenhang von »Bescheidenheitsbrutalismus«. Ich finde, das trifft es ziemlich gut. Die wie eine Monstranz vor sich her getragene bescheidene Dienstauffassung – man nennt es dann gerne »das Gespräch auf Augenhöhe« – kann für die, die überhaupt nicht augenhöhig unterwegs sind, ein subtiler, aber umso vernichtenderer Schlag ins Gesicht sein.
Einige Beispiele: Frauenordination? »Da können wir leider nichts machen!« Homosexuelle? »Die sollen mal endlich Ruhe geben. Wir haben das Arbeitsrecht doch schon geändert!« Vom Missbrauch Betroffene? »Was sollen wir denn noch alles tun?! Es ist doch schon so viel geschehen!« Wer so spricht, tut es immer aus der Position des Stärkeren heraus.
»Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen.« Ihre Macht gegen sie gebrauchen – was wäre (und da kommt nun die Hoffnung ins Spiel), was wäre, wenn man das bei uns irgendwann nicht mehr sagen könnte? Wenn die Großen – egal, welche Farbe deren Ornat hat, egal, ob geweiht oder nicht – was wäre, wenn die Großen konsequent eine Augenhöhe leben würden, die echt ist, weil sie von Herzen kommt, so dass Menschen, außerhalb wie innerhalb der Kirche, spüren: »Die sind wirklich anders! Das macht mir Hoffnung! Da will ich hin!« Ich glaube, dass genau das gehen kann. Wir müssen nur lernen, ehrlich über Macht zu sprechen. Und wir müssten die uns gegebene Macht einfach auch mal bewusst beiseitelegen.
Einer, der uns dies auf sehr eindrückliche Weise vorlebt, obwohl er die höchste Vollmacht hat, die sich in unserer Kirche finden lässt, ist Papst Franziskus. Ihm nehme ich die Demut ab, die sich am Gründonnerstag zeigt, wenn er Strafgefangenen die Füße wäscht. Ihm nehme ich das grundsätzliche Umdenken ab, wenn er Frauen in hohe und höchste Ämter bringt, wenn er von einer synodalen Kirche nicht nur träumt, sondern sie ermöglicht. Ihm nehme ich ab, dass ihm eine verbeulte Kirche lieber ist als die juwelengeschmückte. Nicht nur der alte Fiat, mit dem er schon an so vielen roten Teppichen vorbeigefahren ist, wird mir als Symbol für seinen Weg der Jesusnachfolge für immer in Erinnerung bleiben.
Ein zweiter Gedanke:
Hoffnung – ein Weg, der ganz anders daherkommt
Im Markusevangelium heißt es: »Während sie auf dem Weg hinauf nach Jerusalem waren, ging Jesus voraus. Die Leute wunderten sich über ihn, die ihm nachfolgten aber hatten Angst« (Mk 10,32).
Ich erinnere mich an den ersten Adventssonntag des Jahres 2010. Bischof Franz-Josef liegt ausgestreckt auf dem Boden hier im Dom. Die Geste des Karfreitags. Sprachloses Verstummen vor dem ungeheuren Ausmaß dessen, was Menschen im Raum der Kirche angetan wurde. Eine vielbeachtete Geste. Dreizehn Jahre später tritt er zurück. Als einziger der deutschen Bischöfe. In diesen dreizehn Jahren ist viel passiert. Unendlich viel. Der Prozess der Aufarbeitung? Mühsam. Erst war von Einzelfällen die Rede. Dann setzte sich immer mehr die Erkenntnis durch: Nein, es sind keine Einzelfälle – das ist ein systemisches Problem.
Die Träger der bischöflichen Gewalt (allein in Deutschland) gehen sehr unterschiedlich mit dem um, wofür sie Verantwortung tragen. Mir scheint aber, dass eine Beschreibung, wie wir sie eben von den Jüngern auf dem Weg nach Jerusalem gehört haben, viele der Kirchenverantwort-lichen verbindet: »Die ihm nachfolgten aber hatten Angst.«
Woher kommt diese Angst? Vielleicht ist eine solche Angst die kleine Schwester der großen Unfähigkeit, sich wirklich, ganz und gar, darauf einzulassen, dass die vielen Betroffenen von sexualisierter Gewalt wirkliche und reale Menschen sind, keine Nummern, keine Akten-vorgänge, nein, wirkliche Menschen. Menschen, deren Leben zerstört wurde, ein für alle Mal. Menschen, deren unsichtbare Wunden ein Leben lang schmerzen. Menschen, von denen viele nicht mehr in der Lage sind, sich auf echte Beziehungen einzulassen. Menschen, die sich von Gott verraten fühlen. Menschen, die nur noch Ohnmacht erleben.
Bevor jetzt gleich die Verteidiger auftreten und sagen: »Aber wir haben doch schon so viel gemacht!« oder andere gar die Frage stellen: »Muss es nicht irgendwann auch mal gut sein?“, lassen Sie mich beides kurz und klar beantworten: Nein! Nein, wir haben noch nicht genug getan! Und: Nein, es muss, es kann nicht irgendwann »mal gut« sein! Mit anderen Worten: ein hoffnungsloser Fall? Ja, wenn man es so sieht wie die Systemverteidiger. Nein, wenn wir einen anderen Weg einschlagen. Nur welcher könnte das sein?
Ich würde dann neue Hoffnung schöpfen, wenn in unserer Kirche ein Klima herrschen würde, in dem Betroffene von sexualisierter Gewalt nicht mehr kämpfen müssen. Wenn sie weder in Gemeinden noch bei Kirchenleitungen mit Misstrauen rechnen müssten (auch nicht mit unterschwelligem). Wenn Verantwortungsträger nicht einfach irgendwie weitermachen, sondern Konsequenzen ziehen. Auch persönliche. Wenn das so wäre, könnte ich wieder neue Hoffnung schöpfen.
Mehr noch: Wir könnten zu einem wirklichen Hoffnungsort werden, wenn wir die Dinge nicht nur beim Namen nennen, sondern wenn Menschen, die unendliches Leid in unserer Kirche erlitten haben, zusammen mit ihren Angehörigen und Freunden spüren, wirklich spüren würden: »Hier wird mir geglaubt!« und: »Die ziehen Konsequenzen, auch solche, die wehtun!« Diese Hoffnung – so provokativ sie auch sein mag – kann nur dann eine wirkliche werden, wenn wir, die wir in der Spur Jesu unterwegs sein wollen, uns verabschieden von einem Gehabe, mag es juristisch tausendmal gedeckt sein, das verwundete Menschen einschüchtert, statt sie groß zu machen. Das ist meine feste Überzeugung. Ich glaube, noch ist es möglich!
Nach dieser schweren Kost – für alle schwer – ein letzter Hoffnungsgedanke für heute, noch besser (wie alle anderen Gedanken auch): ein weiterer Hoffnungsgedanke für die Zukunft:
Hoffnung – erfahrungsgesättigt
Im Markusevangelium heißt es: »Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde? Sie antworteten: Wir können es« (Mk 10,38-39).
Die Revolution findet ja nicht immer in den Metropolen dieser Welt statt. Manchmal ereignen sie sich in so beschaulichen Orten wie Osnabrück. Für viele mag es auch gar keine Revolution sein. Für römische Ohren jedoch hat sie sicher etwas Revolutionäres an sich: die seit dem Ökumenischen Kirchentag in unserer Stadt nicht mehr heimlich praktizierte, sondern ganz offen gelebte eucharistische Gastfreundschaft.
Wie immer, wenn es etwas Neues gibt, zumal im dogmatischen Bereich, sind sehr schnell sehr viele Bedenkenträger zur Stelle, die ganz viele, sehr gut überlegte Gründe anführen, warum so etwas auf keinen Fall geht. Und dann lese ich eine Handreichung des Bistums Osnabrück, die theologisch sehr fundiert darlegt, warum es zwar noch keine Abendmahls- und Eucharistie-gemeinschaft dergestalt geben kann, dass wir das Herrenmahl wirklich gemeinsam feiern, indem evangelische und katholische Amtsträger zusammen das Hochgebet über Brot und Wein sprechen – ein gegenseitiges Zulassen und Einladen zu dem, was dort auf dem Altar geschieht, aber möglich ist.
»Könnt ihr den Kelch trinken?« Wer diese Worte Jesu hört – zur Erinnerung: Sie wurden gesprochen auf dem Weg nach Jerusalem, auf dem Weg in den Abendmahlssaal, auf dem Weg nach Golgatha –, wer diese Worte Jesu hört, der weiß: Es geht um alles! Wer das Abendmahl feiert, lädt nicht ein zu einem netten Happening. Es geht dabei auch nicht vordergründig um Gemeinschaft von Menschen, die sich gut verstehen. Es geht immer um die tiefe Gemeinschaft mit Jesus dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Und diese Gemeinschaft führt im letzten zur Gemeinschaft untereinander. Das glauben nicht nur Katholiken. Das glauben auch Lutheraner. Und Reformierte. Und natürlich auch orthodoxe Christen.
Die Einladung zur eucharistischen Gastfreundschaft, wie sie »in besonders dichten ökumenischen Momenten« zwischen evangelischer und katholischer Kirche nunmehr möglich ist, hilft mir, nicht nur theoretisch zu ahnen, sondern ganz praktisch zu erfahren, wie die jeweils andere Konfession in Treue zur biblischen Überlieferung das Gedächtnis Jesu Christi bewahrt hat und feiert. Wie das konkret geschieht, was passiert, wenn die Worte Jesu gesprochen werden und die Kraft seines Geistes auf Brot und Wein herabgerufen wird, das dürfen wir, meine ich jedenfalls, ebenso gut dogmatisch begründet, dem Geist Gottes überlassen. Weht der nicht dort, wo er will?
In meiner Pfarrei Christus König im Norden Osnabrücks haben wir eine solche Erfahrung in diesem Jahr gemacht. Seit vierzig Jahren schon wechseln an zwei Sonntagen im Januar die Prediger ihre Kirchen: Katholiken legen das Wort Gottes in den evangelischen Kirchen aus
und umgekehrt. Nach diesem jahrzehntelangen erfolgreichen Weg haben wir nun einen neuen Schritt gewagt. An einem Sonntag gab es nur evangelische Gottesdienste, am anderen nur katholische. Wir haben dies in den Gremien erörtert und die Gemeinden dazu eingeladen. Wem das (noch) zu früh oder (schon) zu viel war, hatte in unseren Klöstern und den anderen Kirchen dieser Stadt natürlich die Möglichkeit, auch an jenem Sonntag die Eucharistie zu feiern.
Viele aber sind der Einladung gefolgt. Und haben – hoffnungsfroh gestimmt – etwas von jenem Geist gespürt, der wegnimmt, was trennt und der uns zusammenführt in der Gemeinschaft derer, die an Christus glauben. Mir macht dieser Weg Hoffnung. Und ich möchte ihn weitergehen. In Treue zu meiner Herkunft. Aber ebenso offen für das, wohin der Geist Gottes uns führt – wenn wir ihn denn lassen.
Hoffnung – Aufbrüche innerhalb des Systems
Hoffnung – ein Weg, der ganz anders daherkommt
Hoffnung – erfahrungsgesättigt
Drei Versuche waren das, der namenlosen Hoffnung ein – wenngleich für manche sicher provozierendes – Gesicht zu geben.
Was passiert wohl, wenn Menschen, die nicht oder nicht mehr im Raum der Kirche leben, eine solch unverschämte Hoffnung bei uns entdecken? Vielleicht hören wir dann bald schon ganz neue Töne: »Schau mal, wie die leben. Was die machen! Keine Enge, sondern Weite. Keine Angst, sondern Mut! Kein Starren auf früher, sondern viele neue Wege! Eine Gemeinschaft, zu der ich gehören möchte, weil sie Antworten auf meine Fragen hat. Und einen Gott in ihrer Mitte, dem ich nahe sein möchte, weil die, die ihn feiern, eine Hoffnung ausstrahlen, die mich nicht kaltlässt.«
Wenn das irgendwann mal wieder jemand über die Kirche sagt, wäre das für unsere Gesellschaft sicher eine ganz unerwartete Provokation. Und wir, wir hätten die Möglichkeit, unseren Beitrag zu leisten, dass in genau dieser so zerrissenen Gesellschaft wieder etwas mehr von dem spürbar wird, was wir alle so dringend brauchen: neue, echte Hoffnung!
Alexander Bergel