Predigtgedanken aus gegebenem Anlass
Es ist Krieg. Mitten in Europa. Seit nunmehr drei Jahren. Ein Potentat überfällt den Nachbarn und schiebt ihm die Schuld in die Schuhe. Was muss er auch so provozieren? Zynischer geht es kaum. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, betreibt der demokratisch gewählte Präsident der sich selbst so sehenden westlichen Führungsmacht dieselbe Täter-Opfer-Umkehr, um sie gleich darauf wieder zu relativieren: „Das soll ich gesagt haben?“
Und es kommt noch schlimmer. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit demütigt dieser Goliath im Weißen Haus den ukrainischen David, indem er ihm attestiert, die schlechteren Karten zu haben, beim Nichteingehen auf seinen Deal vielmehr einen Dritten Weltkrieg zu provozieren. Eine Steinschleuder hat der so angegriffene David nicht in der Hand, wohl aber klare Worte. Die hingegen prallen am Panzer des selbstgerechten Goliath ab. Ein weiterer Höhepunkt in dieser wohl orchestrierten Schmierenkomödie …
Hier ist nicht der Ort, um die politische Lage zu analysieren. Oder nach Gründen zu forschen. Oder um die narzisstischen Goliaths dieser Welt einem Psychocheck zu unterziehen. Auch wenn ein Satz aus der Lesung durchaus eine Steilvorlage dafür böte: „Im Sieb bleibt, wenn man es schüttelt, der Abfall zurück, so entdeckt man den Unrat eines Menschen in seinem Denken. Lobe keinen Menschen, ehe du nachgedacht hast“ (Sir 27,4-7).
Machtzerfressene Menschen gehen über Leichen. Und man fragt sich immer wieder: Warum? Was läuft schief im Leben der sich selbst als absolut mächtig gerierenden Potentaten? Was läuft schief im Miteinander der Staaten und Völker, dass die Sehnsucht der Menschen nach Frieden so sehr mit Füßen getreten wird? Wann hört Kain endlich auf, seinen Bruder Abel zu erschlagen? Wann lernen die Menschen endlich, wie Tod bringend die Wassermassen der Ignoranz sind, die schon zu Noahs Zeiten alles überflutet haben?
Wann hören die Menschen endlich auf, an diesen hohen Türmen zu bauen, wie in Babel schon einer errichtet, aber nie vollendet wurde? Wann hören die Menschen auf, an Türmen zu bauen, die nur eine Botschaft haben: „Ich zeig euch schon, wie mächtig ich bin!“? Diesen Machtdemonstrationen folgt nämlich – damals wie heute – nur eines: Es gibt keine gemeinsame Sprache mehr. Jeder dreht sich um die eigene Achse. Lebt in seiner eigenen Welt. Und die steht am Abgrund.
„Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen?“ (Lk 6,39). Jesus hat nicht die weltpolitische Lage im Blick, wenn er dies sagt, sondern ganz konkrete Menschen, denen er den Spiegel vorhält. Wer in diesen Spiegel blickt, erkennt darin die eigene Maßlosigkeit. Eine Maßlosigkeit, die darin besteht, den Splitter bei anderen sofort, den Balken im eigenen Auge jedoch nicht zu erkennen. Wenn ich den aber ignoriere, wird meine Sehfähigkeit auf Dauer eingeschränkt sein. Und alles, was ich zu sehen glaube, wird mehr und mehr zum Trugbild.
„Kann ein Blinder einen Blinden führen?“ Nein. Keiner kann das. Weder Menschen noch Staaten. Vielleicht hatte Jesus neben dem einzelnen doch auch die politische Lage im Blick. Die Weltmacht Rom hatte den Zenit ihres Einflusses überschritten. Erste Zerfallserscheinungen wurden sichtbar. Die Folge: immer mehr Gewalt. Immer mehr Willkür. Immer mehr Hass. Und immer weniger Verständigung.
„Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor, und der böse Mensch bringt aus dem bösen das Böse hervor.“ In unserer zerrissenen Welt hören wir vieles, was uns irritiert und verstört. Vielen fällt es immer schwerer, zwischen Fake-News und seriöser Berichterstattung zu unterscheiden. Wir sehen leidende Menschen, weinende Kinder, zerfetzte Körper und feixende Machthaber. Die vielen Kriegsschauplätze sind zwar weit weg – aber diese Bilder, sie erreichen unser Herz, erschüttern, machen Angst. Und hinterfragen uns in unserer zum Glück immer noch funktionierenden Demokratie. Aber auch hier spüren wir, wie wichtig es ist, wachsam zu sein.
Wohin führt der Weg? Uns in dieser Stunde erst einmal hier zusammen. Gebete verändern zwar nicht die Welt, hat einmal jemand gesagt. Aber Gebete verändern Menschen. Und Menschen verändern die Welt. Wir können uns hier gegenseitig stärken. Allein dadurch, dass wir zusammen sind. Wir können öffentlich auftreten und uns mit den Marginalisierten solidarisieren, wir können auf die Straße gehen, um für die Würde des Menschen einzutreten. Gerade das halte ich für ein sehr geeignetes Mittel. Es zeigt, meine ich jedenfalls, dass wir noch „alle Tassen im Schrank“ haben.
Polemiken wie diese ermutigen mich, noch mehr darauf zu achten, welche Worte ich wähle. Sie ermutigen mich, mir immer wieder und immer mehr die Frage zu stellen: Was verbindet uns? Was hilft dabei, Brücken zu bauen? Und nicht: Was trennt uns und was vertieft die Gräben? Ich bin mir sicher, wir können da, wo wir stehen, Wege des Friedens wagen. Auch wenn alles dagegenspricht. Wir können vorsichtiger werden mit unserem Urteil. Und vielleicht auch dankbarer für die Freiheit, in der wir leben. Durch all das wird zwar kein einziger Panzer weniger rollen. Aber so mancher Panzer unseres Herzens wird vielleicht durchlässiger. Und wenn es stimmt, dass Gebete Menschen verändern – wer weiß, wo das am Ende hinführt …
Alexander Bergel