»… außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllte.« Diesen Stempel hat er weg, ein für alle Mal: Judas – der »Sohn des Verderbens«. Selbst Jesus scheint das so zu sehen, wenn er sich am Abend vor seinem Tod, kurz nachdem Judas den Raum verlassen hat, an den Vater wendet: »Ich habe sie behütet und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllte.«

Was ist das für ein Mensch, für den es keine Hoffnung zu geben scheint? Ist er wirklich der geldgierige, verschlagene, hinterhältige Mann, der seinen Meister, der seinen Freund für ein paar Silbermünzen dem Tod ausliefert? Ist er wirklich das verkommene Subjekt, das alles Böse, alles Finstere, ja die tiefsten Abgründe des Menschen in sich vereint? Viele sehen ihn so. Bis heute. Manche Schriften des Neuen Testaments haben dieses Bild gezeichnet. Vor allem der Evangelist Johannes.

Als sein Evangelium aufgeschrieben wurde, waren allerdings schon fast 70 Jahre vergangen, seit Jesus von den Toten auferstanden war. Eine lange Zeit. Eine Zeit, in der sich viel ereignet hat. Die römischen Besatzer hatten den Tempel, die Mitte des jüdischen Volkes, zerstört, und innerhalb des Judentums gab es viele Konflikte. Konflikte, deren Ursprung fast immer die Suche nach dem rechten Weg war. Und so war es an der Tagesordnung, dass die eine jüdische Gruppe der anderen die Wahrheit absprach. Auch die frühe christliche Gemeinde war Teil dieser innerjüdischen Konflikte. All das muss man wissen, wenn in den Evangelien von »den Juden« und wenn dort von Judas, »dem Verräter«, die Rede ist. Aber der Reihe nach.

Als der Evangelist Markus um das Jahr 70 sein Evangelium aufschreibt, erwähnt er dreimal, dass Judas einer der Zwölf ist. Davon, dass er Jesus verrät, ist nirgendwo die Rede. Er schreibt lediglich »überliefern« oder »übergeben«, aber nicht »verraten«. Matthäus spricht zehn Jahre später zwar auch noch von »überliefern«, aber er nennt Judas zum ersten Mal einen Verräter. Lukas macht sich – wieder ein paar Jahre später – auf die Suche nach einer Erklärung für diesen Vorgang im Garten Getsemane und schreibt: »Da fuhr der Satan in ihn.«

Das Johannesevangelium schließlich zeichnet das düstere Bild vom verschlagenen, hinterhältigen Judas. Und damit beginnt eine fürchterliche Wirkungsgeschichte. Eine Wirkungsgeschichte, die in letzter Konsequenz zum Judenhass der Nazis geführt hat. Das Motiv des Judas wurde dort zur Grundlage der Rede vom »ewigen Juden«, der alles Böse, alles Verschlagene in sich trägt. Diese fanatische, verblendete und menschenverachtende Sicht ist bis heute in vielen Köpfen verankert und hält die Welt immer noch in Atem, nimmt sie gefangen und sorgt für Angst und Terror.

Wir erleben es in diesen Tagen, da auch in unserem Land immer mehr Menschen ohne Hemmungen auf die Straßen gehen und gegen »die Juden« protestieren. Es geht ihnen nicht um die in einer Demokratie gegebene Möglichkeit, gegen die Politik eines Staates zu demonstrieren. Nein, schlimmste, widerlichste Ressentiments gegen »die Juden« finden ihren Ausdruck: im Verbrennen der israelischen Flagge, im Angriff auf Synagogen und auf Menschen, die sich als Juden zu erkennen geben.

Es hört einfach nicht auf. Und daher bedarf es unser aller Solidarität! Es bedarf unseres Einsatzes gegen Antisemitismus und gegen alle undifferenzierte Sicht auf jüdische Menschen, die viele der Antisemiten als Kinder des Judas sehen, die ja nur Schlechtes in sich haben können. Was für ein irrer Glaube!

Natürlich darf man den Staat Israel für seine Siedlungspolitik kritisieren. Natürlich darf und muss man Mitleid haben mit den vielen Menschen in Palästina, die unter teils menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen. Auch dort geschieht Unrecht. Um all das geht es den Antisemiten am Ende aber gar nicht. Dieser blutige Konflikt wird seit Jahrzehnten und seit dem 7. Oktober wieder neu instrumentalisiert, um den Kampf gegen »die Juden« plausibel aussehen zu lassen.

Deshalb sind und bleiben wir aufgerufen, unsere Stimme zu erheben, wenn gehen »die Juden« gehetzt wird. Als Christinnen und Christen haben wir diese Verantwortung. Auch weil in unserer Heiligen Schrift durch das im ersten Jahrhundert mehr und mehr verzerrte Judas-Bild eine der Grundlagen für den Judenhass gelegt wurde.

Die Bibelforschung und manche Literaten haben in den letzten Jahrzehnten ein ganz anderes Bild des Judas Iskariot gezeichnet – und vieles spricht dafür, dass es so gewesen sein könnte. War Judas nicht vielleicht viel weniger der Verräter, sondern einer, der Jesus so nahe stand wie kaum ein anderer? Was wäre, wenn Judas vorgehabt hätte, Jesus vor dem Tod zu retten, indem er einen Deal mit den Tempelwachleuten geschlossen hätte, der aber am Ende doch nicht funktioniert hat, weil Judas ausgetrickst wurde? So die Sicht des Schriftstellers Amos Oz.

Oder was wäre, wenn Judas es einfach leid war, auf das Kommen des Reiches Gottes zu warten? »Wenn ich Jesus unter Druck setze«, so könnte er zu sich gesagt haben, »wenn ich ihn nur richtig unter Druck setze, dann wird er doch von seiner Macht Gebrauch machen! Dann wird er aufstehen gegen die Mächtigen und die Unterdrücker und sein Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens aufrichten!« Jesus aber war nicht so. Sein Weg der Liebe ging über das Kreuz. Nicht über das Schwert. Bis heute ein tiefes Geheimnis. Judas ist daran zerbrochen.

All das aber bleibt Spekulation. Auch wenn ich gerade diese Sicht, dass Judas Jesus nicht ausliefern, sondern ihm den letzten Schubs geben wollte, damit Gottes Herrschaft endlich beginnen kann, recht plausibel finde. Judas als der, der zu viel und zu schnell wollte. Und der den Weg Jesu nicht verstanden hat.

Und nun? Jenseits aller Spekulation bleibt die Frage: Was bewegt die Figur des Judas in mir? Bin ich, sind wir als Kirche wirklich so anders? Die eine Antwort wird es darauf nicht geben. Eine Spur weist aber vielleicht – wie so oft – der Blick in die Poesie. Kurt Marti, ein Dichter unserer Tage, formuliert es so:

schöner judas
da schwerblütig nun
und maßlos
die sonne
ihren untergang feiert
berührst du mein herz
und ich denke dir nach

ach was war
dein einer verrat
gegen die vielen
der christen der kirchen
die dich verfluchen

ich denke dir nach
und deiner tödlichen trauer
die uns beschämt

Alexander Bergel

.
Bild: Johannes Simon
In: Pfarrbriefservice.de