Predigten – Archiv
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Predigt am Fest der Heiligen Familie
zu Lk 2,41-52
Eltern kennen das. Eben noch war er da – doch im nächsten Augenblick ist der Nachwuchs verschwunden. Je nach Alter werden die Panikattacken größer oder etwas geringer ausfallen. Und meist finden sich Sohn oder Tochter auch schnell wieder. Entweder in der hintersten Gartenecke beim Beobachten eines Schmetterlings oder am Ende des Universums, versunken ins überlebenswichtige Smartphone.
Jesus ist da nicht anders, zumal, wenn er mitten in der Pubertät steckt. In jener Phase also, in der es schon mal passieren kann, dass sowohl Eltern als auch jugendliche Kinder auf die Idee kommen könnten, den jeweils anderen auf eine lange Weltreise zu schicken. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein, die Welten, die da aufeinandertreffen. War die Tochter, war der Sohn nicht gestern noch ein wirklich liebes Kind? Warum sind denn meine Eltern plötzlich nur noch uncool und so was von vorgestern? Irgendwann gibt sich das wieder. Aber bis dahin ist es oft ein langer, mühsamer Weg.
Lang war auch der Weg zum Tempel. Maria und Josef gingen ihn mehrmals im Jahr. Mit dabei: Jesus. In den ersten Jahren haben sie ihn vermutlich getragen, später ging er an der Hand seiner Eltern, war bei seinen Tanten und Onkeln, den Cousins und Cousinen oder – was auch immer die Bibel darunter versteht – bei seinen Brüdern und Schwestern. Irgendwann muss Jesus – so wie alle jungen Menschen – gespürt haben: Es muss doch mehr geben als das, was ich zuhause erfahre. Was denken denn die anderen? Über Gott, über die Welt, über die Römer, über die Ungerechtigkeit, über die Armut, über die Liebe?
Irgendwann wollte Jesus seine Fragen mit anderen teilen als mit der eigenen Familie. Und so landet er bei denen, die auf vieles eine Antwort haben: bei den thorakundigen Schriftgelehrten. Manches wusste Jesus sicher schon, Maria und Josef sei Dank. Aber da war der Durst nach mehr. Und so setzt sich Jesus zu den alten Männern, tauscht sich aus, vielleicht ein bisschen neunmalklug, hört zu, legt selbst die Schrift aus und erstaunt die theologischen Fachleute.
Maria und Josef haben währenddessen ganz andere Sorgen: Das Kind ist weg! Vielleicht haben sie schon früher gemerkt, dass sich bei ihm was tut, dass er nicht mehr der kleine Junge ist, dass seine Welt eine größere Weite braucht. Und nun ist er weg. Und immer, wenn Eltern in Sorge sind, setzen sie alles in Bewegung, drehen jeden Stein auf links – und finden den Sohnemann ganz unbekümmert wieder. Ob Maria wirklich so huldvoll auf die Unverschämtheit ihres Sohnes reagiert hat („Mutter, wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“)? – lassen wir es mal so stehen. Wirklich verstanden hat Maria ihren Filius vermutlich erst sehr viel später.
Jesus war – das zeigen uns die wenigen Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend – ein ganz normales Kind. Vermutlich hatte er wie alle Kinder eine blühende Phantasie, machte gerne Faxen und nicht immer das, was er sollte. Als Erwachsener wird er später einmal sagen: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Reich Gottes kommen!“ Und damit meinen: „Verlernt nicht, die Welt aus Kinderaugen zu sehen! Seid nicht immer so vernünftig! Hört nicht auf zu träumen!“
In dieser Tempelgeschichte lernen wir Jesus als einen kennen, der nicht fertig vom Himmel gefallen ist. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, das wissen wir alle. Ein Gott zum Glück aber auch nicht! Denn zum Menschsein gehört doch, dass ich mich entwickeln darf, ja, entwickeln muss. Dass ich Fehler machen darf. Dass ich mich manchmal selbst überschätze. Dass ich nicht immer gut gelaunt bin. Dass ich meine eigenen Wege finden muss und mir dabei auch blutige Nasen hole. Dass ich immer ein Lernender bleibe. Dass ich Wurzeln habe, aber Flügel brauche, um wirklich leben zu können.
Der Blick auf Maria und Josef und Jesus zeigt uns kein Idyll, kein Ideal, sondern die Realität. Das ganze Leben dieses Jesus von Nazareth war zutiefst real. Von der Krippe bis zum Kreuz. Weihnachten feiern heißt also: Gott begegnet mit nicht im Märchenwald, sondern in meiner Realität. Inklusive Pubertät. Und das will schon was heißen …
Alexander Bergel
29. Dezember
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Predigt an Weihnachten
zu Lk 2,1-15
Unsere Kirche erstrahlt in einem warmen Licht. Krippe und Baum sorgen dafür, dass es heimelig bei uns ist. Der wunderbare Gesang hat uns gerade das Evangelium mit der Botschaft gebracht: Gott wird Mensch. Gott kommt zu uns Menschen. Wir wünschen uns zu Weihnachten Gemütlichkeit, Beschaulichkeit, Ruhe, Friedlichkeit, die Sorgen und Nöte für einen Moment hinter uns lassen und daran glauben, dass uns ja jetzt der Retter geboren wurde. Der, der den Frieden bringt.
Dieser Retter, dieses Kind im Stall, dieser Jesus kann aber erst einmal nicht viel und braucht viel Beistand und Hilfe – auch wenn viele Krippendarstellungen etwas anderes vermuten lassen. Wir alle hier wissen: Ein Neugeborenes ist nicht selbstständig. Es braucht uns. Es braucht unsere Hilfe. Und zwar rund um die Uhr.
Worum geht es in der Menschwerdung Gottes also? Es geht nicht ohne uns … Oder anders gesagt: Sieh hin und handle!!! Und tue, was getan werden muss! Und genau, wie nicht alle automatisch Profis in der Betreuung von Säuglingen sind, genauso ist es mit dem Verstehen dessen, was Gott uns sagen möchte. Mir wird dieses Kind im Stall anvertraut, das wirklich einen erbärmlichen Start ins Leben hat. Und ich soll mich kümmern. Und ich soll verstehen, was es mir sagen möchte, und entsprechend danach handeln.
Gott traut mir also etwas zu! Der Blick in ein Babygesicht zaubert dem Schauenden in der Regel ein Lächeln ins Gesicht und berührt das Herz. Und manchmal hält dieser Zustand auch eine Weile an … Am liebsten möchte ich also dieses Kind nehmen und es den Machthabern dieser Welt zeigen. Nach Russland, Amerika, Israel, Ukraine, Syrien, nach Rom auf den Petersplatz, ins Europäische Parlament, zu den Verantwortlichen der sogenannten Volksparteien in unserem Land, zu … Soll ich weiter aufzählen?
Babys spüren, ob man es gut mit Ihnen meint. Ich glaube fest, dass es dieser Gott gut mit uns meint, aber wie reagieren wir richtig? Wem vertraut Gott dieses Kind im Stall an? Vor wem braucht es meinen/unseren Schutz? Bei wem kann ich mir sicher sein, dass diesem Kind nichts passiert? Nicht einmal unsere eigene Kirche hat es geschafft … Bin ich es wert, dass man es mir anvertraut?
Dieses Kind im Stall wird als Erwachsener sagen: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Der erwachsene Jesus wird uns zudem sagen, dass wir alles dafür tun sollen, ja, müssen, dass Menschen in Freiheit, Gerechtigkeit und als geliebte Menschen leben dürfen … Ich darf nicht darauf warten, dass andere es tun. Wir dürfen nicht darauf warten, dass andere es tun.
In diesen Zeiten und wahrscheinlich schon immer ist es wichtig, Position zu beziehen. Wahrhaftigkeit einzufordern. Mir bewusst machen, dass mir dieses Gotteskind als Geschenk anvertraut ist, das ich „schützen“ soll. Nicht müde zu werden, dafür einzustehen, dass diese sinnliche Atmosphäre in dieser Christus-König-Kirche für alle da ist … Ja, da wäre …
Ich möchte manchmal nur dasitzen und daran denken, wie ich eines unserer Kinder als Baby in den Armen hielt, und einfach in diesem Gefühl des Glücks einfrieren und alles um mich herum vergessen. (Ich durfte das so oft erleben.) Kann ich nicht, und das Leben will ja auch weitergehen.
An mutigen Tagen spüre ich die Kraft des beginnenden Lebens: Dieses Kind im Stall wird für den Frieden auf der Welt 33 Jahre später ans Kreuz geschlagen und sagen: „Musste nicht dies alles geschehen?“ Ich frage mich: Was muss noch alles geschehen? Wie viele Menschen müssen noch durch Kriege sterben? Wie viele verhungern? Wie viele noch auf der Flucht sein? Ganz aktuell: Warum wird, wie gerade in Magdeburg erlebt, so viel Menschenleben zerstört?
Wir haben so viele Möglichkeiten, und wir tun schon so viel: Dieses Kind zu schützen, heißt, den Glauben zu schützen, heißt, mit Hoffnung in die Zukunft zu schauen, heißt, unseren Glauben zu retten in einer Welt, die gottlos zu werden scheint – oder im Namen Gottes missbraucht wird. Schließlich: Die Botschaft von Weihnachten heißt, sich mit den Katastrophen des Lebens nicht abzufinden.
Es geht nicht ohne uns … Wir alle hier haben Verantwortung für das, was wir tun, und wir haben sie auch für jenes, das wir unterlassen. Wir alle hier sind aber nicht allein. Wir sind heute viele. Und all die Lieder heute Abend, all die Gebete, die Musik und die Worte der Bibel richten den Blick auf den Stall, auf die Menschwerdung Gottes, die uns vielleicht sagt: Hier lieg ich, sieh her, lass dich berühren, blicke dann auf und handle so, wie es dir möglich ist. Zuhause, auf der Arbeit, in der Schule, im Ehrenamt, im Krankenhaus, im Seniorenheim, in der Fankurve, in der Politik, bei deinem Nächsten, bei …
Jesus, der Christus, wird später sagen: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass mit Jesus eine neue Freiheit in diese Welt gekommen ist, in der wir uns gegenseitig als Mensch sehen und begegnen sollen – als von Gott gewollt, in aller Buntheit und Diversität –, einfach als Menschen, auserwählt, selbst ein Gotteskind zu sein.
Solange Menschen an dieses Kind im Stall glauben, solange lebt in mir die Hoffnung auf das Leben … Und das kann keiner und keine allein: Das geht nur in Gemeinschaft. Dies ist der Ort und vielleicht die Zeit, sich darin gegenseitig zu bestärken.
Dirk Schnieber
24. Dezember
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Predigt an Weihnachten
zu Lk 2,1-15
„Ich kann ja doch nichts tun!“ Viele sehen das so. Kriege allüberall. Armut in weiter Ferne und immer häufiger auch nebenan. Selbstverliebte Männer, die an der Spitze von Staaten und Konzernen ihr Ding machen. Eine Müdigkeit, die sich auf die Seelen legt. Kinder und Jugendliche, die immer weniger miteinander sprechen können oder wollen, weil sie von diffusen Ängsten zerfressen werden. Ein Gefühl der Hilflosigkeit – überall ist es mit Händen zu greifen. Auswege? Nicht in Sicht.
Und mittendrin, mitten in einer Welt voller Fragen und Sorgen, voller Angst und Isolation feiern wir Weihnachten. Ein Stück heile Welt inmitten einer Welt voller Unheil. Ist es das? Ehrlich gesagt: Nein. Weihnachten ist kein Stück heile Welt in einer Welt voller Unheil. Weihnachten ist die Antwort auf die Frage, die sich Gott gestellt haben könnte, als er auf eine Welt blickt, die eigentlich mal als gute Schöpfung gedacht war. Weihnachten ist seine Antwort auf die Frage: „Was kann ich denn tun?“ Und die Antwort, die Gott findet, lautet: „Werde Mensch!“
So etwas hatte es zuvor noch nie gegeben. Sicher, die alten Mythen der Griechen und Römer erzählen davon, dass die Götter auch mal Menschengestalt annehmen, um sich schönen Frauen zu nähern oder auf andere Weise eine Abwechslung ins zwar allmächtige, aber doch recht triste Götterleben zu bringen. Hier ist es anders. Werde Mensch – das bedeutet in unserem Fall: Gott verkleidet sich nicht, er will auch nicht ein bisschen mehr Abwechslung oder mal eine himmlische Auszeit. Nein, wenn Gott Mensch wird, dann, um es ganz und gar zu sein. Ein für alle Mal.
Was aber heißt das – Mensch sein? Zuallererst einmal: Ich bin liebenswert. Ich habe eine Würde. Einen Namen und ein Gesicht. Das ist die erhabene Grundlage. Doch dann wird es schnell sehr praktisch. Zum Menschsein gehört die erste und ganz sicher nicht die letzte vollgemachte Windel. Zum Menschsein gehört, keine Sprache zu haben, um die Schmerzen zum Ausdruck zu bringen, die mir die ersten Darmkoliken bereiten. Zum Menschsein gehören die freudestrahlenden Gesichter meiner Eltern, wenn sie mich das erste Mal sehen. Dieselben Gesichter sind nach wochenlanger Schlaflosigkeit zwar ziemlich erschöpft, aber immer noch spricht diese einzigartige Liebe aus ihren müden Augen.
Was heißt es, Mensch zu sein? Ich werde größer, entdecke die Welt, lerne andere Menschen kennen. Irgendwann spüre ich: Ich bin nicht die Mitte des Universums. Ich habe vielleicht Geschwister. Auf jeden Fall sind da irgendwann andere Kinder, mit denen ich spielen kann. Und wenn ich sechs Jahre alt bin, wird meine Welt wieder größer, denn nicht nur Zahlen und Buchstaben tauchen da plötzlich auf, sondern ich gehe morgens um 8 allein aus dem Haus. Immer mehr entdecke ich, was das Leben an Wunderbarem, aber auch Herausforderndem für mich bereithält. Die erste Liebe mit ihren explodierenden Gefühlen ebenso wie der Schmerz, wenn diese Liebe zerbricht.
„Leistung“, höre ich, „Leistung ist wichtig! Streng dich an, damit aus dir was wird!“ Ja, erwachsen werden bedeutet, das Paradies der Kindheit (idealerweise ist es eins) zu verlassen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Was soll ich werden? Was kann ich? Was möchte ich? Manche finden es schnell heraus. Andere suchen ein Leben lang. Ich lerne: Entscheidungen prägen meine Zukunft. Manches bleibt für immer. Anderes hingegen muss immer wieder auf den Prüfstand. Ich lebe mein Leben – mit anderen und für mich. Bis ich am Ende dieses Lebens, alt geworden, mit so mancher Krankheit vertraut, aber auch gesegnet mit vielen Erfahrungen und – hoffentlich – beschenkt mit ganz viel Liebe, auf dieses, auf mein Leben zurückblicke und sage: Ich war ein Mensch.
Was heißt es, Mensch zu sein? All das. Und genau das muss Gott gewollt haben, als er sich entschloss, selbst einer zu werden. Er wollte nicht nur aus der Distanz heraus wissen, was das ist. Nein, ganz offensichtlich wollte er es am eigenen Leib erfahren. Und dann – jetzt kommt die Pointe – hat er all das, was Menschen an Gutem möglich ist, auch getan. Jesus, dieser Mensch gewordene Gottessohn, hat Gottes Zärtlichkeit in die Welt gebracht. Sein Herz schlug für die, die am Rande lebten. Er stellte Kinder in den Mittelpunkt, gab Frauen ihr Ansehen und ihre Würde zurück, hörte nicht auf zu heilen, obwohl das Elend immer größer wurde. Jesus war und blieb ein Mensch auch dort, wo alle anderen schon längst weggelaufen waren. Jesus war und blieb ein Mensch, als er selbst in tiefster Verzweiflung steckte. Jesus war und blieb ein Mensch, als er starb. Und dann – dann hat Gott noch eins draufgesetzt. Jesus war und blieb ein Mensch, als am Ostermorgen die Sonne aufging und der Tod – völlig überraschend – den Kürzeren gezogen hatte. Warum? Weil da ein Mensch durchgehalten hatte. Bis zum Schluss.
„Ich kann ja doch nichts tun!“ – für Jesus war das keine Option. Er, dessen Geburt wir heute feiern, hat sich nicht von seinem Weg abbringen lassen. Mir macht das Mut. Mut, mich von dem Satz „Ich kann ja doch nichts tun!“ zu verabschieden. Ich kann etwas tun. Ich kann ein Mensch sein. Mit meiner Geschichte, mit meinen Zweifeln, mit meinen Wunden, mit meiner Kraft, mit meinen Ideen, mit meiner Liebe. Ich kann Mensch sein für andere Menschen und diese Welt nicht dem Untergang überlassen. Das ist Weihnachten? Ja, ich glaube: Genau das ist Weihnachten!
Alexander Bergel
24. Dezember
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Predigt am 4. Advent
zu Lk 1,39-45
Maria eilt. So haben wir gerade gehört. Möglichst schnell will sie anscheinend in das Haus des Zacharias kommen. Vom Engel hatte sie erfahren, dass auch ihre Verwandte Elisabeth trotz ihres hohen Alters ein Kind bekommen würde. Maria macht sich also auf den beschwerlichen Weg ins Bergland von Judäa. Warum sie das tut, steht nicht im Text. Vielleicht will sie Elisabeth unterstützen, vielleicht will sie einfach eine Zeit lang aus Nazareth verschwinden und dem Gerede der Menschen entkommen, vielleicht braucht sie auch einfach jemanden, mit dem sie reden kann. Am Ziel ihrer Reise, dort im Haus des Zacharias, so erzählt uns der Evangelist Lukas, geschieht dann eine wunderbare Begegnung.
Zwei schwangere Frauen treffen aufeinander, die eine ganz jung, die andere hochbetagt. Die Mutter Jesu und die Mutter Johannes des Täufers stehen in einem tiefen, geheimnisvollen Austausch. Sofort, als Maria das Haus des Zacharias betritt, strampelt da plötzlich Johannes im Leib der Elisabeth. Jede Frau, die schon ein Kind geboren hat, kennt das. Da meldet sich das neue Leben im eigenen Körper. Ein wunderbares Gefühl. Elisabeth deutet dieses Strampeln als Ausdruck der Freude.
Da hüpft – so steht es hier – dieser kleine Prophet vor Freude im Leib seiner Mutter. Johannes wird hier seiner Rolle als prophetischer Vorläufer Jesu schon im Mutterleib perfekt gerecht. Er reagiert praktisch aus dem Bauch seiner Mutter heraus auf die Anwesenheit des Messias mit Hüpfen, mit Freude. Da ist eine Verbindung zwischen Johannes und Jesus. Ein Vorgeschmack auf das, was kommen wird.
Und Elisabeth? Eigentlich konnte sie von Marias Schwangerschaft noch gar nichts wissen, aber sie erfasst die Situation von Maria und begrüßt sie überschwänglich. Mit lauter Stimme, so heißt es im Text: „Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.“ Elisabeth freut sich, Maria zu sehen. Wie schön für Maria in ihrer prekären Situation. Da kommt kein halblautes und unentschiedenes: „Wenn du schon mal da bist, dann komm halt herein.“ Nein! Da ist jemand, der sich wirklich mit Maria freut, solidarisiert und ihr und ihrem Kind Gutes wünscht. Elisabeth, die hochbetagte Schwangere, Frau eines Priesters, sie ist es, die den Messias als erste in dieser Welt willkommen heißt.
Der Evangelist will deutlich machen: Mit diesem Kind beginnt etwas Neues. Das, was die Propheten des Alten Testaments vorhergesagt haben, geschieht nun, erfüllt sich. Der Messias kommt und bringt eine Botschaft Gottes für die Menschen mit. Die Botschaft der Liebe, der Gerechtigkeit, des Friedens. Die Botschaft, dass wir einander trösten und beistehen sollen. Die Botschaft, dass jeder Mensch, egal ob arm oder reich, ob klein oder groß, ob Frau oder Mann, vor Gott eine Würde hat. Die Botschaft, dass wir einander verzeihen sollen und uns verziehen wird. Die Botschaft, dass Gottes Liebe stärker als ist der Tod. Diese Botschaft stellt die Welt auf den Kopf.
Und auch wenn die Menschen damals unter dem Kreuz Jesu dachten, er wäre mit seiner Botschaft gescheitert und wir angesichts der fruchtbaren Bilder aus Magdeburg, die uns hilflos und fassungslos machen, angesichts der Kriege, des Hasses und der Gewalt auf dieser Welt versucht sind, dem zuzustimmen, die Botschaft Jesu lebt heute noch und will immer wieder aufs Neue in diese Welt kommen.
Und es geschieht, wenn wir aufmerksam durch die Welt gehen, dass wir entdecken: Da sind viele Menschen, hier bei uns in der Gemeinde, in unserer Stadt, in unserem Land und weltweit, die bringen diese Botschaft zu den Menschen, lassen sich immer wieder von ihr anstecken, sie lebendig werden und bringen so Licht in diese Welt – aller Dunkelheiten zum Trotz. Gott kommt in die Welt. Das feiern wir Weihnachten, das ist der Grund unserer Hoffnung und Grund zur Freude.
Gisela Schmiegelt
22. Dezember
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Predigt am 3. Advent
zu Zef 3,14-17
Jubeln vor Freude! Das haben wir in der vergangenen Woche hautnah erlebt bzw. gesehen: Syrer:innen laufen jubelnd durch die Straßen – reißen ihre Arme hoch – in Freude über den Sturz des Assad-Regimes. Oder ein Schüler aus meinem Reli-Kurs springt laut jauchzend auf – in Freude über seine unerwartet gut bewertete Reli-Klausur. Menschen umarmen sich vor Freude, weil sie den Sturm vor einigen Wochen auf Haiti überlebt haben. Meine Freude über die Begegnung – ein Wiedersehen! – mit Manuel und Selma aus El Salvador, die durch Adveniat hier in Osnabrück waren. Was lässt Dich – Sie vor Freude jubeln?
In der ersten Lesung haben wir gerade gehört: Lass deine Hände nicht sinken – also bleib dabei – zeig deine Freude. Eine andere Übersetzung sagt sogar: Lass deine Hände nicht mutlos sinken! Zefanja schreibt an Jerusalem, Tochter Zion. Wir lesen diesen (kurzen) Abschnitt aus dem Buch des Propheten Zefanja im Advent oft „nur“ als Verheißung und Erfüllung der Messias-Hoffnung – auf die erhoffte Geburt des Retters, die wir Weihnachten feiern.
Zefanja hat aber insbesondere die Situation Israels im Blick – als scharfer Kritiker des Unrechts und der Rücksichtslosigkeit der politischen, wirtschaftlichen und priesterlichen Oberschicht kündigt er das Ende ihrer Herrschaft an. In Jerusalem – eigentlich Zentrum des Glaubens, des Friedens – herrschen Unterdrückung und Ungerechtigkeit – die darunter Leidenden, die Armen und Schwachen sind an den Rand gedrängt – sozial und auch wörtlich, also geographisch am Rand oder außerhalb Jerusalems.
Durchdrungen von seiner Theologie für die Armen – so sagt der Exeget Zenger über Zefanja – lautet seine Botschaft: Der Herr JHWH kann die Entrechtung und Verdrängung der vielen kleinen Leute nicht hinnehmen, weil er der Schutzgott der Armen und Schwachen ist – er wird in der Mitte sein, mitten unter ihnen – nachdem er die Ungerechtigkeiten vernichtet hat, und er holt die Menschen vom Rand in die Mitte – so wird Jerusalem wieder Zentrum des Friedens und der Gerechtigkeit. Damit erweist Gott sich als Schutzgott der ökonomisch und geistlich Armen, als Befreier von ungerechten Machtstrukturen. Dann hat er, wie Zefanja sagt, „das Urteil gegen Jerusalem – das ungerechte Jerusalem – aufgehoben, er erfreut sich und jubelt“. In einer anderen Übersetzung heißt es: „Er ist begeistert von dir!“
Kann Jerusalem – Zion – auch ein Bild sein für uns heute? Dass Gottes Gegenwart nur dort lebendig, also hier konkret der Ort Gottes werden kann, wenn Gerechtigkeit herrscht? Wenn niemand an den Rand gedrängt wird – im Kleinen und im Großen –, wenn niemand das Gefühl haben muss, nicht dazuzugehören Und damit sind wir im Advent – auf dem Weg zum Fest der Menschwerdung Gottes. Gott wird gegenwärtig – dieser Gott, der Anwalt derer, die am Rand stehen, der Gott der Gerechtigkeit, er wird einer von uns, uns nahe.
Lukas macht es im Evangelium, das wir gerade gehört haben, konkret, was das bedeutet, z. B. deine Kleidung, dein Essen, deine Zeit teilen, damit es allen gut geht … Ist das nicht tatsächlich ein Grund zum Jubeln?! Die Freude über die Geburt Jesu – in dem Gott uns Menschen so nahe ist – „wo Himmel und Erde sich berühren“! Und weil dieses Lied seit unserer zweiten Schulfahrt „auf den Spuren der Hl. Angela“ immer wieder unsere Freude besonders zum Ausdruck bringt, möchte ich es nun mit euch singen: „Wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen … Da berühren sich Himmel und Erde …“
Andrea Tüllinghoff
15. Dezember
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Predigt am 2. Advent
zu Bar 5,1-9
Kerzenschein, duftendes Gebäck, schöne Musik, Gemütlichkeit. Es ist wieder Advent geworden. Die liturgischen Texte aus dem Ersten Testament, die wir in der Adventszeit hören, lassen mich darüber erstaunen, welche schönen Bilder sie uns ‚malen‘ können. Insbesondere der Prophet Jesaja ist ein Meister seines Fachs. Aber auch der Prophet Baruch – ein Schüler des Propheten Jeremia, den wir heute zitiert haben – kann uns schöne ‚Wortbilder‘ malen.
Was mir an diesen adventlichen Texten immer wieder auffällt, ist, dass sie oft von der Stadt Jerusalem sprechen. Jerusalem als Ort der Heimat, als Ort der Sehnsucht und des Heils. Jerusalem ist zwar eine konkrete Stadt, die seit Jahrtausenden existiert, Machtzentrum war und (vielleicht) noch ist. Ein fast magischer Ort, wenn man den Beschreibungen der Prophetinnen folgt. Doch auch dieses ist Jerusalem: ein Synonym – ein Symbol – eine Metapher – für alles Göttliche und alles Menschliche, für diese Beziehung, die immer wieder Spannung und Anspannung hervorruft. Für Gott und Mensch.
‚Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends …‘ Leg ab, was dich bedrückt, was dir zu schwer ist. Leg ab, was Menschen dir aus Hass sagen und antun. Leg ab, was du nicht tragen kannst und was du nicht erträgst. Gib es dem in die Hand, der es aufnimmt und bei dem du es liegen lassen kannst – ganz ohne Gegenleistung. Der dich auffordert, ohne diese Last deinen Lebensweg fortzusetzen. Ich kann, Dinge die mich immer wieder herausfordern, die mir mein Leben verdunkeln wollen, die, mir mein Bedürfnis nach Anerkennung, nach Gleichwertigkeit, nach Liebe vorenthalten wollen, all das kann ich bei ihm lassen und hoffen, hoffen auf eine Zukunft ohne die ‚Trümmerfelder‘ meines Lebens! ‚Lass es hier bei mir liegen‘, dazu ermutigt mich Gott. ‚Leg es ab!‘ – ‚Welch ein Trost!‘ – Damals wie heute!
Im nächsten Abschnitt fordert mich der Prophet dazu auf, dass zu tun, was mir ursprünglich von Gott zugesagt ist. Leg an! Leg an den Mantel der Gerechtigkeit, leg an die Krone der Herrlichkeit, leg an dein Hoffnungskleid, leg an den Glanz, den Gott dir verliehen hat – deinen persönlichen Glanz! Deine Einzigartigkeit! Gott traut uns zu, verantwortungsvoll das Leben in unserer Umgebung zu gestalten. Er ist sich sicher, dass Sie, dass ich Gerechtigkeit schaffen können, auch wenn es ein langer, zäher und mühsamer Weg sein kann.
Hoffnung denen zu geben, die ihr Leben als ‚Wüste‘ und ‚Trümmerlandschaft‘ sehen oder wahrnehmen. Er traut uns zu, falsch eingeschlagene Wege wieder zu verlassen, ‚die Taufe der Umkehr‘ zu erhalten, so wie Johannes es uns heute zuruft. Und das alles geschieht, wenn wir aufstehen, uns aufrichten, Haltung einnehmen. ‚Steh auf!‘ Wenn wir unser Bekenntnis zu den Grundwerten Gottes ablegen und für sie einstehen. Wenn wir nicht den Meinungen des Mainstreams folgen, egal aus welcher medialen und politischen Ecke er uns zu beeinflussen versucht. Wenn wir durch Abgründe hindurchgehen, wenn uns die Luft zum Atmen genommen wird. Dann steh auf! Dann steht auf gegen Hass und Gewalt, gegen Diskriminierung und gegen Antisemitismus! So wie wir es auf unseren drei Bänken an drei Orten unserer Gemeinde mutig verkünden! Dann steht auf für einen neuen Anfang, der zu gegenseitigem Respekt führen wird!
Steh auf! Und schau! ‚Schau nach Osten und sieh deine Kinder: Vom Untergang der Sonne bis zum Aufgang hat das Wort des Heiligen sie gesammelt. Sie freuen sich, dass Gott an sie gedacht hat.‘ Schau nach Osten – darunter ist hier nicht die Himmelsrichtung zu verstehen, sondern die Richtung in der die Sonne – die als Symbol für Gott steht – aufgeht! Steh auf und schau dem entgegen, der so viel Sehnsucht nach uns hat, der seine Schöpfung liebt bis in die Haarspitzen hinein, der selbst kommt und Mensch wird! Gott kommt uns entgegen!
Das hier vorgesehene Gedicht
können wir aus rechtlichen Gründen
nicht veröffentlichen.
Vielleicht haben Sie, liebe Gemeinde, heute Morgen bereits ein Stück seines Versprechens verspürt? Ich wünsche es Ihnen von Herzen!
Gregor Kleine-Kohlbrecher
8. Dezember
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Predigt am 1. Advent
zu Lk 21,25-28.34-36
Der Advent fängt ja gut. Da hofft man auf ein wenig stimmungsvolle Atmosphäre und Vorfreude auf das Weihnachtsfest und dann das – düstere Untergangsstimmung. Von kosmischen Katastrophen spricht Jesus in dem gerade gehörten Text, von gewaltigen Umbrüchen, von Erschütterung und Angst, die die Menschen befällt. Das ist schon eine wirkliche Herausforderung für alle, die zuhören – damals sicher genauso wie heute. Das Lukasevangelium beschreibt eine Welt, die völlig aus den Fugen geraten zu sein scheint und spricht damit das Empfinden der Christen an, an die sich zunächst das Evangelium so um das Jahr 90 richtete. Die jungen Gemeinden mussten sich auf schlimmste Verfolgungen gefasst machen. Die Römer herrschten weiterhin mit eiserner Hand. All das nimmt Lukas auf und beschreibt eine Zeit voller Angst und Schrecken.
Und genau dieses Gefühl ist es, das viele Menschen in unserer Zeit haben, wenn sie an die Zukunft denken. Eine eher depressive Stimmung scheint sich momentan auszubreiten. Umfragen zufolge blicken zwei Drittel der Deutschen eher ängstlich in die Zukunft. Besonders gefährdet sind Kinder und Jugendliche. Immer mehr leiden unter Angststörungen oder Depressionen. Klimawandel, Bedrohung von außen, Kriege, soziale Ungerechtigkeiten, steigende Preise, Gewalt, Mobbing und ein schwindendes Vertrauen in die Politik, man hat nicht selten das Gefühl, mit negativen Nachrichten dauerbeschallt zu werden. Um uns herum scheint alles dem Chaos zu verfallen und so mancher hat das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
„Die Völker werden bestürzt und ratlos sein. Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen.“ So haben wir gerade gehört. Aber dann – die Wendung im Text: „Wenn dies beginnt, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe.“ Inmitten dieser ganzen Herausforderungen ruft Jesus zu einem Perspektivwechsel auf: „Kopf hoch!“ ruft er den Zuhörern zu. Jesus will im Evangelium keine Angst machen oder einschüchtern. Ja, er nimmt die Realitäten in der Welt wahr und redet auch nicht schön, was Menschen sich immer wieder gegenseitig antun oder welche Schicksale sie treffen, aber er will Mut machen.
„Kopf hoch!“ Es ist eben ein großer Unterschied, ob wir mit hängendem Kopf oder mit erhobenem Haupt durch die Welt gehen. Und irgendwie nimmt in dieser Textstelle das ganze Lukasevangelium eine andere Perspektive ein. Wird zu Beginn des Evangeliums Gottes Kommen als Kind in der Krippe verkündet, als hilfloser Mensch, zu dem die Ärmsten und Ausgegrenzten kommen, wird hier von einem machvollen Kommen Gottes gesprochen. Von einem Gott, der mit uns ist und uns nicht verlässt, der uns den Rücken stärkt, egal wie herausfordernd die Umstände auch sein mögen. Ein Gott der Herr ist und bleibt über diese Welt und der unser Heil will und unsere Erlösung.
Der Text spricht aber auch eine Warnung aus: „Nehmt euch in Acht, dass Rausch und Trunkenheit und die Sorgen des Alltags euer Herz nicht beschweren.“ Ein klarer Kopf, der sich nicht gleich von den Problemen durcheinanderbringen lässt, sondern sie im Blick behält. „Nicht immer so einfach“, könnten man jetzt sagen. Nein, das ist es nicht, denn Ängste und Probleme sind nun mal da und lassen sich nicht so mir nichts dir nichts wegpredigen. Was Jesus uns in dem Text anbietet, ist der Perspektivwechsel zu Gott hin. Er setzt auf die Kraft der Beziehung zu diesem Gott: „Wacht und betet.“ Glaube, so ist sich der Verfasser des Evangeliums sicher, bewirkt auch Rettung. Aber vor allem, so zieht es sich durch das Lukasevangelium, soll der Glaube zum Handeln motivieren, zum sozialen und gerechten Verhalten.
Advent – Zeit der Erwartung. Und es ist gut, dass wir nicht nur das Christkind in der Krippe erwarten, sondern den Heiland der Welt, der uns immer wieder entgegenkommt, der uns begleitet, es gut mit uns meint und uns retten will. Also: Kopf hoch!
Gisela Schmiegelt
1. Dezember
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Predigt am Christkönigsfest
zu Joh 18,33b-38
Es beginnt mit einer Frage: „Bist du der König der Juden?“ Skurriler geht es kaum. Der mächtigste Mann Jerusalems, der lange Arm Roms, fragt das einen, der kurz vor seiner Hinrichtung steht. Und der – der nimmt den Faden auf. Und beginnt ein Gespräch. Ganz gleich, ob es wirklich ganz genauso gewesen ist – Jesus stand vor Pilatus. Und mit ihm die Frage, auf die alles zuläuft: Was ist Wahrheit? Es ist eine Frage, die Menschen immer wieder stellen, ja, stellen müssen: Was ist wahr? Denn hinter dieser Frage verbirgt sich alles: Woraus lebe ich? Und wofür? Was ist der tiefste Grund meiner Existenz? Und wofür stehe ich ein?
Seitdem Pilatus diese Frage gestellt hat, kann ihr keiner mehr ausweichen. Auch jene nicht, die bewusst die Unwahrheit sagen. Auch jene nicht, die Fake News in die Welt setzen. Auch jene nicht, die wider besseres Wissen anderes tun als der gesunde Menschenverstand es eigentlich anzeigt oder der liebende Blick auf mein Gegenüber. Wenn wir Christus als den König feiern und dabei auf einen zerschundenen Menschen kurz vor der Hinrichtung blicken, wird eines ganz klar: Die Wahrheit hat es nie leicht. Die Wahrheit kommt selten strahlend daher. Die Wahrheit muss oft genug erlitten werden.
Das sagen natürlich auch jene Menschen, die sich mit ihrer Wahrheit gerne zum Märtyrer machen. Die Demagogen in den extrem rechten oder extrem linken politischen Spektren. Die Heilsbringer der verschiedensten auch noch so obskuren religiösen Richtungen. Die Scharfmacher am rechten oder linken Rand der Kirche. Dort gibt es immer nur einen Weg, der zum Heil führt. Und das ist der eigene. Alle anderen haben immer und komplett Unrecht.
In Wirklichkeit aber ist es anders. Keiner hat die Wahrheit für sich allein gepachtet. Niemand kann für alle sprechen. Ganz im Gegenteil: Alle, die aus der Wahrheit leben, sind eine Leben lang auf der Suche nach ihr. Und selbst, wenn das Johannesevangelium die Worte Jesu überliefert: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“, muss es immer auch die Möglichkeit geben, einen anderen Weg einzuschlagen.
Wenn ich in der Spur Jesu unterwegs bin, wenn ich ihm folge, ihm, dessen Leben und Sterben durch seine Auferstehung eine einzigartige Bestätigung gefunden hat, wenn ich mich von ihm ansprechen und hinterfragen lasse – dann werde ich die Wahrheit immer dort finden, wo Menschen aufgerichtet und geheilt werden. Wo sie einen Weg einschlagen, der zum Frieden führt, zur Verständigung und zur Gerechtigkeit.
Das Anstrengende daran ist: Man wird nie fertig damit. Die Wahrheit ist kein Sofakissen, auf dem ich mich ausruhen könnte. Die Wahrheit muss immer neu gesucht und gefunden werden. Und oft genug entgleitet sie mir auch wieder, wenn die Frage laut wird: Ist das wirklich der richtige Weg? Jesus sagt am Ende seines Pilatusgesprächs: „Jeder, der die Wahrheit tut, hört auf meine Stimme.“ Auf diese Stimme kommt es also an. Nur wo ist sie zu finden? Vielleicht in der Gemeinschaft derer, die sich im Namen Jesu versammelt. Vielleicht aber auch ganz woanders. Man müsste sich mal wieder auf die Suche machen.
Alexander Bergel
24. November
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Predigt am 30. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 10,46a-52
Blind am Wegesrand. Abgeschnitten, fast wie tot. So sitzt er da: Bartimäus. Zukunft? Fehlanzeige. Aus und vorbei. Er hatte sich daran gewöhnt: an die Dunkelheit, an das Abgeschnitten-Sein. Irgendwie, ja irgendwie kam er klar. Bis zu diesem Tag. Gehört hatte er schon von ihm. Von Jesus. Dem Heiler. Dem Wundertäter. Aber – wie sollte er an den rankommen? Und überhaupt: blind ist blind. So hatte er sich eingerichtet – Bartimäus, der Mann am Straßenrand. Doch dann, an einem dieser langen Tage, spürt er: Irgendwas ist anders. Nicht nur die Sehnsucht wird stärker – nein, er hört diesen Namen: Jesus aus Nazareth. Da gibt’s kein Halten mehr: „Meister, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ Und Jesus? Der hat – wie immer – einen klaren Blick. In der großen Masse zählt nur einer. „Was soll ich dir tun?“ – „Sehen können, Herr, ich möchte wieder sehen können!“ – „Dein Glaube hat dir geholfen!“
Vielleicht war es so. Oder so ähnlich. Was sich so einfach anhört – so von jetzt auf gleich, fast nebenbei –, das braucht im normalen Leben Zeit. Sehr viel Zeit. Wer wüsste das nicht? Wer auf die eigenen blinden Flecken schaut, bekommt eine Ahnung davon. Eine Ahnung, wie lange so etwas dauern kann. Dann nämlich, wenn wir manches einfach nicht wahrhaben wollen. Dann, wenn wir jemanden in eine Schublade packen und nicht mehr rauslassen. Dann, wenn eine depressive Stimmung alles zu verschlingen droht. Dann, wenn ich mich nicht traue, ich selbst zu sein. Wenn das ist – und vieles mehr, wo wir die Augen öffnen müssten, aber nicht können oder uns nicht trauen –, wenn all das ist, dann heißt es: allen Mut zusammennehmen. Und dem Heiler aus Nazareth vertrauen. Selten geht das schnell. Noch seltener geräuschlos. Immer aber wird es uns verändern. Eine neue Sicht. Ein anderer Blick. Klarheit statt Nebel, Licht statt ewiger Finsternis, zumindest aber ein Silberstreif am Horizont.
In der Kirche sind wir gerade mittendrin – der laute Schrei von innen und von außen: „Kirche, stell dich deinen blinden Flecken. Vertrau dem, den du verkündest. Und vergiss nicht: Er kann dich befreien!“ Nur – dieser Weg der Befreiung geht anders, als die Gesetze dieser Welt es versuchen. Jesus war damals auf dem Weg nach Jerusalem. Es ist der Weg in sein Leiden und in seinen Tod. Drei Mal schon hatte er versucht, seinen Jüngern die Augen zu öffnen für das, was ihm in Jerusalem bevorsteht. Aber sie sehen nicht. Und verstehen nicht. Die Blockade ist wie eine Mauer in ihrem Inneren: Das darf, das kann nicht sein! Also: Weglaufen. Bartimäus aber schreit. Einer, der den Karfreitag schon erlebt hat, schreit, so laut er kann. Und weil er das tut, kann die Heilung beginnen. Bei ihm. Und bei vielen anderen. Bartimäus schreit. Und lässt sich nicht den Mund verbieten. Von niemandem. Er schreit, bis die Mauern der Isolation und Ignoranz um ihn herum aufbrechen. Er schreit, bis sich etwas verändert. Bis das Leben wieder stärker wird.
Der Schrei des blinden Bartimäus – mir hilft er zu verstehen: Heilung geht nur, wenn ich mich radikal öffne. Heilung hat dann eine Chance, wenn ich mich der Wahrheit stelle. Heilung wird dann gelingen, wenn ich mutig bin. Das gilt nicht nur für diese Kirche. Das gilt mindestens genauso für meine blinden Flecken. Das gilt für das, wovor ich weglaufe. Genau das aber brauche ich nicht: weglaufen. Ich darf stehen bleiben. Und schauen, was passiert. Was passiert, wenn ich vertraue. So fing es jedenfalls an. Damals auf dem Weg nach Jerusalem. Und warum sollte es nicht weiter gehen?
Alexander Bergel
27. Oktober
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Predigt am 28. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 10,17-27
Kamel müsste man sein. Dann wäre es leichter. Zumindest am Nadelöhr. Der Gedanke daran, wie das wohl wirklich aussehen könnte, bringt mich zum Schmunzeln. Manchmal führt diese Vorstellung aber auch zu einem mittelschweren Schweißausbruch. Denn Erheiterung hatte Jesus wohl nicht im Sinn, als er das Bild vom Kamel und dem Nadelöhr gewählt hat. Im Gegenteil. Jesus wählt diese Worte, um deutlich zu machen: Es geht um Alles oder Nichts.
Wer Jesus kennt, der weiß das. Wer sich selbst kennt und ehrlich ist, der weiß auch um die üblichen Abwehrmechanismen: „Nein, mich kann er nicht meinen. Ich habe kein fettes Bankkonto oder einen reichen Erbonkel. Nein, mich kann er nicht meinen. Ich bin doch froh, wenn ich durchkomme. Wenn ich meinen Alltag geregelt kriege. Den Stress auf der Arbeit, die Sorgen um die Kinder oder Enkel. Ich bin froh, wenn ich meine Beziehungen pflegen kann, und umgebracht habe ich auch keinen. Und so sehr hängt mein Herz jetzt auch nicht an meinem Haus, meinem Auto, meinem Status. Nein, mich kann er nicht meinen.“
Vielleicht ist das alles wirklich ganz genauso. Doch bevor wir uns allzu gemütlich zurücklehnen und sagen: Ich muss durch kein Nadelöhr – vielleicht noch diese eine Frage: Bin ich eigentlich wirklich glücklich?
Alexander Bergel
13. Oktober
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Predigt am Fest des Heiligen Franziskus
zu Mt 11,25-30
Ich werde euch Ruhe verschaffen. Was für eine Verheißung! Wer sehnt sich auch nicht danach? Endlich Ruhe. Ruhe und Frieden. Doch wird es jemals so weit kommen? Der Blick in die Welt verheißt nichts Gutes: Krieg und Terror, Flüchtlingsdramen an tausend Orten dieser Erde. Deutschland – ein vereinigtes Land, die Menschen einander aber so fremd wie selten zuvor. Eine Kirche, die um ihren Weg in die Zukunft ringt. Gräben zwischen Bewahrern und Reformern, die immer breiter und tiefer werden. Von den persönlichen Dramen ganz zu schweigen: Beziehungen scheitern, Depressionen greifen immer mehr um sich, Arbeitsplätze werden abgebaut, Menschen sind krank oder sterben einfach so.
Ich werde euch Ruhe verschaffen. Ja, wie schön wäre das! Ausruhen. Einfach da sein können. Ohne dauernd etwas leisten zu müssen. Ohne sich im Kampf ums Überleben blutige Nasen zu holen. Ein Leben ohne Ellenbogen. Ohne Überforderung. Ohne Angst. Einfach Ruhe. Der Satz Jesu geht allerdings noch weiter: „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.“ Jesus ist dem Leid nicht ausgewichen. Jesus hat sich auch nicht in den Frieden am See Genezareth zurückgezogen. Jesus ist den staubigen Wegs des Alltags gegangen. Jesus hat sich der Menschen angenommen, die belastet waren von Krankheit und Armut, von Konflikten, von Elend und Tod. Jesus macht es vor: Diesen Weg zu gehen, wird zur Ruhe führen. Nicht am Leben vorbei, nicht an den Konflikten vorbei, nicht an Blut und Schweiß vorbei, sondern mittendrin, genau dort – im Auge des Orkans sozusagen – wird dich eine tiefe Ruhe erfüllen, die ihresgleichen sucht. Aber kann man das wirklich schaffen? Auch wenn man nicht Jesus ist?
Kann man. Franziskus, der reiche, junge Mann aus Assisi, verzichtet auf alles, was ihn bisher ausgemacht hat. Reichtum, Ansehen, Zukunftsperspektiven. Er wirft dem tobenden Vater alles vor die Füße. Ein armer Irrer, meinen damals viele. Aber immer mehr andere arme Irre (also im Wortsinn Menschen, die irre geworden sind am Irrsinn der damaligen Zeit, in der die Kirche reich und der Papst mächtig war wie nie zuvor), immer mehr Menschen, die das alles so nicht mehr wollten, folgen dem armen Franz von Assisi. Sie leben anders. Einfach so. Suchen und fragen, wie das gehen kann. Gehen dorthin, wo die Not am größten ist. Kümmern sich um die, die auf der Straße liegen. Sprechen von Gott nicht so sehr mit frommen Worten, sondern durch gute Taten. Lassen die Leute um sie herum spüren: Die glauben wirklich das, was sie sagen. Denn das, was sie tun, spricht eine eindeutige Sprache.
800 Jahre nach dem Leben des Franz von Assisi, 2000 Jahre nach dem Leben des Jesus von Nazareth sehnen wir uns nach einem gelingenden Leben. Stehen wir in den Spannungen und Krisen unserer Zeit. Erleben wir, wie alles auseinanderzufliegen droht: die Welt, wie wir sie kannten, die Gesellschaft, in der wir leben, die Kirche, der so viele den Rücken kehren. Was können wir nur machen? Uns fragen: Was würde Jesus tun? Und was Franziskus? Es wären Fragen wie diese: Wo sind die Armen unserer Stadt? Wo warten Menschen in unserer Nachbarschaft auf Worte, auf Gesten, auf konkrete Hilfe? Wie kann der Glaube an einen menschenfreundlichen Gott das Leben bereichern und verändern? Wo kann dieser Glaube Wunden heilen und Perspektiven aufzeigen? Wer die Ruhe finden will, von der Jesus spricht, der wird ihr nicht im Wellness-Hotel begegnen. Wer die Ruhe Jesu sucht, der muss sich aufmachen. Der muss solange unruhig bleiben, bis der Schrei derer, die am Rande stehen, die niemand will und die sich selbst nicht helfen können, ein offenes Ohr findet. Und Hände, die bereit sind, etwas zu tun. Nach Erholung hört sich das nicht an. Aber nach dem Weg, der zum Leben führt. Vermutlich zum echten Leben.
Alexander Bergel
6. Oktober
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Predigt am 26. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 9, 38-43.45.47-48
„Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde.“ Krasser lässt es sich kaum sagen. Jesus hat dabei Menschen im Blick, die anderen Ungeheures antun. Ich denke da an jene klerikalen Missbrauchstäter, deren Taten sich seit Jahrzehnten als große Spur des Unheils durch das Leben unzähliger missbrauchter Menschen zieht.
An diesem Samstag konnten wir wieder von einem lesen: dem ehemaligen Generalvikar Heinrich Heitmeyer, den alle nur General nannten, vor dem sich viele fürchteten. Den alle aber machen ließen. Nur ein Name. Aber unendliches Leid. Geschehen im Namen Jesu. Und der? Selbst Jesus, dessen Arme weit offen stehen für alle, kommt – das spüren wir mit dem Wort vom Mühlstein – an seine Grenzen. So schwer wiegt die Schuld derer, die Kleine, Verletzbare, Wehrlose demütigen, benutzen, zerstören.
Als wenn das noch nicht genug wäre, hören wir von weiteren archaischen Handlungen, die einen erschrecken lassen: Augen ausreißen, Hände und Füße abhacken – über die Schmerzgrenze gehende Bilder für die Tatsache, dass sich das Böse nicht durch Absichtsbekundungen bekämpfen lässt. Niemals. Die Bildworte, die Jesus findet, treiben Dinge gerne – ganz klassisch orientalisch – auf die Spitze. Um Menschen aufzurütteln, um sie wachzubekommen.
Worum geht es Jesus? Eigentlich immer nur um das eine: Er möchte die Menschen spüren lassen, dass sie eine einzigartige Würde haben. Dass sie wertvoll sind. Dass sie geliebt werden. Und zwar von Gott. Und damit sich das nicht anhört wie die ewig gleiche Leier von Gott, der dich liebt und immer für dich da ist, du das aber nicht spürst, weil es nur hohle Worte sind und du zu denen gehörst, deren Würde – vielleicht sogar von hohen religiösen Führern – mit Füßen getreten wird und du niemanden hast, der für dich eintritt, deshalb macht Jesus deutlich, dass seine Worte zur Tat werden müssen. Dafür geht er sogar ans Kreuz.
Alle, die wie Jesus Worten Taten folgen lassen, haben verstanden, was er wollte. Und wenn jemand eine solche Machttat vollbringt, so heißt es ja in dieser Geschichte auch, ist es egal, ob er in der Gruppe derer ist, die Jesus ständig um sich hat, oder ob er es einfach macht, weil er für einen Moment gespürt hat: „Das, was dieser Jesus sagt und tut – daraus kann ich leben!“ Das, was dieser Jesus sagt und tut – daraus kann ich leben. Woraus leben Sie?
Alexander Bergel
29. September
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Predigt am 24. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 8,27-35
Am Kreuz kommst Du nicht vorbei. Jesus sagt das sehr deutlich. Doch wer will so was hören? Wer will schon hören, dass der Weg des Meisters kein strahlender Siegeszug ist, sondern ein Weg des Scheiterns? Petrus jedenfalls nicht. Deshalb bekommt der auch gehörig eins auf die Mütze: „Geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“ Dabei hatte er doch gerade sein großes Glaubensbekenntnis gesprochen: „Du bist der Messias!“ Er hatte alles aufgegeben, alles hinter sich gelassen, um ihm ganz nahe zu sein. Ja, das hatte Petrus wirklich getan. Und ja, er hatte vermutlich wirklich aus tiefstem Herzen seinen Glauben bekundet, seine Liebe auch – und seine Bereitschaft, Jesus zu folgen. Aber die Wahrheit, die ganze, die wirkliche Wahrheit – hatte er die begriffen? Nein. Denn als Jesus ihm die vor Augen hält, versucht er, die Dinge anders zu regeln. Eine Wahrheit sollte es werden, die nicht wehtut. Das kann er ruhig versuchen, der Erste der Apostel. Aber Jesus – der ist dann raus.
Raus, aber aus anderen Gründen, sind heute viele Menschen. Menschen, die die Botschaft Jesu vielleicht noch als alternatives Lebensmodell ansehen oder sogar nach wie vor Kraft aus ihr schöpfen. Das Interesse an der Kirche jedoch, das nimmt ab. Und zwar enorm. Immer weniger Menschen möchten Teil einer Institution sein, die so viele Fehler gemacht hat, die aber dennoch so oft immer noch auf dem hohen moralischen Ross sitzt und sehr genau weiß, was richtig ist und was nicht. So gehen immer mehr Menschen andere Wege. Und kehren nicht zurück. Doch dann und wann begegnen mir gar nicht so selten Männer und Frauen, Junge und Alte, die den Kontakt suchen. Weil sie spüren: Das, was da läuft, das, wovon die sprechen, besser noch: der, von dem sie sprechen, von Jesus und seinem Weg – das hat ihnen geholfen, neue Perspektiven eröffnet oder schlicht und ergreifend gutgetan. Vielleicht ist es gar nicht so sehr das Sprechen über Jesus, sondern das Leben in seiner Spur. Ein Leben, das andere neugierig macht und fragen lässt: „Sag mal, warum machst du das eigentlich so?“
Ja, warum machst du das eigentlich so? Das ist in der Tat eine Frage, der wir uns immer mal wieder stellen sollten. Wer das tut, der spürt: Dieser Weg ist nicht der Weg des geringsten Widerstands, auch kein Weg der lockerflockigen Fortbewegung. Der Weg Jesu weicht dem Leben mit all seinen Schattenseiten nicht aus. Siehe das Kreuz. Wer diesen Weg geht, der entdeckt aber früher oder später in all den dunklen Schatten auch das Licht der Hoffnung, der wird früher oder später vielleicht sogar die Erfahrung machen können, im Scheitern nicht zu verzweifeln, der wird vielleicht sogar immer wieder staunen, wie – trotz allem – nicht Untergang und Katastrophen die Oberhand behalten, sondern das Schöne, das Tragende und das Erfüllende.
Wer den Weg Jesu wählt, wird dadurch nicht automatisch zu einem besseren Menschen, der wird auch nicht auf alles eine Antwort haben – so wie die Petrus-Kirche sie so oft meinte, haben zu müssen. Diesen Weg zu gehen, das ist vor allem ein großes lebenslanges Abenteuer. Allerdings nicht jenseits all dessen, was zum Leben gehört, sondern mittendrin. Nur mit einer anderen Perspektive. Vielleicht müsste man das doch noch mal ganz neu versuchen.
Alexander Bergel
15. September
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Predigt am 23. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 7,31-37
Zugegeben – es klingt sehr nach Märchen: „Jesus nahm ihn beiseite, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Taubstummen: Effata! Öffne dich!“ Ja, so gehen Märchen. Trotzdem möchte ich mal so tun, als ob es wahr wäre. Denn hinter dieser Geschichte steckt eine reale Erfahrung: Ich bin nicht für alle Zeiten festgelegt. Das, was mich niederdrückt, einschränkt, abhängig hält und krank sein lässt – es muss nicht das letzte Wort behalten. Ich kann gesund werden.
Der namenlose Taubstumme hat wohl eine solche Erfahrung gemacht. Was genau in seinem Leben alles passiert ist – wir wissen es nicht. Nur eins: Das Leben hat ihm die Sprache verschlagen. Er ist am Ende, hat keine wirkliche Perspektive mehr. Er steht am Rande der Gesellschaft, ist ausgeschlossen vom Leben. Genau diesem Mann begegnet Jesus. Er nimmt ihn heraus aus der Menge, hinein in eine Atmosphäre, in der nur der Kranke wichtig ist. Er berührt die kranken Organe, er berührt die kranke Seele. Und der Kranke spürt: Jetzt geht es ganz um mich – und um Gott. Diese zärtliche Berührung weckt den Glauben, sie macht offen für die Heilung. Und damit sind wir mitten im eigentlichen Wunder.
Jesus, der heilende Finger Gottes, er rührt die Menschen an. Nicht nur äußerlich. Seine Berührungen gehen sehr viel tiefer. Er ergreift die Menschen, die sich ihm anvertrauen, auf einzigartige Weise. Alles andere wird plötzlich nebensächlich. Die eigene Schwäche, das Nicht-Hören-Können auf die vielen Zwischentöne, die das Leben bietet, das Nicht-Hören-Können auf die kleinen und großen Liebeserklärungen, das Nicht-Hören-Können auf die wunderbare Melodie des Lebens: all das nimmt Jesus in die Hände – und verwandelt es. Dieser Jesus von Nazareth ist so einfühlsam, so sensibel, so zärtlich – aber auch so bedingungslos direkt und zupackend, dass er das Leben von Menschen völlig verändern kann, ja, auf den Kopf stellt. Wer Jesus vertraut, der bekommt ein völlig neues Gespür für das Leben. Der traut sich, Dinge zu sagen, die ihm vorher vielleicht peinlich waren. Wer sich von Jesus anrühren lässt, der spricht über das, was ihn bewegt: über seine Ängste und Sorgen, über seine Sehnsucht und seine Hoffnung, über seinen Glau,ben und seine Zweifel.
Darf man die wunderbare Heilung des Taubstummen so deuten? Oder wirkt das nur wie der durchschaubare Versuch, zu retten, was zu retten ist, um die Bibel am Ende doch nicht als Märchenbuch dastehen zu lassen? Ich glaube, dass Jesus heilende Kräfte besaß. Ich glaube, dass er das Leben von Menschen völlig umkrempeln konnte. Ich glaube, dass die Bibel phantastische Geschichten enthält, die mitunter auch märchenhafte Züge haben. Ich glaube aber nicht, dass wir damit an der Nase herumgeführt werden sollen. Ganz im Gegenteil. Die Erzählungen der Heiligen Schrift wollen uns an die Hand nehmen, um unser Leben zu deuten – unser ganz eigenes Leben hier und heute – und mit der Wirklichkeit Gottes zu konfrontieren.
Ich glaube, dass Gott auch heute wirkt. Nur – wo lässt er sich finden? Wir müssten uns auf die Suche machen. Auf die Suche nach dem, was heute passiert. Wo Menschen heute nicht mehr taub und stumm sind. Wo sie sich trauen, etwas zu sagen, was sonst keiner tut. Wo sich Wege öffnen, die keiner mehr für möglich hielt. Ja, all das gibt es doch. Und zwar ganz ohne Zauberei. Aber mit der sehr persönlichen Erfahrung: Ich habe eine Zukunft. Weil Gott mich dazu ermutigt. Weil er mir Heilung schenkt. Und Mut. Haben Sie so was schon mal gehört? Oder gar selbst erlebt?
Alexander Bergel
8. September
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Predigt beim Aufstellen
der Bank »Kein Platz für Antisemitismus!«
zu Joh 15,9-12
Wir müssen uns nichts vormachen. Gäbe es die Kirche nicht, gäbe es keinen Antisemitismus. Es gäbe keine Blutspur, die sich durch die Geschichte zieht. Keine Pogrome. Keine Vertreibung. Keine Auslöschung ganzer Familien. Und in letzter Konsequenz: Keinen Holocaust. Sicher, auch vor dem Auftreten jenes Mannes aus Nazareth, in dessen Namen wir uns versammeln, des Juden Jesus, Sohn der Jüdin Maria, auch schon vor der Zeit Jesu gab es antijüdische Affekte. Vermutlich, weil Israel mit seinem Ein-Gott-Glauben eine massive Provokation im ansonsten polytheistischen Umfeld war. Aber die Grundlage des Antisemi-tismus, wie wir ihn seit nahezu 2000 Jahren erleben, ist jene Haltung, die sich bis in die frühen 1950er-Jahre in den Großen Fürbitten der Karfreitagsliturgie findet.
Beim Gebet für die Juden hieß es dort jahrhundertelang: „Lasst uns auch beten für die treulosen Juden (auf Latein: „pro perfidis Judaeis – für die perfiden Juden“), dass Gott, unser Herr, wegnehme den Schleier von ihrem Herzen, auf dass auch sie erkennen unsern Herrn Jesus Christus.“ Damit nicht genug. In der Regieanweisung heißt es: „Hier unterlässt der Diakon die Aufforderung zur Kniebeuge, um nicht das Andenken an die Schmach zu erneuern, mit welcher die Juden durch Kniebeugungen um diese Stunde den Heiland verhöhnten.“
Was wir hier in der Mitte dieser großen Liturgie über die „perfiden Juden“ zu hören bekommen, ist Ausdruck einer Geisteshaltung, die wirklich davon ausgeht, dass alle Juden, egal wann sie gelebt haben, nicht nur verblendet und in ihrer Finsternis gefangen sind und bleiben, sondern wahre und wirkliche Gottesmörder sind. Durch die Jahrhunderte hindurch nahmen Pogrome ihren Anfang in Predigten, die genau das zum Inhalt hatten: den perfiden, verschlagenen Juden, der den unschuldigen Gottessohn ans Kreuz brachte. Nicht selten waren es die Karfreitage, an denen Töchter und Söhne Israels um ihr Leben bangen mussten. Marodierende Banden zogen um die Häuser und erschlugen Männer, Frauen und Kinder.
Eine Symbolfigur, auf die sich der antijüdische Hass in besonderer Weise bezog, war und ist bis heute Judas Iskariot. In der Kunst meist dargestellt mit einem Geldbeutel, groben, oft hässlichen Zügen, roten Haaren und der stereotypen Judennase. Doch: Ist er wirklich der geldgierige, verschlagene, hinterhältige Mann, der seinen Meister, der seinen Freund für ein paar Silbermünzen dem Tod ausliefert? Ist er wirklich das verkommene Subjekt, das alles Böse, alles Finstere, ja, die tiefsten Abgründe des Menschen in sich vereint? Viele sehen ihn so. Bis heute.
Manche Schriften des Neuen Testaments haben dieses Bild gezeichnet. Vor allem der Evangelist Johannes. Als sein Evangelium aufgeschrieben wurde, waren allerdings schon fast 70 Jahre vergangen, seit Jesus von den Toten auferstanden war. Eine lange Zeit. Eine Zeit, in der sich viel ereignet hat. Die römischen Besatzer hatten den Tempel, die Mitte des jüdischen Volkes, zerstört, und innerhalb des Judentums gab es viele Konflikte. Konflikte, deren Ursprung fast immer die Suche nach dem rechten Weg war. Und so war es an der Tagesordnung, dass die eine jüdische Gruppe der anderen die Wahrheit absprach. Auch die frühe christliche Gemeinde war Teil dieser innerjüdischen Konflikte. All das muss man wissen, wenn in den Evangelien von „den Juden“ und wenn dort von Judas, „dem Verräter“, die Rede ist.
Das Johannesevangelium zeichnet das düstere Bild vom verschlagenen, hinterhältigen Judas. Und damit beginnt eine fürchterliche Wirkungsgeschichte. Eine Wirkungsgeschichte, die in letzter Konsequenz zum Judenhass der Nazis geführt hat. Das Motiv des Judas wurde dort zur Grundlage der Rede vom „ewigen Juden“, der alles Böse, alles Verschlagene in sich trägt. Diese fanatische, verblendete und menschenverachtende Sicht ist bis heute in vielen Köpfen verankert und hält die Welt immer noch in Atem, nimmt sie gefangen und sorgt für Angst und Terror.
Wir erleben es überall auf der Welt und auch mitten in unserem Land, dass immer mehr Menschen ohne Hemmungen auf die Straßen gehen und gegen „die Juden“ protestieren. Es geht ihnen nicht um die in einer Demokratie gegebene Möglichkeit, gegen die Politik eines Staates zu demonstrieren. Nein, schlimmste, widerlichste Ressentiments gegen „die Juden“ finden ihren Ausdruck: im Verbrennen der israelischen Flagge, im Angriff auf Synagogen und auf Menschen, die sich als Juden zu erkennen geben. Es hört einfach nicht auf! Und daher bedarf es unser aller Solidarität! Es bedarf unseres Einsatzes gegen Antisemitismus und gegen alle undifferenzierte Sicht auf jüdische Menschen, die viele der Antisemiten als „Kinder des Judas“ sehen, die ja nur Schlechtes in sich haben können. Was für ein irrer Glaube!
Natürlich darf man den Staat Israel für seine Politik kritisieren. Natürlich darf und muss man Mitleid haben mit den vielen Menschen in Palästina, die unter teils menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen. Auch dort geschieht Unrecht. Um all das geht es den Antisemiten aber gar nicht. Dieser blutige Konflikt wird seit Jahrzehnten und seit dem 7. Oktober 2023 wieder neu instrumentalisiert, um den Kampf gegen „die Juden“ plausibel aussehen zu lassen. Deshalb sind und bleiben wir aufgerufen, unsere Stimme zu erheben, wenn gegen „die Juden“ gehetzt wird. Als Christinnen und Christen haben wir diese Verantwortung. Und deswegen sagen wir: Bei uns ist kein Platz für Antisemitismus!
Es war Papst Johannes XXIII., der den entscheidenden Schritt der Umkehr gegangen ist. Das von ihm angestoßene Zweite Vatikanische Konzil hat 1965 nicht nur den unaufgekündigten Bund Gottes mit seinem Volk herausgestellt, sondern auch deutlich gemacht, dass weder das ganze damalige Volk noch heutige Juden für den Tod Jesu verantwortlich zu machen sind. Historisch sind die Zusammenhänge um den Tod Jesu auch viel komplexer. Nicht nur, dass die römischen Besatzer unter Pontius Pilatus den Nazarener ans Kreuz brachten, Jesus selbst ging seinen Weg konsequent bis zum Schluss. Er, der von Wahrheit und Liebe nicht nur redete, sondern sie lebte, stand bis zum Schluss für das ein, was er verkündet hatte. Und zwar in der Hoffnung, dass eine Liebe, die das eigene Leben zu geben bereit ist, ein für alle Mal jede trennende Grenze überwinden würde. Doch was ist daraus geworden?
Kurz vor seinem Tod im Jahr 1963 schrieb Papst Johannes ein Gebet, das sich – wissend um den Verrat der Kirche an ihrem Herrn – wie ein flehendes Vermächtnis anhört: „Wir sind uns heute bewusst, dass viele Jahrhunderte der Blindheit uns die Augen verhüllt haben, so dass sie die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr zu sehen und in ihren Gesichtern die Züge unserer erstgeborenen Brüder nicht mehr zu erkennen vermögen. Wir verstehen, dass uns ein Kainsmal auf die Stirn geschrieben steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blut gelegen, das wir vergossen, und er hat Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir Deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu Unrecht an den Namen ‚Jude‘ hefteten. Vergib uns, dass wir Dich in ihrem Fleische zum zweiten Mal ans Kreuz schlugen. Denn wir wussten nicht, was wir taten.“
Heute kann niemand mehr sagen: „Wir wussten nicht, was wir taten.“ Deshalb: Kein Platz für Antisemitismus. Nirgendwo!
Alexander Bergel
1. September
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Predigt am 21. Sonntag im Jahreskreis
zu Joh 6,60-69
Gehen oder bleiben. Das ist hier die Frage. Damals wie heute. Damals war es Jesus selbst, den manche nicht mehr ertragen konnten. Zu provokant seine Worte. Zu radikal sein Anspruch. Zu neu seine Wege. Und so kehren ihm viele den Rücken. Damals. Und heute? Heute ist Jesus für viele Menschen eine der faszinierendsten Gestalten der Geschichte. Und zwar weil er so war, wie er war. Weil er eine Vision hatte. Weil er für das eintrat, was er glaubte. Weil er Menschen eine Ahnung davon gibt, wie das Leben gelingen kann. Manche sehen in ihm Gottes Sohn, andere eher einen Propheten. Zumindest aber einen guten Menschen. Nach wie vor also geht von ihm eine ungeheure Kraft aus. Bei der Kirche ist das anders. Viele wenden sich ab. Und selbst die, die noch da sind, spüren sie: eine immer größer werdende innere Distanz. Der Missbrauch von Kindern und seine Vertuschung, der Umgang mit Macht, die Doppelmoral – all das führt dazu, dass immer mehr Menschen sagen: Nicht mit uns! Ich kann es sehr gut verstehen. Und frage mich immer öfter: Wie lange wird das alles noch so weitergehen?
Durch all das hindurch gewinnt eine Frage immer mehr Gestalt. Und sie ist die eigentliche Frage: Wozu ist die Kirche wirklich da? Um Macht auszuüben? Um alte Regeln um jeden Preis einzuhalten? Um sich selbst zu erhalten? All das geschieht. Aber all das ist nicht ihr Zweck. Nein. Die Kirche gibt es, damit das, was Jesus gelebt und gewollt hat, durch die Zeiten hindurch weitererzählt wird und alle es hören können. Es gibt die Kirche, damit diese Welt eine bessere wird. Damit Ungerechtigkeit bekämpft, Hoffnung gelebt und Liebe geschenkt wird. Es gibt uns, die Kirche, damit wir Gott feiern und das Leben in all seinen Facetten. Es gibt uns, damit Menschen ein Zuhause finden, die keines haben. Es gibt die Kirche, damit Schwache stark, Kleine nicht übersehen und Trauernde getröstet werden. Und all das geschieht ja auch. Tag für Tag. Und Nacht für Nacht. Aber es gibt eben auch all das andere. Und das scheint so übermächtig zu sein: Machtgier und Neid, Größenwahn und Überheblichkeit, Weltfremdheit und das Gesetz des „Das machen wir hier schon immer so.“ Nicht nur in Rom. Nicht nur in anderen hohen Etagen. Nein, überall, wo Menschen sind, erleben wir, was Menschen einander antun können. Es sind Menschen, die vergessen haben, warum es die Kirche gibt. Und so antworten immer mehr auf die Frage: „Wollt auch ihr gehen?“ mit einem deutlichen Ja!
Und nun? Was können wir tun? Wie kommen wir wieder hin zu dem, was Jesus verkündet und gelebt hat? Oder ganz anders gefragt: Warum sind Sie eigentlich noch da? Seien Sie mutig! Erzählen Sie es einander. Erzählen Sie einander, warum Sie noch da sind. Helfen Sie mit, dass wir nicht in Resignation und Depression versinken. Geben wir diese Idee Jesu von Menschen, die in seiner Spur unterwegs sind, noch nicht auf. Auch wenn viele es bereits getan haben. Auch wenn die Kirche oft so zerstörerisch war und immer noch ist. Auch wenn es tausend Gründe gibt, abzuhauen und die Karre in den Dreck fahren zu lassen. Ja, es gibt sie, diese Gründe. Und es werden immer mehr. Aber die anderen, die Gründe zu bleiben – die gibt es doch auch. Und am Ende, am Ende gibt es vor allem einen Grund – den nämlich, mit dem alles anfing: Jesus von Nazareth. Immer dann, wenn ich eigentlich alles hinschmeißen möchte, weil es schon längst nicht mehr fünf vor, sondern fünf nach zwölf ist, immer dann höre ich die Frage Jesu: Willst auch du gehen? Und seltsamerweise – obwohl es eigentlich schon fünf nach zwölf ist – glaube ich: Noch – noch ist es nicht zu spät. Oder?
Alexander Bergel
25. August
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Predigt am 19. Sonntag im Jahreskreis
zu 1 Kön 19,4-8 und Joh 6,41-51
Gekämpft, gehofft und doch verloren. Manchmal liest man einen solchen Satz in Todesanzeigen. Dunkle Worte. Aus ihnen spricht tiefe Verzweiflung. Gekämpft, gehofft und doch verloren – der Prophet Elija kennt das auch. Gekämpft hatte er. Und wie! Hatte alles auf eine Karte gesetzt. Für seinen Gott. Und nun? Nun muss er fliehen. Weil die Königin ihm nach dem Leben trachtet. Die Hoffnung schwindet, dass er heil aus der Sache herauskommt. Im Gegenteil. Eigentlich ist alles aus. Dabei fing es doch so groß an!
Gekämpft hatte er, ja, gekämpft für Gott – das meinte er jedenfalls –, als er 450 Priester des Gottes Baal hatte abschlachten lassen. Ein grausames Massaker im Namen seines Gottes. Doch der? Zeigt sich nicht. Kurz zuvor hatte er es noch getan. Hatte sein Opfer angenommen. Im Gegensatz zum Gott Baal, der nichts von sich hören ließ. Für Elija war das der klare Beweis: „Euer Gott ist ein Popanz! Mein Gott ist der echte, der wahre!“ Aber nun zeigt sich dieser Gott nicht mehr. Vielleicht, weil er sich abwendet von einem, der über Leichen geht. Der über Leichen geht, um Recht zu behalten. Der über Leichen geht, um einen Gott zu verteidigen, der das gar nicht will und schon gar nicht braucht. Am Ende wird Elija verfolgt. So ist er wirklich ganz am Ende, liegt am Boden und will sterben.
Was für Kämpfe führen Menschen heute? Unendlich viele. Überall auf der Welt stehen sie sich kriegerisch gegenüber. Fast immer geht es um Macht. Auch dann, wenn Gott oder das Wahre oder das Gute vorgeschoben wird. Um all das geht es aber letztlich nie. Der Gott, den uns die Schriften des Alten und des Neuen Bundes überliefern, ist keiner, der will, dass in seinem Namen Menschen abgeschlachtet werden. Dass die Bibel aber doch immer und immer wieder von diesen Gotteskriegen berichtet, hat seinen Grund darin, dass Menschen sich Gott so gedacht haben. Der Herr der Heere, der Herr Zebaoth, der Krieger, der Allmächtige, der dreinschlägt – es sind menschliche Bilder, die ihren Ursprung in der menschlichen Sehnsucht haben, ganz oben, ganz stark, ganz mächtig zu sein. All das muss man wissen, wenn man über die vielen Kriegsberichte, das viele Blutvergießen stolpert, das einem in der Bibel begegnet.
Wohin das alles führt – davon hören wir heute. Elija ist am Ende. Schritt für Schritt hat er gespürt: Dieser Weg ist der falsche. Es muss einen Grund geben, warum Gott mich hier liegen lässt. Gekämpft, gehofft und doch verloren. Ja, fast sieht es so aus. Doch dann nimmt die Geschichte eine andere Wendung. Allerdings erst, als Elija sich vom Gottesbild des starken Heerführers verabschiedet. Erst als Elija bereit ist, Gott ganz anders zu denken, bekommt er einen Blick für das, was sich ihm nun unverhofft zeigt. Ein Engel rührt ihn an. Einmal, zweimal. Spricht zu ihm. Mitten in seine Erschöpfung, mitten in seine Depression hinein. „Nimm, iss und trink! Und dann geh. Vorsichtig. Behutsam. Aber geh. Geh weiter. Und dann -– lass dich überraschen!“
Als Elija nach 40 Tagen (die vierzig steht immer für einen Weg der Wandlung), als er nach 40 Tagen am Berg Horeb ankommt, dem Gottesberg, fällt er wieder in die alten Muster. Sturm, Erdbeben, Feuer – Elija wartet, dass Gott zu ihm spricht. Aber in alldem ist Gott nicht zu finden. Erst als ihn ein sanftes, leises Säuseln umgibt, eine „Stimme verschwebenden Schweigens“, wie Martin Buber es übersetzt, erst dann bekommt Elija eine Ahnung, wer dieser Gott sein könnte.
Mit einer solchen Ahnung – alles andere wäre zu viel – sind auch wir unterwegs. Unterwegs in all den Kämpfen unseres Lebens, den nötigen wie den unnützen. Es sind Kämpfe ums Überleben, Kämpfe um Ansehen, Kämpfe um Macht und Einfluss, Kämpfe ums Recht, Kämpfe um die Wahrheit – und Kämpfe um Gott, von dem man doch so schnell und so einfach zu wissen meint, wie er oder sie ist – oder wie auch nicht. Wenn Jesus von Gott spricht, tut er es bevorzugt in Bildern – wie er es in den Alten Schriften gelernt hatte. Selbst die Rede von Gott als seinem Vater ist ein Bild. Vielen hilft es. Für andere, das wird in unseren Zeiten immer offensichtlicher, ist das Bild vom Vater unerträglich. Ein Schlag ins Gesicht für all jene, deren eigener Vater einer war, der das Leben seiner Kinder zerstörte. An ähnliche Grenzen stößt dann auch das Bild von Gott als einer Mutter. Und deshalb: Ja, benutze Bilder. Aber nutze sie behutsam. Lege Gott nie darauf fest!
Auch Jesus legte Gott nie fest. Aber er hat sich in unsere Hände gelegt. Und damit Gott selbst. „Brot des Lebens“ will Jesus sein. Viele, die ihm gefolgt sind, haben das gespürt. Auch wenn nicht jeder Hunger gestillt wurde, auch wenn vieles nicht so lief, wie erhofft, auch wenn Leid und Elend auch für Menschen, die in der Spur Jesu unterwegs sind, zur Tagesordnung gehören – eines, so sagen es Menschen immer wieder, die sich darauf eingelassen haben, eines ist anders: Gekämpft haben wir. Ja. Und gehofft. Und immer wieder auch verloren. Aber wer seine Hoffnung auf diesen Gott setzt, der so anders ist, als wir ihn uns denken, wer seine Hoffnung trotzdem auf diesen Gott setzt, der in Jesus Mensch geworden ist, der wird sich am Ende nicht endgültig verloren vorkommen.
Vielleicht erleben Sie das ja ähnlich oder gar ganz genauso. Was für ein Geschenk in all den Kämpfen! Und wenn Sie dann einmal weiterdenken, bis ganz ans Ende – vielleicht könnte ein Satz, den Sie über Ihr Leben schreiben würden, dann lauten: Gekämpft ja! Gehofft auch. Und wie! Auf diesen Gott. Und genau deshalb – nicht verloren!
Alexander Bergel
11. August
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Predigt am 14. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 6,1b-6
Propheten haben es schwer. Schon immer. Weil sie unbequem sind. Weil sie Sand ins Getriebe streuen. Weil sie zum Nachdenken anregen und ihren Finger immer wieder in die Wunde legen. Und so lässt man sie reden, die Propheten aller Zeiten. Oder schickt sie weg. Macht sich lustig über sie. Oder sagt ihnen recht deutlich: „Du, wir wissen, wo du herkommst. Spiel dich mal nicht so auf!“
Manche Propheten landen in der Wüste und wünschen sich den Tod. Andere werden in einen Brunnen geschmissen oder verjagt oder getötet oder von der Gesellschaft isoliert. Die Bibel ist voller solcher Geschichten. Geschichten mit großem Mitleidsfaktor: „Ach, die Armen.“ Bedauernswert, sicher. Aber Gott sei Dank ist das alles lange her. Und stört zum Glück nicht.
Was aber wäre, wenn hier und heute jemand aufsteht und sagt: „Leute, so geht es nicht mehr weiter! Was hat eure Art zu leben noch mit Gott zu tun? Meint ihr, dass so, wie ihr als Gemeinde lebt – mit euren Strukturen, den gefestigten-offiziellen und den geheimen irgendwie gewachsenen –, meint ihr, dass Jesus sich da wohlfühlen würde? Was ist mit eurem Einsatz für Gerechtigkeit? Was mit eurem Lebensstil? Was ist mit eurem Engagement für eine Botschaft, die nach draußen soll, hin zu den Leuten, die nicht oder nicht mehr kommen?“
Was wäre, wenn wir uns dazu gegenseitig ermutigen würden, wenn wir das, was uns bei der Taufe gesagt wurde: „Mensch, auch du bist Prophetin und Prophet!“, was wäre wohl, wenn wir diese unbequeme Seite des Christseins ernstnähmen? Was wäre wohl, wenn wir losgehen würden, diese Welt zu verändern? Ja, was meinen Sie: Was wäre dann wohl los?
Alexander Bergel
7. Juli
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Predigt am 13. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 5,21-43
„Eene meene miste, es rappelt in der Kiste. Eene meene meck – und du bist weg!“ Ein beliebter Abzählreim. Wir alle kennen ihn seit Kindertagen. Glücklich sein darf der, der nicht rausfliegt, sondern weiterkommt. Und am Ende vielleicht sogar der Erste ist oder den Hauptgewinn erhält.
Im aktuellen Fall dürfen wir uns mit gleich zwei Gewinnern freuen: dem toten Mädchen und der kranken Frau. Glück gehabt, dass Jesus gerade vorbei kommt und der Tochter des Jairus sagt: „Steh auf!“ Glück gehabt, dass die Frau, die alles versucht hat, ihren ganzen Mut zusammen nimmt und Jesus berührt – und am Ende geheilt dasteht. Ja, wirklich Glück gehabt. Oder in der Sprache der Bibel gesagt: „Gott hat sich seines Volkes angenommen.“
Es ist schön, das glauben zu können. Noch besser, es zu erfahren. Was aber sage ich Menschen, die dummerweise kein solches Glück hatten? Menschen, die beim gefühlten Abzählspiel rausgefallen sind? Was sage ich Eltern, die ihr totes Kind betrauern müssen? Menschen, die zwar gerne sagen würden: „Gott hat sich seines Volkes angenommen!“ – die aber genau das nicht erfahren haben?
Wenn die Bibel von Totenerweckungen berichtet, dann will sie die Macht Gottes im ganz konkreten Leben zeigen, jene Kraft, die selbst Totes wieder lebendig machen kann. Der Evangelist Markus beschreibt Jesus dabei als einen, der mitfühlt und mitleidet. So sehr hat ihn das Leid des Jairus angerührt, dass er nicht anders kann, als ein Zeichen zu setzen: „Lebe, Mädchen, lebe!“ Und genau das tut es dann auch wirklich wieder!
Wie sehr aber warten Menschen heute auf einen solchen göttlichen Gefühlsausbruch? Nicht nur einmal habe ich vor einem Kindersarg gestanden. Und diese an sich frohe Botschaft der Erweckung des toten Mädchens – nicht verkündet. Weil ich Angst hatte vor den Fragen der Eltern: „Warum nur damals, warum nicht auch heute?“
Je konkreter der Tod wird – ja, je mehr der Tod nicht nur eine Tatsache ist, sondern ein Gesicht bekommt, desto weniger helfen Floskeln, desto weniger reicht die Rede von einem Leben schaffenden Gott. Ich will das spüren, will es erleben. Ich will sagen können: „Gott hat sich seines Volkes angenommen!“
Und dann geschieht es doch immer wieder, dass ich sehr erstaunt bin. Erstaunt, wie gerade Menschen, die tiefes Leid erlebt haben, zu Vertrauenden werden. Nie von jetzt auf gleich. Oft unter Schmerzen. Fast immer im Kampf. Im Kampf mit sich selbst, im Kampf mit wohlmeinenden Ratgebern, im Kampf mit Gott. Viele von Ihnen werden wissen, was ich meine.
Was ist da wohl passiert? Haben solche Menschen ganz tief im Inneren vielleicht doch erfahren, dass Gott sich seines Volkes, dass Gott sich ihrer angenommen hat? Sind die Worte und Zeichen von damals vielleicht doch so stark, dass sie auch heute noch ihre Kraft entfalten?
Alexander Bergel
30. Juni
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Predigt am 10. Sonntag im Jahreskreis
zu Gen 3,9-15 und Mk 3,20-23a.31-35
„Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?“ Eine Frage, die Adam die Schamesröte ins Gesicht treibt. Und seither so ziemlich allen frommen Menschen, die in dieser Szene den Sündenfall beschrieben sehen. Die Situation ist recht simpel. Gott erlaubt dem gerade geschaffenen Menschen so ziemlich alles. Paradiesische Zustände! Nur vom Baum der Erkenntnis, von dem dürfen Adam und Eva nicht essen. Beide tun es doch. „Die Frau war’s!“ Die ewige Verführerin ist geboren. „Die Schlange war’s!“ Der ewige Verführer betritt die Bühne. Mit ewiger, am Ende todbringender Konsequenz: Adam und Eva müssen das Paradies verlassen. Hatte Gott sie nicht gewarnt? Warum müssen sie auch alles wissen wollen? Wollten sie am Ende wirklich sein wie Gott? Das musste doch schief gehen! Also wird die Notbremse gezogen. Bevor die Menschen auch noch vom Baum des Lebens essen und damit wirklich gottgleich, weil ewig lebend, werden, müssen sie hinaus. Und ums Überleben kämpfen. Seither führen wir alle diesen Kampf. Weil Adam und Eva ihre Grenzen nicht akzeptiert haben.
Man kann diese Geschichte so lesen. Denn es stimmt ja auch: Immer dann, wenn der Mensch sein will wie Gott, führt das die Welt in die Krise. Weil Allmachtsphantasie und ein ebensolches Gehabe fast immer in einer Katastrophe enden. Ja, man kann diese Geschichte so lesen. Aber jenseits der unguten Wirkungsgeschichte, die Rolle der Eva betreffend („Die Frau war’s!“), hält diese Erzählung von den Anfängen der Welt noch eine ganz andere Deutung bereit. Und die geht so: Adam und Eva sind erwachsen geworden. Deshalb wollen, ja müssen sie wissen, was gut und böse ist. Sie wollen erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Mit anderen Worten: Sie wollen wirkliche, echte Menschen sein. Keine behüteten Märchenlandbewohner!
Erwachsen werden, erwachsen sein bedeutet: Ich weiß, wer ich bin. Ich weiß, was ich kann. Und ich darf Fehler machen. All das gehört zum wirklichen Menschsein dazu. Jeder Mensch durchläuft diese Prozesse des Reifens. Bei kleinen Kindern fängt es schon an. Sie entdecken ihre Welt. Begegnen anderen Kindern. Erleben Konflikte und lernen, sie zu lösen. Kinder und Jugendliche lernen die Welt kennen, die naturwissenschaftlich erforschte und die künstlerisch-poetisch gedeutete. Menschen machen die Erfahrung von Liebe und Hass, von Freundschaft und Feindschaft, von Nähe und Distanz, von Ehrlichkeit und Betrug. Und je älter wir werden, desto mehr setzt eine Gelassenheit ein, vielleicht sogar eine Weisheit, die anderen, jüngeren, Mut machen kann, dem Leben zu trauen. All das wäre nicht möglich, wenn wir uns im Paradiesgarten für immer häuslich eingerichtet hätten. Menschsein, das von Gott her gedacht wird, also ein Leben in Freiheit, kann nur so gelingen. Ich muss mich freischwimmen. Ich muss Erfahrungen sammeln. Ich muss mein Verhalten im Zusammenspiel mit anderen lernen. Fehler und Versagen eingeschlossen.
Darf man die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies so lesen? Berechtigte Frage. Immerhin sind die Kapitelüberschriften in fast allen Bibelausgaben ziemlich eindeutig: In der Lutherbilbel und der reformierten Zürcher Bibel steht da sehr klar: „Der Sündenfall“. Die Elberfelder Bibel schreibt: „Der Sündenfall und seine Folgen“. Die katholische Einheitsübersetzung betitelt das Kapitel mit: „Der Fall des Menschen“. In der Bibel „Hoffnung für alle“ heißt es gar (ein bisschen hoffnungslos): „Der Mensch zerstört die Gemeinschaft mit Gott“. Die Gute Nachricht allerdings hat eine neutrale Überschrift gefunden: „Die Menschen müssen den Garten Eden verlassen.“ Mir ist diese Überschrift sympathisch. Denn sie wertet nicht. Sondern lässt vieles zu. Wir leben nicht mehr im Paradies. Zweifellos. Und ja, immer dann, wenn Menschen versuchen, sein zu wollen wie Gott, ist die Hölle los. Aber auch ja, wir müssen, um wirklich Mensch zu sein, das kuschelige Paradies der Kindheit hinter uns lassen (wenn es denn hoffentlich eines war – viel zu viele Kinder erleben alles andere als ein Paradies). Wir müssen aufbrechen und gehen und eigene Wege finden.
Auch bei Jesus war das so. Je älter er wurde, desto selbstbestimmter, desto freier ging er seinen Weg. Im antiken Palästina war der Einzelne nichts, die Sippe alles. Für manche das Paradies. Je nachdem, wer in der Hierarchie an welcher Stelle stand. Jesus aber durchbricht diese Mauer. Und geht. „Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen, denn sie sagten: Er ist von Sinnen.“ Sie verstehen ihn nicht. Aber Jesus kehrt nicht zurück in den Schoß seiner vielleicht doch gar nicht so heiligen Familie. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und fragt: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ Antwort: „Er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ Jesus ist so frei, dass er eine neue Perspektive einnimmt. Er lässt Enge und Abhängigkeiten hinter sich. Und geht seinen gefahrvollen Weg. Am Ende kostet ihn das sein Leben. Doch gleichzeitig ist das der Schlüssel zu einer unbeschreiblichen Zukunft.
Viele sehnen sich nach dem Paradies. Nach der heilen Welt. Manchmal auch danach, wieder so unbeschwert leben zu können wie in Kindertagen. Wer könnte das nicht verstehen? Aber das Leben geht anders. Und daher – wie so oft – eine Frage zum Schluss: Welches Paradies müsste ich gedanklich mal verlassen, um wirklich frei zu sein?
Alexander Bergel
9. Juni
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Predigt am Dreifaltigkeitssonntag
zu Mt 28,16-20
Der Gott, von dem Jesus gesprochen hat, ist kein Gott der Philosophen. Der Gott, den er verkündet hat, ist einer, der sich erfahren lässt. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs schafft aus dem Nichts eine ganze Welt. Geleitet sein Volk durch Wüsten hin zu blühenden Gärten. Geht voran und hinterher. Dieser Gott spricht. Mal leise, mal laut, immer aber von Herz zu Herz. Seine Kraft ist mitten im Menschen. Und manchmal nimmt sie sogar Gestalt an, diese Kraft. Das beste Beispiel dafür ist Jesus selbst.
In ihm wird deutlich: Gottes Liebesgedanken haben ein Herz. Und ein Gesicht. Und Hand und Fuß. Gott schaut uns an. In einem Menschen. Meist von unten. Oder mit dem Arm auf unserer Schulter. Von oben herab blickt er nur vom Kreuz. Der Schmerz der ganzen Welt ist aufgehoben bei ihm. Doch nicht nur das.
Der Schmerz der ganzen Welt wird auch verwandelt. Denn er, der alles lebendig macht, kann doch seinen Menschensohn nicht im Tode lassen. Er kann doch niemanden, der den Lebensatem in sich trug, im Tode lassen! Keinen Menschensohn und keine Menschentochter. Gottes Geistkraft bläst den Gestank des Todes hinweg. Und wirbelt auch sonst alles kräftig durcheinander. Damit das Leben nicht vergeht.
Was wir heute feiern, ist, daran zu denken, was Menschen erlebt haben und erleben: Ich bin geschaffen und geliebt. Ich bin gesehen und erlöst. Ich bin getragen und gestärkt. Der Gott, der auf mich schaut, hat mich gewollt. Der Gott, der neben mir steht, geht mit mir durch Dick und Dünn. Der Gott, den ich in mir spüre, hält mich am Leben. Manche nennen dies Dreifaltigkeit. Geheimnisvoll – so wie das Leben selbst. Weil Menschen das erlebt haben, ist es zur Realität geworden. Keine, die sich beweisen ließe. Aber eine, mit der sich leben lässt.
Alexander Bergel
26. Mai
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Predigt an Pfingsten
zu Apg 2,1-11, Joel 3,1-3 und Joh 20,19-23
„Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen.“ Das wäre mal was, oder? Söhne und Töchter, junge Leute also, die aufstehen und den Finger prophetisch in die offenen Wunden legen. Junge Frauen und Männer, die eine Idee für ihre Zukunft haben. Und alte Leute, die es noch wagen zu träumen. Zu träumen, obwohl sie schon so vieles erlebt haben. Oder vielleicht auch, weil sie schon so vieles erlebt haben.
Wir feiern Pfingsten. Und erinnern uns daran, dass aus einer kleinen eingeschüchterten Truppe eine Bewegung wurde, die keine Angst mehr hatte. Jedenfalls keine, die alles überlagerte. Wir erinnern uns an Männer und Frauen, die sich plötzlich trauten, von dem zu erzählen, was sie erlebt hatten mit diesem Jesus von Nazareth. Wir erinnern uns an eine Zeit, in der es ähnlich viele Sorgen und Probleme, Zukunftsängste, Diktatoren und mörderische Systeme gab wie heute. Aber ein Verkriechen, ein Lamentieren: „Das wird ja doch nichts!“, ein Jammern: „Ach, wenn die Zeiten andere wären, dann …“ – all das gab es plötzlich nicht mehr.
Nein: Die Menschen damals, die mit Jesus unterwegs waren, die Frauen und Männer, die ihn gehört, gespürt und erlebt hatten, jene, die ihn hatten sterben sehen und danach etwas Neues mit ihm erfahren konnten, ohne genau zu wissen, was das ist – Auferstehung –, alle diese Menschen, die nicht wussten, wohin die Reise gehen wird – sie gingen nach draußen. Gingen einfach los. Sprachen von dem, was sie bewegte. Mehr noch: Menschen in ihrer Nähe konnten spüren: Die meinen das ernst! Und vor allem: Die reden nicht nur, nein: die handeln!
„Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen.“ Was heißt das für uns? Vielleicht heißt das für uns als Kirche im Jahr 2024: Auf das hören, was die Jungen uns an prophetischen Worten sagen, auf das schauen, was sie tun. Die jugendliche Kraft des Aufbruchs nicht ignorieren oder relativieren, nein: Die Impulse aufgreifen und unterstützen. Konkret: Die Frage der Bewahrung der Schöpfung erst nehmen und sich zu eigen machen. Und nicht sagen: „Ich kann ja doch nichts tun.“
Und weiter: Man muss die Gendersprache vielleicht nicht mögen – aber mit ihrer massiven Abwehr gleich das Anliegen von gerechter Teilhabe aller relativieren? Nein! Gottes Geist macht alle gleich, gibt allen dieselben Rechte: „Nicht mehr Juden und Griechen“, wie Paulus es für seine Zeit sagt, „nicht mehr Sklaven und Freie, nicht mehr Mann und Frau – wir alle sind eins in Christus durch den Heiligen Geist!“ Was wäre wohl, wenn die Kirche auf diesem Hintergrund plötzlich zur Vorreiterin in Fragen der Teilhabe und der Gerechtigkeit für alle würde – gleich welcher Herkunft, gleich welchen Geschlechts, gleich welch sexueller Orientierung, gleich welcher Religion oder Weltanschauung?
Und die Alten mit ihren Träumen? Es gibt sie. Jene Frauen und Männer, die ihr Leben lang für eine Sache gekämpft und gearbeitet haben. Auch in der Kirche. Die über das Kämpfen alt geworden sind, sich aber dennoch nicht davon abbringen lassen, weil sie in ihrem Einsatz etwas von dem erkennen, was Gottes Geist bewirken könnte, wenn man ihn ließe. Der Blick in die Geschichte beweist: Viel von dem, was Menschen wichtig war, kam nicht von jetzt auf gleich.
Du brauchst einen langen Atem. Und so blicke ich auf die vielen Frauen in unserer Kirche, die trotz aller Geringeschätzung, trotz aller fehlenden Teilhabe nicht gegangen sind. Und zwar nicht, um die Kirche zu retten – darum kann es auch nicht gehen –, sondern um der Botschaft Jesu treu zu bleiben. Und ihr in dieser Kirche ein Gesicht zu geben.
Wenn sich in unserer Pfarrei eine Frau auf das Amt der Diakonin vorbereitet hat im Wissen darum, diese Weihe vielleicht nie zu erleben, hat sie es auch getan für die vielen jungen Frauen, die ähnliches möchten und in ihr eine Vorreiterin erkennen, die Mut macht, sich nicht abbringen zu lassen von diesem Gedanken. Ja, so war es immer schon. Das Zweite Vatikanische Konzil mit all seinen Aufbrüchen konnte es nur geben, weil Jahrzehnte vorher mutige Menschen Dinge einfach getan haben. Dinge, die für uns heute selbstverständlich sind.
„Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen.“ Wenn wir es wagen, dieser Vision des Propheten Joel zu folgen, wenn wir es wagen, in der Gemeinschaft der Christinnen und Christen zu bleiben und weiterzumachen, wenn wir es wagen, uns von den vielen Abgründen und Abbrüchen nicht in die Depression führen zu lassen, wenn wir es wagen, unsere Stimme zu erheben gegen rechte, menschenverachtende Hetze, gegen die Flut von Fakenews auch in unserem engsten Umfeld, wenn wir es also wagen, dem Geist Gottes mehr zu trauen als den vielen Abergeistern, dem Destruktiven und Kaputten – ja, wenn wir uns all das trauen: Das wäre was! Das wäre der Aufbruch in eine neue Zeit. Das wäre wirklich Pfingsten!
Alexander Bergel
19. Mai
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Predigt am 7. Ostersonntag
zu Apg 1,15-17.20ac-26 und Joh 17,6a.11b-19
„… außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllte.“ Diesen Stempel hat er weg, ein für alle Mal: Judas – der „Sohn des Verderbens“. Selbst Jesus scheint das so zu sehen, wenn er sich am Abend vor seinem Tod, kurz nachdem Judas den Raum verlassen hat, an den Vater wendet: „Ich habe sie behütet und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllte.“
Was ist das für ein Mensch, für den es keine Hoffnung zu geben scheint? Ist er wirklich der geldgierige, verschlagene, hinterhältige Mann, der seinen Meister, der seinen Freund für ein paar Silbermünzen dem Tod ausliefert? Ist er wirklich das verkommene Subjekt, das alles Böse, alles Finstere, ja die tiefsten Abgründe des Menschen in sich vereint? Viele sehen ihn so. Bis heute. Manche Schriften des Neuen Testaments haben dieses Bild gezeichnet. Vor allem der Evangelist Johannes.
Als sein Evangelium aufgeschrieben wurde, waren allerdings schon fast 70 Jahre vergangen, seit Jesus von den Toten auferstanden war. Eine lange Zeit. Eine Zeit, in der sich viel ereignet hat. Die römischen Besatzer hatten den Tempel, die Mitte des jüdischen Volkes, zerstört, und innerhalb des Judentums gab es viele Konflikte. Konflikte, deren Ursprung fast immer die Suche nach dem rechten Weg war. Und so war es an der Tagesordnung, dass die eine jüdische Gruppe der anderen die Wahrheit absprach. Auch die frühe christliche Gemeinde war Teil dieser innerjüdischen Konflikte. All das muss man wissen, wenn in den Evangelien von „den Juden“ und wenn dort von Judas, „dem Verräter“, die Rede ist. Aber der Reihe nach.
Als der Evangelist Markus um das Jahr 70 sein Evangelium aufschreibt, erwähnt er dreimal, dass Judas einer der Zwölf ist. Davon, dass er Jesus verrät, ist nirgendwo die Rede. Er schreibt lediglich „überliefern“ oder „übergeben“, aber nicht „verraten“. Matthäus spricht zehn Jahre später zwar auch noch von „überliefern“, aber er nennt Judas zum ersten Mal einen Verräter. Lukas macht sich – wieder ein paar Jahre später – auf die Suche nach einer Erklärung für diesen Vorgang im Garten Getsemane und schreibt: „Da fuhr der Satan in ihn.“
Das Johannesevangelium schließlich zeichnet das düstere Bild vom verschlagenen, hinterhältigen Judas. Und damit beginnt eine fürchterliche Wirkungsgeschichte. Eine Wirkungsgeschichte, die in letzter Konsequenz zum Judenhass der Nazis geführt hat. Das Motiv des Judas wurde dort zur Grundlage der Rede vom „ewigen Juden“, der alles Böse, alles Verschlagene in sich trägt. Diese fanatische, verblendete und menschenverachtende Sicht ist bis heute in vielen Köpfen verankert und hält die Welt immer noch in Atem, nimmt sie gefangen und sorgt für Angst und Terror.
Wir erleben es in diesen Tagen, da auch in unserem Land immer mehr Menschen ohne Hemmungen auf die Straßen gehen und gegen „die Juden“ protestieren. Es geht ihnen nicht um die in einer Demokratie gegebene Möglichkeit, gegen die Politik eines Staates zu demonstrieren. Nein, schlimmste, widerlichste Ressentiments gegen „die Juden“ finden ihren Ausdruck: im Verbrennen der israelischen Flagge, im Angriff auf Synagogen und auf Menschen, die sich als Juden zu erkennen geben.
Es hört einfach nicht auf. Und daher bedarf es unser aller Solidarität! Es bedarf unseres Einsatzes gegen Antisemitismus und gegen alle undifferenzierte Sicht auf jüdische Menschen, die viele der Antisemiten als Kinder des Judas sehen, die ja nur Schlechtes in sich haben können. Was für ein irrer Glaube!
Natürlich darf man den Staat Israel für seine Siedlungspolitik kritisieren. Natürlich darf und muss man Mitleid haben mit den vielen Menschen in Palästina, die unter teils menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen. Auch dort geschieht Unrecht. Um all das geht es den Antisemiten am Ende aber gar nicht. Dieser blutige Konflikt wird seit Jahrzehnten und seit dem 7. Oktober wieder neu instrumentalisiert, um den Kampf gegen „die Juden“ plausibel aussehen zu lassen.
Deshalb sind und bleiben wir aufgerufen, unsere Stimme zu erheben, wenn gehen „die Juden“ gehetzt wird. Als Christinnen und Christen haben wir diese Verantwortung. Auch weil in unserer Heiligen Schrift durch das im ersten Jahrhundert mehr und mehr verzerrte Judas-Bild eine der Grundlagen für den Judenhass gelegt wurde.
Die Bibelforschung und manche Literaten haben in den letzten Jahrzehnten ein ganz anderes Bild des Judas Iskariot gezeichnet – und vieles spricht dafür, dass es so gewesen sein könnte. War Judas nicht vielleicht viel weniger der Verräter, sondern einer, der Jesus so nahe stand wie kaum ein anderer? Was wäre, wenn Judas vorgehabt hätte, Jesus vor dem Tod zu retten, indem er einen Deal mit den Tempelwachleuten geschlossen hätte, der aber am Ende doch nicht funktioniert hat, weil Judas ausgetrickst wurde? So die Sicht des Schriftstellers Amos Oz.
Oder was wäre, wenn Judas es einfach leid war, auf das Kommen des Reiches Gottes zu warten? „Wenn ich Jesus unter Druck setze“, so könnte er zu sich gesagt haben, „wenn ich ihn nur richtig unter Druck setze, dann wird er doch von seiner Macht Gebrauch machen! Dann wird er aufstehen gegen die Mächtigen und die Unterdrücker und sein Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens aufrichten!“ Jesus aber war nicht so. Sein Weg der Liebe ging über das Kreuz. Nicht über das Schwert. Bis heute ein tiefes Geheimnis. Judas ist daran zerbrochen.
All das aber bleibt Spekulation. Auch wenn ich gerade diese Sicht, dass Judas Jesus nicht ausliefern, sondern ihm den letzten Schubs geben wollte, damit Gottes Herrschaft endlich beginnen kann, recht plausibel finde. Judas als der, der zu viel und zu schnell wollte. Und der den Weg Jesu nicht verstanden hat.
Und nun? Jenseits aller Spekulation bleibt die Frage: Was bewegt die Figur des Judas in mir? Bin ich, sind wir als Kirche wirklich so anders? Die eine Antwort wird es darauf nicht geben. Eine Spur weist aber vielleicht – wie so oft – der Blick in die Poesie. Kurt Marti, ein Dichter unserer Tage, formuliert es so:
schöner judas
da schwerblütig nun
und maßlos
die sonne
ihren untergang feiert
berührst du mein herz
und ich denke dir nach
ach was war
dein einer verrat
gegen die vielen
der christen der kirchen
die dich verfluchen
ich denke dir nach
und deiner tödlichen trauer
die uns beschämt
Alexander Bergel
12. Mai
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Predigt an Christi Himmelfahrt
zu Apg 1,1-11
Nun ist er endgültig weg. Auf und davon. Und die Jünger? Und wir? Wir bleiben zurück. Wie so oft. Und müssen sehen, wie es weiter geht. Ja, wie geht es denn weiter? Was bleibt von dieser unglaublichen Botschaft? Was bleibt von Jesus? Erst einmal bleibt die Frage: Bin ich bereit, ihm zu folgen? Ihm, der vom Frieden nicht nur sprach, sondern ihn lebte. Ihm, der mit jeder Faser seiner Existenz davon überzeugt war, dass die Liebe immer die stärkeren Argumente hat. Ihm, der barmherzig war. Und mutig. Und kraftvoll. Und am Ende tot.
Bin ich bereit, einem zu folgen, der alles gegeben hat, sogar sich selbst? Kann ich glauben, dass der, der starb, fürchterlich zugerichtet am Kreuz, dass genau der von den Toten auferstanden ist? Und macht mir das alles Mut, darauf mein ganzes Leben zu gründen? Wer sich das traut, der spürt – vielleicht nicht immer sofort, aber vielleicht doch immer mal wieder –, welche Kraft von Ostern ausgeht: Einer stirbt, damit alle leben. Einer lebt, damit wir nicht ins Dunkle sinken. Einer sprengt die Dimensionen dieses Lebens auf, damit wir weit werden im Denken, Fühlen und Handeln. Einer sendet seinen Geist, damit das alles nicht in Vergessenheit gerät, sondern eine Zukunft hat.
Aber was ist, wenn eigentlich immer mehr dagegenspricht? Wenn die Spötter immer lauter rufen: „Du und dein Gott, lächerlich!“ Wenn das, was wir in der Kirche erleben, für viele nur noch zum Weglaufen ist? In diesen Momenten, dann wenn ich denke, lass es sein, versuche ich, mich an das Feuer des Anfangs zu erinnern. Jede, jeder von uns hatte es einmal in sich, dieses Feuer. Und mitunter lodert es doch auch noch, oder? Zumindest aber die Glut, die müsste noch da sein. Und wenn nicht? Ja, was ist dann? Dann hoffe ich, allen Zweifeln zum Trotz, dass einer kommt, der sie neu entfacht, die Glut. Wie sich das anfühlt? Warten wir ab. Bald ist Pfingsten!
Alexander Bergel
9. Mai
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Predigt am 6. Ostersonntag
zu Joh 15,9-17
Freunde sind Menschen, bei denen ich so sein kann, wie ich bin. Es gibt Freunde, die sehe oder spreche ich fast jeden Tag. Manche Freunde treffe ich nur ein, zwei Mal im Jahr. Doch beide Male ist sie da: die tiefe Vertrautheit. Freunde sagen mir die Wahrheit. Auch wenn die manchmal gar nicht nett ist. Die ungeschminkte Wahrheit aber, die ein Freund, die eine Freundin sagt, die will mir helfen – und oft tut sie es auch. Es ist ein großes Geschenk, einen solchen Menschen an seiner Seite zu wissen.
Einen, der da ist. Eine, die nicht verurteilt. Einen, der unkonventionelle Wege geht. Eine, die Lebensfreude wecken kann. Einen, der die Wolken wegschiebt. Eine, die weiß, wie warm die Sonne ist. Einen, der mit mir durchhält. Eine, die die Meinung sagen mag. Einen, der auf die Leute pfeift, die sowieso immer alles am besten wissen. Glücklich schätzen können sich alle, die solche Freunde haben. Ermutigt dürfen alle sein, die solche Freunde sind. Nachdenklich werden sollten vielleicht jene, die das Wort Freundschaft sehr schnell im Munde führen.
Jesus wählt das Wort Freund mit Bedacht. Und er meint auch uns damit: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt!“ Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Freund, Freundin nennt er uns. Nicht Bekannte, nicht Kumpel. Nein: Freunde! Damit aber nicht genug. Jesus geht noch einen Schritt weiter: „Es gibt keine größere Liebe“, so sagt er, „als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde.“ Was das bedeutet? Blicken wir ins Leben Jesu.
Er redet nicht nur von Freundschaft und Liebe. Er lebt sie. Jesus berührt die Wunden der Menschen. Er heilt die Verkrüppelten, macht die Blinden sehend und die Lahmen gehend. Jesus wendet sich der armen Witwe zu und dem psychisch kranken Jugendlichen. Er findet Worte des Trostes für die Mutter, die ihr Kind verlor. Er lässt den Reichen spüren, dass kein Geld der Welt seine Sehnsucht stillt. Jesus lässt sich berühren und beunruhigen vom Leid der Menschen. Er trägt es sogar selbst und nimmt es mit aufs Kreuz. Freundschaft bis zum letzten.
Warum tut er dies alles? Vielleicht, weil er möchte, dass jene, die mit ihm in Freundschaft leben, ein weites Herz bekommen. Einen freien Blick. Und eine gehörige Portion Selbstwertgefühl. Was davon könnte ich wohl gerade besonders gut gebrauchen? Ein weites Herz? Einen freien Blick? Oder eine gehörige Portion Selbstwertgefühl? Und mehr noch: Wo könnte ich vielleicht jemand anderem helfen, das zu finden?
Alexander Bergel
5. Mai
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Predigt am 5. Ostersonntag
zu Joh 15,1-8
Bleibt in mir,
und ich bleibe in euch.
Ausharren,
auch wenn ich fortlaufen möchte,
wenn mich nichts mehr hält,
wenn Hoffnungen zerbrochen
und Sehnsüchte unerfüllt sind
Dableiben
trotz aller Zweifel,
die an meiner Seele nagen,
und die mir sagen,
anderswo ist alles besser.
Durchhalten,
wenn die Kraft mich verlässt
und ich nicht mehr sehe,
wozu, warum und für wen?
Glauben –
aber woran und wozu,
wenn um mich herum
Lüge und Machtgier regiert
und die Liebe
diesem Gesetz weichen muss?
Bleiben,
weil Er
mich nicht loslässt
Bleibt in mir,
und ich bleibe in euch.
Denn getrennt von mir
könnt ihr nichts
vollbringen.
Alexander Bergel
27. April
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Predigt am 4. Ostersonntag
zu Joh 10,11-18
Hier steht meine Königin – viele von Euch/Ihnen kennen sie, sind ihr auch schon begegnet. Sie wurde geschaffen vom Künstler und Diakon Ralf Knoblauch. Aber warum steht sie hier bei mir – auf dem Altar – obwohl das Evangelium heute vom „guten Hirten“ spricht? Zur Zeit Jesu wurden Könige als Hirten ihres Volkes gesehen bzw. haben sich so genannt. Die König*innen von Ralf Knoblauch repräsentieren die Menschenwürde – er hat sie gebildet aus seinen Erfahrungen mit den Menschen, die ihm täglich begegnen in sozialen Brennpunkten seiner Umgebung. Sie wollen sagen: Auch du bist eine Königin – ein König. Meine Königin ist verletzt – aber sie steht aufrecht – ihre Krone auf dem Kopf. Jesus als Hirte, als König sorgt für seine Schafe, er kümmert sich um sie, er kennt sie, er nimmt jedes Schaf ernst so wie es ist, gibt ihm das Gefühl, wichtig zu sein – bis zum Äußersten setzt er sogar sein Leben ein – auch für die, die aus einem anderen Stall sind.
Meine Königin lässt sich berühren, anfassen, sie wird be-greif-bar: ja – ich bin wertvoll, bin angenommen, ich bin auch ein König, eine Königin. Die strahlenden Gesichter, die glücklichen Augen müsstet ihr mal selbst sehen, die ich erlebt habe – an den verschiedenen Orten, wo meine Königin Menschen begegnet ist: Eine eher schüchterne Schülerin nimmt sie ganz fest in den Arm – ein kleinerer Schüler greift sie zunächst ganz vorsichtig und hebt sie dann stolz ganz hoch über sich – eine ältere Frau mit nur noch ganz wenig Sehkraft tastet sich an ihr entlang, erfühlt die halbgeschlossenen Augen, den lächelnden Mund und den verletzten Arm …Diese Begegnungen haben mir geholfen, mein Gegenüber besser zu verstehen, aus ihrer Perspektive zu sehen.
Der Blick ins Evangelium lässt uns fragen: Wo bin ich? Wer sind wir? Dürfen wir uns fühlen wie die Schafe, die von Jesus, Gott geführt und umsorgt werden? Ja! Diese Gewissheit, diese Zuversicht, diese Zusage tut uns gut. Gleichzeitig will Jesus uns immer auch ein Beispiel geben sowohl in seinen Reden als auch in seinem Handeln: Versuch es doch auch – trau es dir zu – die Gewissheit, wertgeschätzt zu sein, wichtig zu sein, die du selbst erlebst, kannst du auch anderen zusagen. Meine Königin hilft uns dabei und kann uns immer wieder daran erinnern.
Zu lernen, mit den Augen der Anderen zu schauen, mich in mein Gegenüber hineinzuversetzen – das bedeutet für mich, soziale Verantwortung zu übernehmen, letztlich wie Metz – ein Vertreter der sog. Politischen Theologie – sagt, Compassion als Weltprogramm des Christentums zu leben. Compassion bedeutet Mit-Leidenschaft, Anteilnehmen. Das habe ich in den letzten Jahren mehr und mehr gelernt in der Begegnung mit meinen Mitmenschen hier vor Ort, in unserer Pfarrei, in unserer Inklusiven Freizeitgruppe, in der Schule, im Alltag und besonders auch in den Begegnungen mit meinen Freund*innen und Partner*innen aus dem Globalen Süden. Sie haben mir de4i Augen geöffnet und prägen meine Grundhaltung, meinen Weg, meine Berufung. Ich möchte diese Grundhaltung leben und damit dem diakonischen Grundauftrag der Kirche ein Gesicht geben. So möchte ich Compassion leben, wach, offen, mit den Augen der Anderen, gestärkt durch den Zuspruch meiner Mitmenschen und den Segen der Heiligen Geistkraft.
Andrea Tüllinghoff
21. April
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Predigt am 3. Ostersonntag
zu Lk 24,35-48
Man muss sich da nichts vormachen. An die Auferstehung zu glauben ist eine Heraus-forderung. Heute genauso wie damals. In der Frühe gehen die Frauen zum Grab und finden es leer. Die Apostel glauben ihnen nicht. Von wegen Engel, die sagen: Jesus ist auferstanden … Petrus geht zwar zum Grab und sieht: Es ist leer. Die Frauen hatten Recht! Aber auch seine Worte stoßen auf taube Ohren. Die Jünger wollen, sie können es nicht glauben. Zwei von ihnen setzen sich noch am selben Tag von der Gruppe ab. Weg, nur weg. Ziel: Emmaus. Auf dem Weg dorthin erleben sie sehr Merkwürdiges: ein Fremder, der zuhört und erzählt – und mit ihnen das Brot teilt. Das kennen sie. Er ist es: Jesus! Von Emmaus nach Jerusalem zurückgekehrt, versuchen sie ihrerseits, die Apostel von der Auferstehung zu überzeugen. Mitten hinein in ihr Gespräch platzt Jesus. Die Reaktion der Anwesenden aber ist eher verhalten: nicht Jubel und Freude, sondern Angst, fast Panik und Schrecken. Sie glauben, ein Gespenst zu sehen. Spätestens jetzt müssten sie es doch endlich glauben! Was soll Jesus denn noch alles machen?
Sie sind sehr modern, die Jünger. Nicht leicht zu überzeugen. Zum Glück! Denn die Gräber, an denen wir stehen – sie sind nicht leer. Die Wege, die wir hinter uns haben – sie sind selten so voller Auferstehung, dass wir sagen mögen: Brannte nicht unser Herz? Der Jesus, dem wir folgen – er sitzt nicht an unseren Küchentisch und bittet um ein Stück Fisch. Er ist groß und breit – jener Graben, der zwischen uns liegt und den Ereignissen von damals. Diese große Distanz, dieser „garstig breite Graben“, wie Gotthold Ephraim Lessing ihn nannte, er ist und bleibt eine Herausforderung. Eine Herausforderung für alle Menschen, die an so etwas Verrücktes glauben wie die Auferstehung von den Toten. Mich beruhigt es allerdings, dass dieser Graben heute genauso tief und breit ist wie damals. Warum? Weil die Fakten eigentlich immer dagegen sprechen. Unsere Gräber bleiben voll. Unsere Ängste wiegen weiter schwer. Das große „Warum?“ breitet sich weiter über so vieles aus. Menschen machen sich das Leben auch weiterhin gegenseitig zur Hölle. Das Leben ist und wird nie ein Zuckerschlecken. Und der Tod hat meist die stärkeren Argumente. Sie alle könnten wohl Geschichten davon erzählen.
Sie können aber auch andere Geschichten erzählen! Denn sonst wären Sie nicht hier! Sie sind doch hier und kommen immer wieder, weil Sie dem Auferstandenen begegnet sind, oder? Wie war das an Ihren Gräbern? Dann, als der Schmerz so betäubend schrecklich war, dass nichts mehr ging – nach dem Tod Ihres Mannes, Ihrer Frau, Ihrer Eltern, Ihrer Geschwister, Ihrer Freunde, Ihrer Kinder gar? Wie war das, als ein Lebensentwurf zerbrach? Oder eine Lebenslüge offenbar wurde? Warum haben Sie es gewagt weiterzugehen? Warum haben Sie Gott nicht zu den Akten gelegt? Warum rechnen Sie trotz allem mit ihm? Warum halten Sie bei allem Schlimmen, Schweren, das Sie alle kennen, an diesem Glauben fest? Vielleicht, weil es Ihnen ähnlich geht, wie den ersten Osterzeugen. Die Ostergeschichten der Bibel sind keine klinisch sauberen Verlaufsprotokolle. Sie sind Buchstabe gewordene Erfahrungen, dass durch alles Dunkel hindurch einer meinen Namen nennt und mich anrührt.
Auferstehung zu verstehen bedeutet also – damals wie heute –, sie zu erleben! Der garstig breite Graben zwischen dem real Erlebten und dem sehnsüchtig Erhofften kann dabei zur unüberwindlichen Distanz werden – das Zweifeln und Weglaufen der Jünger zeigt dies ganz deutlich. Wer aber – wie die Jünger – allen Mut zusammennimmt und sich im Herzen treffen lässt, überspringt diesen Graben. Eine Überquerungshilfe könnten Worte sein, die ein geistlicher Dichter unserer Tage gefunden hat:
ihr fragt
wie ist die auferstehung
der toten?
ich weiß es nicht
ihr fragt
wann ist die auferstehung
der toten?
ich weiß es nicht
ihr fragt
gibt es eine auferstehung
der toten?
ich weiß es nicht
ihr fragt
gibt es keine auferstehung
der toten?
ich weiß es nicht
ich weiß nur
wonach ihr nicht fragt:
die Auferstehung
derer, die leben
ich weiß nur wozu er uns ruft:
zur auferstehung heute und jetzt
(Kurt Marti)
Viele Fragen.
Eine Aufforderung.
Und eine große Portion Wagemut
mit Blick auf diesen garstig breiten Graben.
In diesem Sinne:
Guten Sprung!
Alexander Bergel
14. April
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Predigt am Ostermontag
zu Lk 24,13-35
Die Osterfreude hat es nicht leicht, anzukommen. Das Erlebte hat die Welt der Jünger gehörig ins Wanken gebracht, Jesu Kreuzigung ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen. Auf dem Weg nach Emmaus können die beiden zunächst über nichts anderes reden. Trauer und Vergangenheit wollen bewältigt werden. Der Sieg über den Tod ist noch ein zartes Pflänzchen, das sich mühsam durch eine Mauer der Verzweiflung durchkämpfen muss: So bleibt der Vertraute zunächst unerkannt, das Zeugnis der Frauen wird von Zweifeln zerfressen. Und als der Auferstandene dann endlich doch zu den Jüngern durchgedrungen ist, bleibt dies eine Momentaufnahme. Festhalten ist nicht möglich. Sofort entzieht er sich ihren Blicken.
Was folgt, ist eine Bewährungsprobe. Für die Jünger und für alle, die bis heute in der Spur Jesu unterwegs sind: An Auferstehung zu glauben, bedeutet, sich all dem stellen zu müssen, dem Nicht-Sehen-Können, den Anfragen, dem Abstrakten dieses Begriffes. Kann ich mein Leben auf diese Karte setzen? Trägt mich das? Gerade in einer Welt, die so viele sichtbare Kreuze hat, will die Osterbotschaft, will der tiefste Grund unseres Glaubens immer wieder errungen werden.
Genau wie damals auf dem Weg nach Emmaus: Auch für die Jünger war dieses Glaubenkönnen ein langer Prozess: Mit Reflexion über erlebte Grausamkeiten. Mit der Erinnerung an uralte Hoffnungsworte. Mit der Erfahrung, dass jemand in der Verzweiflung mitgeht und dadurch neue Perspektiven entstehen. Irgendwann ist das Feuer entfacht und sie bitten den noch Fremden, bei ihnen zu bleiben. Nach dem Teilen des Brotes können sie dann auch in Worte fassen, wie es dazu kam, das scheinbar Unmögliche doch zu glauben: Brannte uns nicht das Herz in der Brust?
Keine rauchenden Köpfe also, sondern brennende Herzen. Mit solchen ging es für Kleopas und seinen Gefährten noch in der Nacht nach Jerusalem zurück. In die gewohnte Welt. Aber erfüllt von einer Erfahrung, die ein ganzes Leben unter andere Vorzeichen stellen kann. Und die zugleich zerbrechlich bleibt. Die immer wieder Ermutigung und gegenseitige Vergewisserung braucht. Und manchmal auch sichtbare Zeichen. In der Fastenzeit haben wir hier in unserer Pfarrei die Eucharistie in den Fokus gerückt – mit vielen Fragen und manchen Zweifeln, aber auch mit der Erfahrung, dass das Teilen von Brot und Wein Menschen – wie damals auf dem Weg nach Emmaus – mit der Gegenwart Gottes in Berührung bringt.
Im Alltag geht es nun mit mal mehr und mal weniger brennenden Herzen weiter an den vielen Orten unseres Lebens. Genau dort muss Ostern sich bewähren: Kann ich – trotz allem – glauben, dass der Tod nicht das letzte Wort hat? Und wenn ja: Verändert das etwas in mir, mein Herz, auch wenn es manchmal nur für den Moment ist? Kann ich daraus Freiheit gewinnen? Oder Kraft, Dinge umzukrempeln?
Simone Kassenbrock
1. April
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Predigt an Ostern
zu Joh 20,1.11-18
Ein Wort nur – und alles ist anders. Kennen Sie das? Keine Belehrung, kein Nachhilfeunterricht, keine Diskussion – nichts dergleichen kann die Dinge so kraftvoll ändern, wie es in jenem Augenblick nur ein einziges Wort vermochte: „Maria“. Mit allem hatte sie gerechnet, dort in der Dunkelheit am Grab. Sie hatte sich sogar auf eine Diskussion mit dem vermuteten Gärtner eingelassen, wohin er Jesus denn gebracht habe. War sie doch einfach nur gekommen, um den, den sie liebte, noch einmal zu salben. Und ihn dann endgültig loszulassen. Aber er war nicht mehr da. Nicht mal den Leichnam hatten sie ihr gelassen.
Doch dann – dann hört Maria ihren Namen, und erkennt durch den Schleier ihrer verweinten Augen, was eigentlich nicht sein kann: Jesus lebt! Natürlich will sie ihn festhalten, ihn an sich ziehen, ihn in die Arme schließen. Doch das, das geht nicht mehr. Jesus lebt – das spürt sie. Aber ein Weiter so – unmöglich. Ostern ändert alles. Den Blick. Das Gefühl. Die Routine. Aber nicht einfach so. Damit das geschehen kann, brauche ich eine Erfahrung. Und diese Erfahrung heißt: Ich bin gemeint! Ich und mein Leben. Ich und mein Scheitern. Ich und meine Angst. Ich und meine Trauer. Ich und alle, die zu mir gehören. Ich muss Ostern erfahren. Nur – wie geht das?
Das ist eine gute Frage. Und die Antwort? Eine Antwort gibt es nicht. Aber ganz viele. Weil jeder, weil jede eigene Erfahrungen hat. Ähnliche und ganz andere. Wir könnten anfangen, uns davon zu erzählen. Einer würde vielleicht davon berichten, wie es sich anfühlt, wenn etwas Neues beginnt. Wenn trotz aller Schmerzen Heilung möglich wird. Oder eine ausweglose Situation plötzlich nicht mehr ausweglos ist. Eine andere würde aufstehen und davon erzählen, wie es sich anfühlt, kein Opfer mehr zu sein, sondern stark zu werden.
Wieder jemand anderes könnte davon berichten, dass er in diesen uralten Geschichten verrückterweise sein Leben wiederfindet. Dass er, selbst wenn es Noahs Arche nie gegeben hätte, genau weiß, dass man sie bauen kann – über den Scherben und Trümmern des eigenen Lebens. Und noch ein anderer erzählt von seiner Befreiungsgeschichte, von seinem Auszug aus dem Sklavenhaus, das bei ihm nicht Ägypten, sondern Alkohol heißt oder zerstörerische Beziehung oder sklavisches Sich-Kleinmachen. Und wieder jemand anderes erinnert sich, wie sehr ihn die Verheißung, dass alle Tränen abgewischt werden, am Leben gehalten hat, weil es nämlich nicht nur eine Verheißung war, sondern eine reale Erfahrung.
Und wenn wir schon mal beim Erzählen wären, stünde vielleicht noch jemand auf und sagte: „Wisst ihr was? Das, was die Jüngerinnen und Jünger damals erlebt haben, die es erst selbst nicht glauben konnten – dass Jesus lebt nämlich –, diese Leute haben am Ende alles auf eine Karte gesetzt, haben ihm geglaubt, haben ihm ihr Herz geschenkt – und haben so erfahren: Ostern ist kein Märchen. Ostern ist real. Ostern wirkt. Trotz allem! Und genau das – das glaube ich auch. Denn genau diese Kraft hat mich ergriffen. Und prägt mich. Und hält mich am Leben. Trotz allem.“
So könnte es gehen. Ich glaube sogar: Nur so kann es gehen! Wir wissen doch alle, wie es sich anfühlt, wenn einem der Karfreitag noch in den Knochen steckt oder der Karsamstag bleischwer alles unter sich begräbt. Wer kennt sie nicht, die Angst vor der Zukunft, die Angst vor Krieg und Terror? Es ist doch kaum noch auszuhalten, wie die Potentaten dieser Welt mit dem Leben ihrer Völker spielen, wie Menschen dahingemetzelt werden, wie ganze Regionen der Erde unbewohnbar werden. Und dann die vielen eigenen Fragezeichen. Der eigene Schmerz. Und der jener, die mir ganz nahestehen und denen ich nicht helfen kann.
Ostern kommt nicht auf Kommando. Auferstehung, Heilung, Zukunft – all das ist manchmal unendlich weit weg. Aber genau deshalb, ja, genau deshalb brauchen wir die Gegengeschichten – hineinerzählt mitten in die Karfreitags- und Karsamstagskatastophen unseres Lebens. Geschichten, die lebendig sind, weil Menschen sie erlebt haben. Geschichten, die lebendig sind, weil Sie sie erlebt haben. So wie Maria damals am Grab ihre Geschichte erlebt hat. Sie ist nicht vor dem Leben weggelaufen. Nein, sie hat die Finsternis ausgehalten. Und mittendrin, mitten in der Finsternis hat sie ein Wort gehört, das alles ändern sollte. Gesprochen von dem, der alles ändern konnte. Maria hat ihre Geschichte weitererzählt. Deshalb feiern wir heute Ostern. Und Ihre Ostergeschichte – wie geht die?
Alexander Bergel
30. März
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Predigt am Gründonnerstag
zu 1 Kor 11,23-26 und Joh 13,1-15
Es war ihm wichtig. Wirklich wichtig. Viel brauchte er nicht dazu. Einen Tisch. Brot und Wein. Und ein Herz voller Liebe. Ein Herz, das keine Grenzen akzeptiert. Nicht mal die Grenze des Todes. Ja, Jesus hat Grenzen überwunden. Immer wieder. Grenzen der Herkunft. Grenzen der Geschlechter. Grenzen des Denkens. Und so war bei ihm mit einem Mal alles möglich: Menschen am Rande standen plötzlich in der Mitte. Menschen ohne Durchblick konnten wieder sehen. Menschen mit verstopften Ohren nahmen plötzlich auch die Zwischentöne wahr. Menschen ohne Gesicht hatten plötzlich ein Ansehen.
Immer wieder hat Jesus Menschen eingeladen, mit ihm zu essen und zu trinken. Wer vorher auf klare Regeln stieß, die bestimmten, wer dazugehört und wer nicht, hört nun eine Frage: Möchtest du dabei sein? Viele haben Ja gesagt. Und dieses Ja hat ihr Leben verändert. Am letzten Abend seines Lebens lädt Jesus wieder ein. Diesmal den engsten Kreis. Er ahnt, nein: er weiß wahrscheinlich ganz genau, dass dieser Abend sein letzter sein wird. Es wird ein Abend des Abschieds. Ein Abend der letzten Worte. Ein Abend der letzten Zeichen. Ein Abend, der eine ganze Welt enthält: „Nehmt und esst, das ist mein Leib. Nehmt und trinkt, das ist mein Blut.“ Mit anderen Worten: „Seht her, meine ganze Liebe, alles, was ich bin und habe, meine Träume, meine Taten, mein Leben und mein Sterben auch – alles gebe ich in eure Hand.“
Später wird man fragen: Was bedeutet das: Leib und Blut? Wie kann, wie muss ich es deuten? Wie soll man ein Geschenk, in Liebe gegeben, anders deuten als: „Seht her: Hier bin ich! Und hier bleibe ich!“ Keine Magie, kein Zauber könnte das je erklären. Die Philosophie dahinter ist ganz einfach: „Mensch, ich bin und bleibe da, wo du bist! Wenn du mir vertraust, dann wirst du es erleben, das verspreche ich, du wirst erleben, dass du nicht ins Bodenlose fällst. Du wirst es erleben in deinen Ölbergnächten, da, wo du voller Angst und ganz alleine bist. Du wirst es erleben, wenn du dein Kreuz schleppst. Du wirst es erleben, wenn die Zahl der Gräber immer größer wird, an deren Rand du trauerst. Ja, du wirst es spüren!“
„Doch“, so viel Offenheit muss sein, an einem Abend wie diesem, einem Abend, an dem es ans Eingemachte geht, „doch, Jesus, was ist, wenn ich das, was du in dieses Brot und diesen Wein hineingelegt hast, einfach nicht (mehr) spüre? Was, wenn ich Brot und Wein zwar koste, aber mir das alles gar nichts gibt? Was, wenn ich gerne fühlen würde, dass du mein Leben trägst und dich mir schenkst – da aber gar nichts ist?“ Schon damals waren viele Fragen mit im Raum. Wer weiß: Vielleicht auch Fragen wie diese. Und vielleicht waren es auch solche Gefühle, die Jesus motiviert haben, noch einen Schritt weiterzugehen.
Er stand vom Tisch auf, nahm Wasser und bückte sich, hinein in den Dreck. „Wenn es so ist“, so höre ich ihn sagen, „wenn es so ist, dass du alles spürst, nur meine Liebe nicht, dann ist vielleicht die Zeit gekommen, dass auch du aufstehst – und etwas tust! Mach’s wie ich: Teile dein Leben! Und deine Liebe! Überwinde Grenzen! Mit einem Krug Wasser in der Hand, um dem, der dich braucht, die Füße zu waschen. Zeige ihm: Ich bin da für dich! Auch wenn‘s dir dreckig geht. Zeige ihm: Ich gehe mit dir Wege, von denen wir beide nicht wissen, wohin sie führen. Aber ich gehe mit! Und wenn der Weg zu lang wird, werde ich dir die Füße verbinden.“
Es gibt viele Wege, dem Geheimnis der Liebe Jesu auf die Spur zu kommen. Einer Liebe, die du dir auf der Zunge zergehen lassen kannst. Einer Liebe, die anpackt. Einer Liebe, die Hoffnung schenkt. Einer Liebe, die nicht wegläuft. Einer Liebe, die Grenzen überwindet. Am Ende sogar die Grenze des Todes.
Alexander Bergel
28. März
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Predigt am Palmsonntag
zu Mt 21,1-17.46
Zerrissener geht es kaum. Jubel hier, Ablehnung dort. Auf der Straße der erwartete Befreier, im Tempel der alles über den Haufen werfende Umstürzler. Jubelnde Massen draußen, auf Abwehr programmierte Priester drinnen. So war es damals in Jerusalem. Und der, um den es sich dreht – Jesus aus Nazareth, der Befreier, der Prophet, der Störenfried, der Zärtliche, der Zerstörer –, er steht da und fordert eine Antwort. Damals. Und heute auch.
Jesus lässt sich nicht abbringen von seinem Weg. Zu den Menschen führt dieser Weg. Ohne Kompromisse. Alles, was sich dem entgegenstellt, räumt er weg. Traditionen, die nicht mehr tragen, die hohl und leer, mitunter sogar falsch oder gar menschenverachtend geworden sind, genauso wie eine geschäftemacherische, gewinnmaximierende, die Sorgen der Menschen vergessende Wirtschaft und Politik. Kein Wunder, dass die Mächte des Marktes und die Mächtigen alle Zeiten sich schwer tun mit ihm.
Man könnte ihn laufen lassen. Reden lassen. Ein bisschen Heilen hier, ein wenig Aufmunterung dort – das stört nicht. Ist vielleicht auch ganz gut für die Schwachen, die Kranken, die, die es halt nicht bringen. Aber wehe, wenn aus diesem Gutmenschentum eine Bewegung wird! Wehe, wenn Menschen so berührt, so gekräftigt, so nachdenklich geworden sind und plötzlich so stark, dass die Worte und Taten Jesu Folgen haben!
Denn dann wird es gefährlich. Nicht nur für die Großen und Mächtigen. Nein, gefährlich wird es auch für mich. Dann nämlich, wenn diese Dynamik mich ergreift, wenn ich der Frage nicht mehr ausweichen kann: Was bist du bereit zu tun? Wir wissen es schon lange, aber Jahr für Jahr erinnert uns diese Woche daran: Jesus zu folgen, das hat Konsequenzen. Weil er selbst so konsequent war. Nicht nur reden, sondern handeln. Nicht nur von Gott sprechen, sondern ihm zur Stimme werden. Nicht nur an der Hülle kratzen, sondern zum Kern vordringen. Um diesen Kern geht es an diesen Tagen.
Wir erinnern uns an das, was war. Um zu verstehen, was ist. Was immer ist: Nähe und Distanz. Zuneigung und Ablehnung. Freundschaft und Verrat. Liebe und Hass. Schmerzen und Zärtlichkeit. Einsamkeit und Begegnung. Fragen und Antworten. Licht und Dunkel. Leben und Tod. Wir erinnern uns an den Weg Jesu. Und betrachten dabei unseren eigenen Weg. Unseren Weg mit all seiner Zerrissenheit. Denn das ist es doch, was uns oft so zu schaffen macht, oder? Dieses Zerrissen-Sein. Zerrissen zwischen Zustimmung und Ablehnung. Zerrissen zwischen Nähe und Abstand. Zerrissen zwischen Mut und Kraftlosigkeit. Zerrissen zwischen Ja und Nein.
Auch Jesus war zerrissen. Auch Jesus war nicht immer stark. Auch Jesus wusste nicht immer auf alles eine Antwort. Am Ende seines Lebens schreit er es heraus: Warum, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Selbst bei ihm, dem Gottessohn, tiefe Zerrissenheit! Doch dabei bleibt es nicht. Er, der nicht nur in die tiefsten Niederungen des Menschseins hinabgestiegen ist, um dort allen zu begegnen, die am Boden liegen, er ist in die tiefsten Abgründe auch seiner Seele hinabgestiegen, am Ende gar in die tiefsten Tiefen des Todes. Doch dort, genau dort, ist er dem Leben begegnet. Dem ursprünglichen, wahren, kraftvollen Leben.
Am Beginn dieser Woche, in der die Zerrissenheit der Welt, in der die Zerrissenheit unserer eigenen Existenz für alle sichtbar wird, irgendwo zwischen Hosianna und Kreuzige ihn, am Beginn dieser Woche und auch an deren Ende und zwischen den Zeilen auch, da leuchtet bereits etwas anderes auf. Ein Gefühl, nein, das wäre zu wenig – eine Kraft, ja eine Kraft, die mich packt und überwältigt und aufrichtet und heilt. Ich werde selbst kraftvoll, traue mich, Dinge zu benennen, breche heraus aus dem eigenen Panzer, sehe das Gute – trotz allem, was dagegen spricht -, freue mich am Leben und trete dafür ein. Ja, selbst der Tod macht mir dann keine Angst mehr. Was für eine Verheißung! Jesus ist diesen Weg gegangen. Warum sollten wir das dann nicht auch schaffen?
Alexander Bergel
24. März
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Predigt am 5. Fastensonntag
zu Joh 12,20-33
„Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde?“ Nein, das wird er nicht sagen. Jesus wird nicht sagen: „Ach, das hab ich eigentlich alles gar nicht so gemeint!“ Er wird sich nicht diskret zurückziehen und zur Ruhe setzen. Nein, Jesus geht seinen Weg. Bis zum bitteren Ende. Das fasziniert. Und irritiert gleichermaßen. Denn wer ist schon so konsequent? Wenige sind es. Was für ein Mensch also, dieser Jesus! Doch das allein ist es nicht, was fasziniert. Jesus scheint so sehr eins zu sein mit Gott, dass manche später sagen werden: In ihm ist mir Gott ganz nahe gekommen. In all die Fragen hinein, in alles Leid und Elend – ja, bis hinein in den Tod ist Gott mir ganz nahe gekommen.
Diese Ahnung hatten Menschen bereits zu Jesu Lebzeiten. Daher die Menschenmassen um ihn herum. Daher auch die Bitte der Griechen, von denen der Evangelist Johannes berichtet: „Wir möchten Jesus sehen!“ Groß ist die Sehnsucht nach der Begegnung mit Jesus. Die Leute wollten spüren, welche Kraft von ihm ausgeht. Von seinen Worten und Taten. Damals war es meist nur eine Frage der Logistik. Doch heute? Wie soll das heute noch gehen? Wie bekommen Menschen heute eine Ahnung davon, wer Jesus war? Berühren und anfassen geht ja nicht mehr. Nein, anfassen – das geht nicht mehr. Aber Berührt-Sein – das könnte schon noch gehen. Und damit kommen wir ins Spiel. Nur: Sind wir das überhaupt? Berührt? Jesus, Gottes und der Menschen Sohn, seine Botschaft, sein Sterben und Auferstehen – berührt uns das noch? So richtig, meine ich. Genau das müsste es aber! Wie sonst sollten sich suchende Menschen für diesen Gott interessieren? Warum sollten Menschen sich an uns wenden mit ihren Fragen, die ans Eingemachte gehen, wenn wir keine Beziehung mehr haben, keine Herzensbeziehung mehr zu diesem Jesus von Nazareth, keine Sehnsucht nach ihm?
Die Griechen damals, sie wollten Jesus sehen. Sie wollten wissen, wie Gott ist. Der erste, den sie fragten, wusste allerdings auch nicht so recht, was er tun sollte. Griechisch sprechen konnte Philippus zwar, aber mehr war nicht drin. Was macht er also? Weglaufen? Nein. Philippus holt sich Hilfe. Er schnappt sich den Andreas und führt die Gott-Sucher gemeinsam mit ihm zu Jesus. Entscheidend ist also zuerst einmal, dass ich nicht auf alles sofort eine Antwort haben muss. Entscheidend ist zuallererst, die Sprache der Menschen zu sprechen. So wie Philippus auf das zu hören, was Menschen wollen. Was ihr Anliegen ist. Wo ihre Sehnsucht steckt. Wenn ich das erst mal getan habe, dann kann es weitergehen. Und zwar in Richtung Jesus.
Leicht ist das nicht. Denn wer sich auf Jesus einlässt, merkt ziemlich schnell: Der fordert auch. Und zwar ganz schön. Jesus ist kein netter Onkel, der durch die Lande zieht und wage Absichtserklärungen unterschreibt. Im Gegenteil. Jesus steht mit seinem Leben dafür ein, was er gepredigt hat. Bis zum Schluss. Er hat gespürt: Es gibt keinen Weg am Leid vorbei. Nur durch das Leid hindurch. Das heißt: Auch ich muss mich entscheiden. Auch ich muss mich Fragen stellen. Auch ich muss mein Herz öffnen. Theoretisch hilft mir die Erinnerung an Jesus nicht weiter. Ich muss mich darauf einlassen. Ganz praktisch. Mit Haut und Haaren. Mit Herz und Verstand. Vor allem in den Krisen meines Lebens wird sich dann eines entscheiden: Ist mein Glaube etwas, das mich trägt – oder schleppe ich ihn nur noch so mit mir rum wie ein Zeitschriften-Abo, das man vergessen hat abzubestellen? Sie sind sich da grad auch nicht so sicher? Keine Sorge: Sie sind in guter Gesellschaft. Philippus – Sie erinnern sich –, der war sich auch nicht so ganz sicher. Hatte mehr Fragen als Antworten im Gepäck. Aber: Er hat sich entschieden. Und ging los. Zusammen mit Andreas. Machte sich auf Abenteuer-Reise. Ohne zu wissen, wohin ihn die führen würde. Im Herzen: Sehnsucht. Wissen Sie, was ich meine?
Alexander Bergel
17. März
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Predigt am 4. Fastensonntag
zu 2 Chr 36,14-16.19-23
„An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.“ So klagt Israel, das heimatvertriebene Volk, im Babylonischen Exil. Verschleppt, zerstreut, verachtet. Dieses Volk, dem Gott doch seinen Bund versprochen hatte – es ist am Ende. Ohne Mitte. Ohne Perspektive. Ohne Heimat. Und dann noch der Hohn der Verschlepper: „Na, wo ist er denn, euer Gott? Hat er euch vergessen?“ Ein Schlag ins Gesicht! Alle, die Gott folgen und ihn doch oft genug schmerzlich vermissen, wissen, wie sich das anfühlt – der Spott derer, die sagen: „Wie kann man nur so naiv sein! Bei allem, was in der Welt passiert! Und Du glaubst diese Märchen immer noch!“
„Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren!“ Trotz allem, ja trotz allem hält Israel fest an seinem Glauben. Auch wenn alles dagegen spricht: die Umstände, die Erfahrung, das Gefühl. Aber die Menschen geben nicht auf. Die Sehnsucht nach Gott, ja vielleicht auch nur die Sehnsucht nach der Sehnsucht hat dieses Volk am Leben gehalten. Siebzig Jahre hindurch. Ein ganzes Leben also. Aber – und jetzt wird es spannend – dieses Israel tut nicht das, was Menschen sonst recht gerne tun: Israel bleibt nicht in der Vergangenheit stehen. So sehr es die Erinnerung an vergangene Zeiten auch als kostbaren Schatz bewahrt – dabei bleibt es nicht. Und so machen die Menschen, mühselig und auch sicher nicht ohne Rückschläge, neue Erfahrungen. Plötzlich war der zerstörte Tempel in Jerusalem nicht mehr der einzige Ort der Gottesbegegnung. Gerade diese fürchterliche Zeit des Exils wurde zu einer besonders intensiven Zeit der Gott-Suche, des theologischen Nachdenkens – und zu einer Zeit der Gottes-Erfahrung.
Lange ist das her. Wir sind nicht vertrieben. Leben in Sicherheit. Alles in allem brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Obwohl – ja, wie ist das so mit unserem Glauben? Wie sicher können wir uns sein? Kann ich wirklich glauben, dass es diesen Gott gibt? Dass er einen Plan für mein Leben hat? Fällt es mir wirklich so leicht, diesem Gott mein Vertrauen zu schenken? Oder bin ich mir vielleicht doch nicht immer so ganz sicher? Die Vertreibung ins Exil – ist das manchmal nicht auch meine Realität? Dann, wenn die Sicherheiten schwinden, die bohrenden Fragen in mir laut werden oder das mitleidige Lächeln derer, die mich für einen Naivling halten? Zum Glauben gehören ganz offensichtlich die Zeiten, in denen alles ins Wanken gerät. Damals war es der festgefügte Tempel. Heute sind es festgefügte Zusammenhänge, die keine mehr sind. Vielen macht das Angst. Manche ignorieren das, machen weiter wie bisher – und merken am Ende doch, das das nicht trägt. Aber darum, ja vor allem darum ging es damals im Exil. Und darum geht es für Glaubende heute: Um die Frage nämlich: Was trägt mich? Noch besser: Wer? Lassen wir diese Frage wirklich an uns heran?
Alexander Bergel
10. März
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Predigt am 3. Fastensonntag
zu Joh 2,13-25
Das kann nur schief gehen. „Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten?“ Natürlich kann er das nicht. Aber er scheint daran zu glauben, dass es doch geht! Und er sollte Recht behalten. Siehe Ostern. Denn: „Er meinte den Tempel seines Leibes.“ Schön! Haben wir das Problem also auch gelöst. Nein, haben wir nicht! Denn wäre Jesus heute hier zu Gast, könnte er uns mit einem ganz ähnlichen Projekt heraus-fordern: „Reißt diese Kirche nieder, in drei Tagen werde ich sie wieder aufrichten!“ Die Antwort ließe sicher nicht lange auf sich warten. „Bei allem Respekt“, würden wir vielleicht etwas ehrfürchtiger antworten als die Tempeldiener damals, „aber das ist nun wirklich nicht möglich. Manche von uns kennen noch Menschen, die diese Kirche mitgebaut haben. Und was wir hier schon alles erlebt haben. Das willst du alles niederreißen? Nein, das ist keine gute Idee!“ Jesu Provokation wäre also gelungen.
Und damit sind wir beim Kern der Abriss-Diskussion angekommen. Bei der Frage nämlich: Was ist die Kirche, und wohin geht sie? Der Tempel in Jerusalem – 40 Jahre nach Jesu Tod und Auferweckung wurde er zerstört. Nur eine Wand blieb übrig. Die Klagemauer. Was aber bleibt von uns mal übrig? Eine Idee? Ein Museum? Die Erinnerung an vergangene Zeiten? Was ist los in der Kirche, in unseren Gemeinden? Die meisten können es vermutlich nicht mehr hören: Ihr seid verantwortlich für euren Glauben! An euch liegt es! „Ja, wir haben es verstanden!“, mag mir mancher zurufen wollen. Und ohne die vielen Männer und Frauen, Kinder und Jugendlichen würde in unseren Gemeinden doch auch nichts laufen. Das stimmt. Wo aber stehen wir in zehn oder 20 Jahren? Wie sieht das Gemeindeleben aus, wenn es in unserer Pfarrei nur noch einen oder – das ist sehr viel wahrscheinlicher – gar keinen Priester mehr geben wird und vielleicht zwei Gemeindereferentinnen?
„Was wird jetzt aus uns, Herr Bischof?“ Diese Frage haben Christen aus dem Bistum Poitiers in Frankreich ihrem Vorsteher vor zehn Jahren gestellt. Dort war die Situation damals schon ungleich schwieriger als bei uns. Es gibt dort fast kein pastorales Personal. Nur ein paar Priester. Altersdurchschnitt: 65. „Was wird jetzt aus uns, Herr Bischof?“ Seine Antwort: „Das, was ihr draus macht. Wir helfen euch, meine Priester und ich. Aber glauben und leben – das müsst ihr selbst!“ Nun muss man nicht denken, dass die Leute auf diese Antwort gewartet hätten oder alle „Theologie im Fernkurs“ studiert haben. Nein, es sind Menschen wie wir. Menschen, die auch nicht den ganzen Tag Zeit haben, sich um die Kirche zu kümmern. Es sind Menschen, die im Beruf stehen, Mütter und Väter, Alleinerziehende und Großfamilien, Alte und Junge, Intellektuelle und Arbeiter, Arbeitslose und Fabrikbosse. Aber alle diese Menschen wollen, dass die Kirche am Ort bleibt. Alle diese Menschen helfen dabei, dass ihre Gotteshäuser nicht geschlossen werden müssen. Alle diese Menschen erfüllen das Gebäude und vor allem die Idee von Kirche mit Leben.
„Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? Er aber meint den Tempel seines Leibes.“ Jesus sind die Strukturen, die Fassaden egal. Egal deshalb, weil sie nur helfen sollen, das Eigentliche, das Zentrum zu schützen. Keiner würde doch auch sein Haus neu streichen, wenn der ganze Keller unter Wasser steht und das Fundament bröckelt. Ob nun in Frankreich des Jahres 2015 oder in Osnabrück im Jahr 2030. Die Kirche, wie wir sie von früher kannten und auch wie wir sie jetzt erleben, wird es so nicht mehr geben. Das ist völlig klar. Noch ist in Osnabrück in der Mehrheit, wer christlich ist. Vor sechzig Jahren war in der Mehrheit, wer christlich war und zur Kirche ging. Der Blick auf Frankreich zeigt mir, dass diese Abbrüche aber keine Horrorszenarien sind. Ganz viel Neues entsteht. Aber wo es keine Menschen gibt, die dies wollen, ist auch die Kirche nicht mehr.
„Und was sollen wir jetzt tun?“ Wenn ich das mal wüsste! Das Schwierige ist ja, dass wir nicht das eine Kapitel Kirchengeschichte zuklappen und morgen ein neues öffnen können. Es laufen praktisch zwei Filme gleichzeitig. Und daher meine Bitte: Interessieren Sie sich auch für den neuen Film, dessen Inhalt wir noch gar nicht kennen. Seien Sie offen für Initiativen, die es auch jetzt schon bei uns gibt. Schlucken Sie den Satz runter, der uns so gerne auf der Zunge liegt: „Das haben wir ja noch nie so gemacht!“ Setzen Sie sich mit der Frage auseinander, warum Sie eigentlich da sind. Und rechnen Sie damit, enttäuscht zu werden. Viel Vertrautes wird verloren gehen. Aber Jesus Christus bleibt. Wenn Sie mitmachen, auch bei uns!
Alexander Bergel
3. März
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Predigt am 2. Fastensonntag
zu Gen 22,1-18 und Mk 9,2-10
Schlimmer geht’s eigentlich nicht: „Nimm deinen Sohn, den einzigen, den du liebst, und bring ihn als Brandopfer dar.“ Wie schrecklich! Und was für ein Gott! Selbst wenn wir wissen, wie die Geschichte ausgeht, dreht sich einem der Magen um. Gott stellt Abraham auf die Probe. Warum nur? Ist das Leben nicht schon grausam genug? Muss Gott jetzt auch noch einen draufsetzen? Der Weg des Abraham mit seinem Sohn Isaak zum Berg Morija ist eine der dunklen Geschichten des Alten Testaments. Wenn ich sie lese, spüre ich, wie fremd mir Gott sein kann. Viel Dunkles, viele Schatten und noch mehr Fragen tauchen auf: Was ist das denn für ein Weg, den Gott mit uns geht? Wie finde ich mich da wieder? Was tue ich, wenn ich mich völlig überfordert fühle? Wenn mich das, was mir begegnet, zu Tode ängstigt?
Abraham, der Mann des großen Vertrauens, geht ihn, seinen Weg. Durch alle Höhen und Tiefen des Lebens hindurch. Seine Zukunft ist zwar immer bedroht. Aber: Er vertraut. Er vertraut, dass Gott trotz allem einen Plan für ihn hat. Sein Sohn soll leben. Beide werden eine Zukunft haben. Am Ende wird also alles wieder gut. Manche Bibelwissenschaftler sagen: In dieser Erzählung wird eine heilsame Entwicklung verarbeitet: die Abschaffung der Menschenopfer nämlich, die Gott ganz und gar nicht will. Natürlich – so kann man diese Geschichte auch lesen. Und vermutlich ist es auch so: Gott hat keine Freude an Opfern, an Menschenopfern schon gar nicht. Er will unser Herz. Wer sich so in diese alte Erzählung hineinbegibt, der sieht Gott von einer ganz anderen Seite. Die Bibel als verarbeitete Erfahrung, als Entwicklung gar von grausamen Kulten zu einer Liebesbeziehung, zu einem Miteinander auf Augenhöhe.
Ja, das will uns diese Erzählung sicher auch sagen: Gott geht gegen das Grausame in dieser Welt an. Er geht sogar so weit, dass er es selbst mit all dem Grausamen aufnimmt, um es von innen heraus zu verwandeln. Er wird Mensch. Kommt selbst in diese Welt. Aber ist seither alles gut? Natürlich nicht. Es wird ein langer Weg bleiben. Ein Weg aber, auf dem es uns auch wie Schuppen von den Augen fallen kann, wie nah uns Gott so manches Mal gekommen ist. So nah, dass wir diesen Moment festhalten möchten – wie Petrus auf dem Berg Tabor: „Herr, ich will drei Hütten bauen. Lass dieses Glück doch niemals aufhören!“ Doch dieses Hochgefühl ist meist schnell wieder vorbei. Jeder, der mit Gott unterwegs ist, weiß das.
Geschichten wie die des Abraham mit seinem Sohn Isaak zeigen mir, dass alle Versuche, Gott zu begreifen, ins Leere laufen. Sie mahnen mich, den Mund nicht zu voll zu nehmen und zu sagen: So und so ist Gott, das will und tut er aus dem und dem Grund. Gott bleibt ein großes Geheimnis. Eines, das mich nicht bequem werden lässt. Wer mit Gott unterwegs ist, wird ihn immer spüren, diesen Stachel. Den Stachel der bohrenden Fragen. Den Stachel der Ratlosigkeit. Den Stachel des Zweifels. Aber dabei müssen wir nicht stehen bleiben. Auf dem Berg Morija zeigt sich Gott als der Verborgene, schwer Zugängliche. Auf dem Berg Tabor strahlt das göttliche Licht durch alles hindurch – eine Ahnung von Ostern macht sich breit. Und wir? Irgendwo dazwischen. Was meinen Sie: Auf welchem Berg sitzen Sie wohl gerade?
Alexander Bergel
25. Februar
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Predigt am 1. Fastensonntag
zu Gen 9,8-15 und Mk 1,40-45
Ob Jesus wohl geahnt hat, was das bedeutet? Ziemlich direkt nach seiner Taufe geht er in die Wüste. Um allein zu sein. Und um zu klären, was das heißt: Gottes Sohn sein. Genau das hatte er dort gehört, drüben am Jordan. Doch nun, nun sitzt er da. Ganz allein. In dieser Steinwüste, in der man nichts anderes hört als seinen Herzschlag … Alles, was mich ablenkt, alles, was ich mir suche, um ja nicht meinem Leben auf den Grund zu gehen – all das ist plötzlich weg. Nur noch in bin da. Ich ganz allein. Wissen Sie, wie sich das anfühlt?
Schön ist das nicht! In diesem Moment kommen sie nämlich mit voller Wucht – die gefürch-teten, oft verdrängten Fragen: Wer bin ich eigentlich wirklich? Wofür lebe ich? Was wäre, wenn es mich nicht mehr gäbe? Hat das alles überhaupt einen Sinn? Von jetzt auf gleich erwischt es einen manchmal. Gerne mal mitten im Urlaub. Oder an großen Festen. Diese Fragen überfallen mich, wenn ich wirklich alleine, ganz alleine bin. Oder aber im Kreis von ganz vielen Menschen. Mit diesen Fragen im Nacken ist man dann plötzlich trotzdem der einsamste Mensch der Welt.
Was tut man dann? Weglaufen? Sicher. Man kann alles wegdrängen. Weitermachen wie bisher. Sich einreden: „Ach, so schlimm ist das nicht. Die depressive Phase vergeht schon wieder!“ Man kann sich noch mehr Arbeit suchen. Oder Ablenkungen. Der Markt ist voll davon. Nur – irgendwann reicht das auch nicht mehr. Das Übermaß an Arbeit kann zum Herzinfarkt oder Burnout führen, die beste Party ist irgendwann zu Ende oder langweilig. Die zur Routine erstarrte Beziehung ist am Ende keine mehr, nur noch Gewohnheit. Und schnell ist man älter, als es einem lieb ist. Und dann?
Jesus war vierzig Tage in der Wüste. Er hat sich von Grund auf infrage stellen lassen. Er ist seiner Sehnsucht auf den Grund gegangen, hat sich in die Abgründe seiner Existenz hinein begeben. Jesus hat gekämpft. Mit all dem Destruktiven, Aggressiven, Verkorksten in der Welt – und in sich selbst. Er hat am eigenen Leib erfahren, was zutiefst zum Menschen gehört: die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, die Sehnsucht nach Freiheit und Zukunft, die Sehnsucht nach einem gelingenden Leben.
Wie lange zuvor bereits Noah, der sich durch die Wassermassen des Todes hindurch quält, kämpft sich Jesus durch die Abgründe des Zweifels, der Angst, des Alleinseins hindurch. Und fasst Mut. Mut, dem Leben mehr zu trauen als der Fratze des Bösen. Sich nicht aufzugeben, auch wenn Hitze und Sand den Durst unerträglich werden lassen. Jesus gibt nicht auf. Im Gegenteil. Nach dieser quälenden Wüstenerfahrung geht es bei ihm erst richtig los. Vermutlich konnte er seinen Weg nur gehen, weil er vor sich selbst nicht davon gelaufen ist. Er hat es geschafft. Hat Heil erfahren und weiter geschenkt. Das war die Geschichte von Jesus in der Wüste. Und bei uns – wie sieht’s bei uns aus?
Alexander Bergel
18. Februar
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Predigt am 6. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 1,40-45
„Jesus hatte Mitleid mit ihm.“ Dieser kleine Satz sagt eigentlich schon alles. Jesus lässt die Welt nicht kalt. Ganz im Gegenteil. Immer wieder mischt er sich ein. Immer wieder bewegt er die Herzen von Menschen. Immer wieder wendet er sich ihnen zu. Immer wieder stellt er sich auf die Seite der Schwachen. Immer und immer wieder. Wer sich die Evangelien der letzten Sonntage anschaut, könnte meinen, Jesus habe sein Leben lang nur Kranke geheilt. Langsam kann man es schon nicht mehr hören: Nach der Heilung des psychisch Kranken, dann der Schwiegermutter des Petrus und vieler Leute, „die an allen möglichen Krankheiten litten“, nun die Heilung eines Aussätzigen.
„Wir haben es ja verstanden!“, möchte mancher da vielleicht einwenden. Aber haben wir das wirklich? Haben wir wirklich begriffen, nicht nur vom Kopf, sondern auch mit Herz und Bauch, dass Jesu Hartnäckigkeit Methode ist? Gott rückt dem Menschen immer wieder auf die Pelle. Er meint mich. Mit allem Kranken. Mit allem Gebrechen. Mit aller Angst. Mit aller Sorge. Ich merke, mir tut es gut, mich daran erinnern zu lassen. Nichts anderes tun gläubige Juden bis heute, wenn sie sich immer und immer wieder daran erinnern, wie sie Gott – oft in tiefster Not – erfahren haben.
Auch wir können uns im Licht dieses Glaubens auf die Suche machen nach Gott, nach seinen Spuren in unserem Leben. Neugierig geworden? Dann lesen Sie diese Geschichten doch einfach mal nach. Beginnen Sie Ihre Schatzsuche beispielsweise mit dem Markus-Evangelium. Versetzen Sie sich in das Leben der Menschen, denen Sie da begegnen: den Schwachen und Zukurzgekommenen, den Erfolgreichen, den Kranken, den Gesunden, den Komischen, den Verrückten – all denen, die da sind. Vielleicht blicken Sie dort ja wie in einen Spiegel! Und sind mitten drin – in einem großen Abenteuer …
Alexander Bergel
11. Februar
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Predigt am Fest der Darstellung des Herrn
zu Lk 2,22-40
Gewartet hatten sie. Ein Leben lang. Der alte Mann und die alte Frau. Worauf? Auf nichts weniger als darauf, Gott zu begegnen. Und mit ihm dem wirklichen Leben. Doch halt – was heißt das: dem wirklichen Leben begegnen? Haben die beiden nicht schon ein ganzes, ein wirkliches Leben hinter sich? Haben sie. Vielleicht liegt genau darin auch der Schlüssel zur Frage, wie das mit Gott und dem Leben so ist. Ein aus religiöser Sicht reiches Leben bedeutet vielleicht gar nicht, Gott gefunden zu haben, es bedeutet, aus der Kraft der Sehnsucht heraus Tag für Tag und Nacht für Nacht auf der Suche nach ihm zu bleiben.
Simeon und Hanna, die beiden Alten, geben dieser Sehnsucht ein Gesicht. Und sie machen mir, dem noch nicht ganz so Alten, Mut: „Trau deiner inneren Stimme, die dir eine Richtung zeigt. Höre auf dein Herz, das dich spüren lässt, was dich am Leben hält. Suche Orte, die dir Kraft geben, wenn du dich unbehaust fühlst, weil alte Sicherheiten wegbrechen, weil Lebensentwürfe nicht mehr tragen. Traue der Macht der Liebe, die dir einen Blick schenkt für das, was dir am Wegesrand begegnet. Oder in unerwarteten Momenten. So wie bei uns. Damals im Tempel.“
Simeon und Hanna treffen auf ein kleines Kind. Und auf junge Eltern. Maria und Josef, sie tun das, was getan werden muss. Riten geben Sicherheit. Doch dann, mitten im Ritus, bricht eine neue Welt auf. Ein Mann erkennt in diesem kleinen Kind die Antwort auf seine tiefsten Fragen. Es ist keine theoretische Antwort. Kein Lehrschreiben, das sich da ausbreitet. Nein, ein Gesicht schaut ihn an. Und Simeons Gesicht, so stelle ich es mir mit Rembrandt vor, der es auf einzigartige Weise so gemalt hat, Simeons Gesicht beginnt zu leuchten. Denn seine Augen „haben das Heil gesehen“. Genauso Hanna. Jene Frau, die nach dem Tod ihres Mannes alles auf eine Karte gesetzt hat. Am Ende ihres Lebens erfährt sie: Es hat sich gelohnt. In diesem Augenblick spürt sie: Ich war nie allein.
Man muss nicht alt sein, um diese Erfahrung zu machen. Nur bereit, sich überraschen zu lassen von dem, was sich im oft mühsamen Alltagsgeschäft ereignen kann. Simeon und Hanna, sie zeigen mir, dass die Sehnsucht jung hält. Auch das ist Weihnachten.
Alexander Bergel
4. Februar
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Predigt am 4. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 1,21-28
Unangenehm muss das gewesen sein, damals in der Synagoge. Dorthin hatte er sich verkrochen, dieser arme Irre. Und jetzt wittert er seine große Stunde. Der Mann, der von einem unreinen Geist besessen war, beginnt zu schreien: „Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen?“
2000 Jahre später. Sonntagmorgen ist es. Wer in der Kirche sitzt, erlebt: Alles läuft schön nach Plan. Alles in allem angenehm, ja fast gemütlich. Was, wenn jetzt jemand käme, der das alles kaputt macht? Würden wir sofort die Polizei rufen oder solch einen Menschen „nur“ durch kollektive Verachtung strafen?
Jesus in der Synagoge reagiert so: „Er befahl: ‚Schweig und verlass ihn!’ Der unreine Geist zerrte den Mann hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei.“ Wer hätte das gedacht: Jesus lässt sich herausfordern. Er lässt sich in Frage stellen. Jesus ignoriert den Kranken nicht. Ganz im Gegenteil: Er nimmt ihn ernst. Und er geht noch einen Schritt weiter: Jesus nennt die Krankheit dieses Menschen beim Namen: Er vertreibt den unreinen Geist – wie es in der Sprache der Bibel heißt.
Immer mal wieder begegnen auch mir solche Menschen. Menschen, die krank sind. Krank im Kopf. Krank im Herzen. Und fast immer fühle ich mich schlecht: Wie gehe ich mit ihren Aggressionen um? Wie reagiere ich auf ihre Vorwürfe? Wie kann ich überhaupt mit denen reden? Wie verhalte ich mich gegenüber Alkohol- und Drogenabhängigen?
Solche Menschen, sie stellen mich in Frage. Meine schöne geordnete Welt! Sie konfrontieren mich mit dem Leben, wie es eben auch ist: krank, arm und elend. Heraus-Fordernd sind sie, diese Menschen – und das in einem doppelten Sinn: Sie fordern mich heraus, zu fragen: Was ist im Leben wirklich wichtig? Und sie zeigen mir: Mensch, auch dein Leben ist verletzlich. Auch du bist nicht nur stark.
Dass Jesus am Anfang seines öffentlichen Wirkens einen psychisch Kranken heilt, ist wohl kein Zufall. Seelisches Leiden, Besessenheit, Sucht – all das ist immer auch ein Anzeichen für die tiefe Sehnsucht nach Leben, nach Geborgenheit, nach Liebe – und letzten Endes auch nach Gott.
Obwohl wir Gott nie gesehen haben
– so der Theologe und Dichter Ernesto Cardenal –,
obwohl wir Gott nie gesehen haben,
sind wir wie die Zugvögel,
die – an einem fremden Ort geboren –,
doch eine geheimnisvolle Unruhe empfinden,
wenn der Winter naht,
eine Sehnsucht nach der frühlingshaften Heimat,
die sie nie gesehen haben
und zu der sie aufbrechen,
ohne zu wissen, wohin.
Vielleicht gehört das auch zu dem, was wir von den „Besessenen“ unserer Tage lernen können: Auf unsere Sehnsucht nach der frühlingshaften Heimat zu achten, die wir nie gesehen haben.
Traue ich mich das? Traue ich mich, meiner tiefsten Sehnsucht Raum zu geben? Nehme ich mich so, wie ich bin? Oder muss ich so sein, wie andere mich haben wollen? Kann ich mir eingestehen, schwach zu sein? Oder spiele ich immer den Starken? Jesus ist da ziemlich klar. Und wir?
Alexander Bergel
28. Januar
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Predigt am 3. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 1,14-20
Johannes sitzt im Gefängnis. Und Jesus legt richtig los. Andere wären vielleicht weggelaufen. Hätten gedacht: „Ich bleibe lieber zuhause. Alles viel zu gefährlich. Und überhaupt: Was kann ich schon tun? Die Mächtigen, die Starken, die Reichen, die da oben, alle diese Leute bestimmen, wo es langgeht. Ich habe keine Chance!“ So hat Jesus nicht gedacht. Im Gegenteil. Er ging seinen Weg.
Jesus hatte keine politische Mission, keine Agenda. Aber er hatte eine Vision: „Er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ Jesus hält nicht Ausschau nach dem, was irgendwann einmal kommen könnte. Nein, Jesus sagt: Jetzt ist die Zeit, in der Gott sich zeigt. Nicht irgendwann, jetzt!
Wenn wir in diesen Tagen immer wieder hören: „Nie wieder ist jetzt!“, dann bringt das auch etwas in Bewegung: Menschen stehen auf, weil sie dem rechtsradikalen Gedankengut, das sich immer unverhohlener in unserer Gesellschaft ausbreitet, die Stirn bieten wollen: Nie wieder Menschenverachtung! Nie wieder Selektion! Nie wieder Deportation! Nie wieder lebenswertes und lebensunwertes Leben! Ja, nie wieder ist jetzt!
Und auch dies hat etwas mit der Idee vom Reich Gottes zu tun. Denn Gottes Reich zeigt sich immer da, wo Menschen an einer neuen Welt mitwirken. Allerdings nicht an einer Welt mit reinem und unreinem Blut. Nicht an einer Welt der Herrenrasse und der Sklaven. Nicht an einer Welt, in der die einen über Leben und Tod bestimmen und die anderen dem wehrlos ausgeliefert sind. Nein, eine solche Welt hat mit Gott nichts zu tun. Wir haben sie erlebt, diese Welt. Mitten in Europa. Mitten in Deutschland. Das Gift dieser Weltsicht strömt wieder neu aus den Tiefen der braunen Abgründe an die Oberfläche.
Wer in der Spur Jesu unterwegs ist, wirkt mit an einer anderen neuen Welt. Wer in der Spur Jesu unterwegs ist, kann nicht anders, als sich dem braunen Giftschwall entgegenzustellen. Christinnen und Christen erfüllen im Eintreten für die Menschenwürde den Auftrag Jesu. Denn was er die Menschen seiner Zeit hat spüren lassen, gilt bis heute: Du, Mensch, bist geliebt. Und keiner hat das Recht, dir Fesseln anzulegen. Denn dein Leben ist kostbar. Egal, woher du kommst. Egal, was du leistest. Egal, wen du liebst. Punkt.
Jesus hat sich von der Macht der Potentaten, der Zerstörer, der Menschenverachter nicht beirren lassen. Er ist seinen Weg gegangen. Aber nicht alleine. Simon, Andreas, Jakobus und Johannes waren mit dabei. Genauso wie Maria Magdalena, Marta, Salome und Johanna. Und noch viele andere. Ich glaube, jetzt sind wir an der Reihe.
Alexander Bergel
20. Januar
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Predigt an Erscheinung des Herrn
zu Mt 2,1-12
Geschichten gehen immer weiter. Diese auch. „Als Herodes merkte, dass ihn die Sterndeuter getäuscht hatten, wurde er sehr zornig und er sandte aus und ließ in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten, genau der Zeit entsprechend, die er von den Sterndeutern erfahren hatte.“ Ganz gleich, ob es diesen Kindermord so konkret gegeben hat oder ob er nur illustrieren soll, wie Herodes von seinen Zeitgenossen erlebt wurde – eine Blutspur zieht sich durch seine Herrschaft, durch ein ganzes Land, durch eine ganze Geschichte. Und diese Blutspur – sie reicht bis in unsere Tage.
Was ist eigentlich los mit unserer Welt? Eine Blutspur des Misstrauens, des Hasses, der Polarisierung, wohin man blickt. Worum geht es den Radikalen überall auf der Welt? Jenen, die nicht bereit oder willens oder fähig sind, Argumente auszutauschen, gemeinsam nach Lösungen, nach Perspektiven, nach Wegen in eine gute Zukunft zu suchen? Es ist schwer zu sagen. Manchen geht es wirklich nur um das eigene Ich. Andere wollen den Hass, die Zerstörung, das Chaos. Und man wird sie vermutlich nicht ändern können. Umso wichtiger ist es dann aber, zu überlegen: Was wollen wir denn? Was ist unsere tiefste Sehnsucht? Und: Wie können wir helfen, dass sich die Wege des Heiles durchsetzen und nicht das Unheil der Narzissten, der Blender, der Verkürzer, der Polemisierer und Verführer?
„Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, siehe, da kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen.“ Ganz gleich ob es nun Könige waren oder Weise, ganz gleich ob es drei waren oder mehr, da waren Männer unterwegs – selbst das wäre egal, warum nicht auch Frauen? –, Menschen waren unterwegs. Haben sich auf den Weg gemacht. Weil sie gespürt haben: Es gibt da noch etwas anderes. Ja, es gibt da noch einen Anderen. Den zu suchen – das lohnt sich. Und so haben sie sich aufgemacht. Haben die Zeichen des Himmels richtig gedeutet – ohne zu wissen, wohin sie das führt. Sie haben das Alte hinter sich gelassen, denn das gab ihnen nicht mehr den nötigen Halt. Sie sind losmarschiert. Hitze am Tag, Kälte in der Nacht. Durch Gebirge und Täler. Gold der Liebe, Weihrauch der Sehnsucht, Myrrhe der Schmerzen – das hatten sie bei sich. Sonst nichts. Gold der Liebe, Weihrauch der Sehnsucht, Myrrhe der Schmerzen.
Und dann – die erste Adresse: Herodes. Wohin auch sonst, wenn man einen neuen König sucht? Aber da leuchtete der Stern schon nicht mehr. Und sie ahnten: Bei Herodes gibt es keine Ehrlichkeit. Und keine Zukunft. Seine Verschlagenheit war ihm wohl ins Gesicht geschrieben. Also: Weitergehen. Und dann finden Sie das Unerwartete. Dann finden Sie ein Kind. Und sie spüren. Das ist er! Und allen war klar: Das ist es! Ein neuer Anfang muss her. Die Begegnung mit dem verletzlichen Kind, die Begegnung mit ihrer eigenen Verletzlichkeit, die Begegnung mit dem ganz Neuen weckt Kräfte, macht Mut und schenkt die Fähigkeit, wieder zu träumen.
„Weil ihnen aber im Traum geboten wurde, nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land.“ Gott-Sucher und Friedens-Sucher aller Zeiten haben auf ihr Inneres gehört. Gott-Sucherinnen und Frieden-Sucherinnen aller Zeiten haben sich bewegen lassen. Und sind so Gott und seinem Frieden ganz nahegekommen. Gott-Sucher und Friedens-Sucherinnen aller Zeiten haben neue Wege gefunden, um das erfahrene Heil, den ersehnten Frieden dorthin zu bringen, wo Gott und sein Frieden am Nötigsten sind. „I have a dream – Ich habe einen Traum!“: Martin Luther King hatte diesen Traum. 1963 hat er ein ganzes Land damit bewegen und begeistern können. 2024 wartet darauf, dass Menschen einen solchen Traum leben. Anders gesagt: Geschichten gehen immer weiter. Diese auch?
Alexander Bergel
6. Januar
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Predigt an Silvester
zu Lk 2,16-21
„Und alle, die es hörten, staunten über das, was ihnen von den Hirten erzählt wurde.“ Was war es wohl, womit die Hirten die Leute so zum Staunen gebracht haben? Ging es nicht nur um ein Kind? Sicher, da war diese Stimme – mitten in der Nacht –, eine Stimme, die zu ihnen sprach: „Heute ist euch der Retter geboren!“ Wegen dieser Stimme waren sie losgelaufen, die Hirten. Der Retter ist da – das lässt sich auch keiner zweimal sagen.
Doch dann, angekommen im Betlehem, im Stall – was finden sie da? Nichts Großartiges, Königliches – nein, ein ganz normales Kind. Es sah aus wie jedes Neugeborene. Und hörte sich vermutlich auch so an. Aber als sie wieder weggingen, hinein in die tiefe Nacht, da waren die Hirten nicht mehr dieselben. Allen erzählten sie von dieser Begegnung. Vielleicht mit leuchtenden Gesichtern. „Und alle, die es hörten, staunten.“
„Ein neugeborenes Baby ist wie der Anfang aller Dinge, es ist Staunen, Hoffnung und Traum aller Möglichkeiten.“ So bringt es die amerikanische Pädagogin Eda LeShan auf den Punkt. „Ein neugeborenes Baby ist wie der Anfang aller Dinge, es ist Staunen, Hoffnung und Traum aller Möglichkeiten.“ Vielleicht hatten die Hirten von damals die Gabe, in diesem Neugeborenen wirklich das zu sehen, was Gott ihnen zeigen wollte: Ein neuer Anfang ist gemacht! Eine neue Hoffnung ist mit Händen zu greifen! Ein Traum wird wahr, denn alles ist wieder möglich!
Wer sich darauf einlassen kann, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und kann anderen etwas von seiner Kraft abgeben. Vermutlich gehört auch dies zum Geheimnis der Nacht von Betlehem und macht sie zur heiligen, zur heilenden Nacht: Menschen hören in tiefster Dunkelheit eine unglaubliche Botschaft. Sie gehen los. Sie treffen auf jemanden, der sie staunen lässt und so anrührt, dass sich ihre Sicht auf das Leben ändert und sie dann voller Mut und Hoffnung nach Hause zurückkehren lässt.
Lange ist das her. Und heute? Was führt heute dazu, dass Menschen ins Staunen geraten? Was führt heute dazu, dass Menschen sich nicht überwältigen lassen von der so oft alles bestimmenden Dunkelheit? Was führt heute dazu, dass Menschen sich aufmachen und nach neuen Wegen suchen? Drei Fragen. Ich meine sogar: drei Überlebensfragen. Für jede, für jeden einzelnen. Und für uns als Gemeinde. Zumindest dann, wenn wir eine wirkliche Zukunft haben wollen.
Frage 1: Was führt heute dazu, dass Menschen ins Staunen geraten? Wir versammeln uns zur Feier des Gottesdienstes. Am Sonntag. In der Woche. Zu den Festen. Am Lebensanfang und am Lebensende und zu anderen besonderen biografischen Anlässen. Was zieht uns eigentlich noch hierhin? Früher war – um mit Loriot zu sprechen – nicht nur mehr Lametta, früher waren auch die Kirchen voller als sie es heute sind. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat die Zahl derer, die Gottesdienste mitfeiern, um 50 % abgenommen. Vielleicht haben sie gemerkt: „Das gibt mir nichts mehr.“ Manche haben sogar entdeckt: „Das hat mir noch nie etwas gegeben, und darum bleibe ich weg.“
Die zusammenbrechende Volkskirche führt unweigerlich zur Frage: Warum bin ich eigentlich noch da? Was zieht mich her? Und weiter: Kann ich noch staunen über das, was wir hier feiern? Berührt mich die Botschaft vom menschgewordenen Gottessohn immer noch? Oder zumindest doch immer mal wieder? Und: Gibt mir das, was ich hier erlebe, was ich feiere, Kraft? Macht es mir Mut für mein Leben? Und noch tiefer gefragt: Was bedeutet mir eigentlich die Eucharistie? Sind Brot und Wein wirklich so eine Art Lebensmittel, das mich mit allen Sinnen erfahren lässt, wie nahe Gott mir kommen will?
Wir werden uns im nächsten Jahr intensiv mit diesen Fragen beschäftigen. In der Fastenzeit gibt es dazu in St. Franziskus ein vielfältiges Angebot. Einzelne Stationen zum Nachdenken und Ausprobieren, Gesprächsangebote und Diskussionsforen, ein geistlicher Tag zum Thema Eucharistie, eine Predigtreihe und manches mehr für große und kleine Menschen. Ein besonderer Akzent: Wir laden Sie ein, bei Ihnen zu Hause Eucharistie zu feiern. Im kleinen Kreis. Ein paar befreundete Familien oder Nachbarschaften oder ganz andere Zusammensetzungen. So, wie sie mögen. Vielleicht hilft das dabei, die Mitte dessen, warum es uns eigentlich gibt, noch einmal viel unmittelbarer zu erleben.
Frage 2: Was führt dazu, dass Menschen sich nicht überwältigen lassen von der oft so alles bestimmenden Dunkelheit? Wer sich umschaut, sieht oft nur noch Not und Elend, Menschen, die sich nicht mehr zu helfen wissen, verängstigte Kinder, Jugendliche und Erwachsene, zerstörte Beziehungen, selbstherrliche Potentaten, Menschen, die über Leichen gehen, taktierende, manipulative Typen, denen man nicht mehr trauen kann. Viele ziehen sich zurück in ihre eigene verschwurbelte Welt, greifen zu rassistischen, antisemitischen, menschen-verachtenden Parolen, schießen wild um sich – mit Worten und Waffen. Was können wir dem entgegensetzen? Jede und jeder einzelne, wir als Gemeinde?
Auch wir als Kirche haben versagt: Stichwort Missbrauch, Stichwort Diskriminierung, Stichwort Macht. Müsste man eine christliche Gemeinde nicht vor allem daran erkennen, dass dort alle ihren Platz finden können? Eine Gemeinde sollte ein Ort sein, an dem Menschen unkompliziert geholfen wird. Wo sie Vertrauen erfahren. Wo sie angstfrei leben können. Wo sie sich mit ihren Talenten einbringen können. Ein Ort, an dem jede und jeder so sein kann, wie er, wie sie ist. Egal, woher er kommt, egal, wen sie liebt, egal, welche Vergangenheit man hat.
Eine der wichtigen Fragen für das kommende Jahr, meine ich, wird sein: Wie können wir noch mehr unseren Beitrag dafür leisten, dass Menschen zusammengeführt werden? Welche Projekte für Kinder und Jugendliche, für Alleinlebende, für Menschen in prekären Situationen, für alte Menschen können wir verstärken oder neu ins Leben rufen?
Frage 3: Was führt heute dazu, dass Menschen sich aufmachen und nach neuen Wegen suchen? Im November haben wir mit einer Zukunftswerkstatt begonnen, in der es um St. Franziskus geht. Ende Januar werden wir uns ein zweites Mal intensiv mit dieser Frage beschäftigen. Die Franziskuskirche mit ihrer bis ins kleinste Detail durchdachten Architektur aus den 1960er Jahren ist die steingewordene Idee einer „Kirche mitten unter den Menschen“. Ein großer Wurf in damaliger Zeit. Ein visionärer Aufbruch. Vieles ist seither geschehen. Wir spüren, nicht erst seit gestern, dass wir mitten in einer Zeitenwende stehen. Das, was war, ist vorbei. Ein für alle Mal. Das, was kommt, liegt noch im Verborgenen.
Vieles von dem, was war, ist ein großer Schatz. Doch nun heißt es, neue zu Wege gehen. Und dabei kann uns die Vision der Erbauer dieser Kirche helfen. Rudolf und Maria Schwarz waren keine Baumeister für etwas, das auf immer so bleiben müsste. Immer wieder haben sie sich inspirieren lassen von den Fragen der Zeit. Und nach neuen Antworten gesucht. Dies ist nun unser Auftrag.
Wir machen uns auf die Suche danach, wie ein solch großartiges Gebäude mit seiner Geschichte Inspirationsquelle für die Zukunft sein kann. Sonst wird St. Franziskus irgendwann zu einer leblosen Hülle. Wenn wir mutig genug sind und auf das schauen, was in diesen Zeiten unser Beitrag sein kann für ein gelingendes Miteinander in unserer Stadt, werden wir auch Antworten finden. Da bin ich mir ganz sicher.
„Ein neugeborenes Baby ist wie der Anfang aller Dinge, es ist Staunen, Hoffnung und Traum aller Möglichkeiten.“ Was die Hirten damals in Betlehem gesehen und erlebt haben, was sie mit nach Hause nehmen und anderen weitersagen konnten – das ist Ursache und Grundlage einer jeden Gemeinde. Wenn auch wir staunende und hoffende Menschen bleiben, die zu träumen wagen, dann blicken wir in keine düstere Zukunft. Ganz im Gegenteil: Wir haben so viele Möglichkeiten für ein gutes neues Jahr 2024. Meinen Sie nicht auch?
Alexander Bergel
31. Dezember
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Predigt an Weihnachten
zu Lk 2,1-15
Ein Kind erblickt das Licht der Welt. Tiefe Nacht. Heller Stern. Hirten. Engel. Ochs und Esel. Und der Stall. In Betlehem, der alten Königsstadt. Die ganz große Bühne also. Mehr geht nicht. Das hat Menschen fasziniert. Immer schon. Und immer wieder. Und so machen sich immer noch viele auf den Weg, um das zu feiern. So wie Sie auch. Nur warum? Was veranlasst Menschen, den Geburtstag eines Kindes zu feiern, das man persönlich gar nicht kennt? Oder anders gefragt: Warum sind Sie heute eigentlich hier?
Ist es die Erinnerung an alte Zeiten, die Sie hierherkommen lässt? Die Erinnerung an Zeiten, in denen die Welt noch in Ordnung war? (Wermutstropfen Nummer 1: Die Welt war eigentlich nie wirklich in Ordnung.) Ist es die Sehnsucht nach Frieden? (Wermutstropfen Nummer 2: Der größte Unfrieden geht von Menschen aus, die sagen, sie seien religiös.) Oder ist es die Hoffnung, dass doch wenigstens einmal im Jahr nicht die Angst die Oberhand behält, nicht die Kälte, nicht die Krise, nicht der Tod? (Wermutstropfen Nummer 3: Auch heute machen sich Menschen das Leben gegenseitig zur Hölle. Auch heute hören mehr Menschen Kanonengetöse als Engelsgesang.)
Jeder kennt sie: die Argumente gegen das Heile, gegen den Frieden, gegen die Hoffnung. Weihnachten feiern heißt, diesen starken Argumenten etwas noch Stärkeres entgegen-zusetzen: Die Erinnerung an das, was gut war. Die Sehnsucht danach, dass Heilung und Frieden möglich sind. Und die Hoffnung, dass mein Leben einen Sinn hat. Und zwar nicht, indem wir uns zum Jahresende ein bisschen Zuckerguss über den grauen Alltag schütten, sondern indem wir die Geburt eines Menschen feiern, der in seinem ganzen Leben – von der Krippe bis zum Kreuz und über den Tod hinaus – genau das gelebt hat, wonach sich so viele so sehr sehnen.
Als Jesus den Kinderschuhen entwachsen war, hat er die Nähe der Menschen gesucht – vor allem die Nähe derer, die am Rande standen, die ohne Ansehen waren, ohne Perspektive, fast immer kraftlos, oft am Boden zerstört – und ihnen gesagt: „Auch wenn du es selbst nicht spürst, weil du krank bist oder einsam, weil du von allen verachtet wirst oder am Rande des Todes dahinvegetierst – glaube mir: Dein Leben hat einen Sinn! Wenn deine Erfahrung dich lehrt: Keiner will mich! – lass dir gesagt sein: Das stimmt nicht! Und wenn du meinst, deine Sehnsucht nach Heilung und Frieden wird doch nie erfüllt – ich sage dir: Du wirst die Fesseln des Todes abschütteln.“
Natürlich kann man die Bibel und mittendrin die Jesusgeschichte als ein phantastisches Märchenbuch lesen, in dem Lahme gehen, Blinde sehen und Taube wieder hören können. Man kann das alles mit einer Hand wegwischen und sagen: Schöne Geschichten, aber mich berühren die nicht! Kann man. Man kann aber auch einen anderen Weg gehen. Und sagen: In diesen Geschichten steckt solch eine revolutionäre Kraft, dass sie auch nach Jahrtausenden noch erzählt werden! Und immer noch hören Menschen zu. Und immer noch treten Menschen in die Fußstapfen Jesu und strafen jene Lügen, die Religion dazu benutzen, anderen die Hölle heiß zu machen.
Weihnachten feiern bedeutet: Sich ergreifen zu lassen von einem Gott, der bis zum Äußersten gegangen ist. Der mitten in die Welt hineinkam, um neue Maßstäbe zu setzen. Der Mensch wurde, um zu zeigen: Frieden ist möglich. Würde ist möglich. Liebe ist möglich. Rückschläge gab und gibt es zuhauf. Irrwege, Umwege, Abgründe. Die Welt ist voll davon. Bis heute. Aber wenn wir aufhören würden, Weihnachten zu feiern, würden wir aufhören, an das Gute zu glauben. Wir würden aufhören, Gott eine Chance zu geben. Wir würden aufhören, daran zu glauben, dass wir nicht am Abgrund stehen, sondern Gott auf unserer Seite haben, komme, was kommen mag. Kurz: Weihnachten feiern heißt: Dem Leben, der Liebe, dem Frieden eine Chance zu geben. Sind Sie vielleicht genau deshalb hier?
Alexander Bergel
24. Dezember
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Predigt am 3. Adventssonntag
zu Jes 61, 1-2a.10-11
Die Predigt von Gregor Kleine-Kohlbrecher
finden Sie hier.
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Predigt am 2. Adventssonntag
zu Jes 40,1-5.9-11
Die Predigt von Gisela Schmiegelt
finden Sie hier.
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Predigt am 1. Adventssonntag
zu Jes 63, 16b-17.19b. 64, 3-7
Die Predigt von Maria Schmiegelt und Andrea Tüllinghoff
finden Sie hier.
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Predigt am Christkönigsfest
zu Ez 34,11-12.15-17a und Mt 25,31-46
Gibt es eine Gerechtigkeit? Spontan gefragt, würden wohl viele antworten: Nein. Es trifft doch eh immer die Falschen. Da arbeitet einer sein Leben lang gerne und gut – und plötzlich sitzt er mit 53 Jahren auf der Straße. Betriebsbedingte Kündigung. Nicht mehr vermittelbar. Da hält eine Frau ihr Leben lang die Familie zusammen, denkt an sich immer zuletzt – und von einem Tag auf den anderen lässt der Mann sie sitzen. Wegen einer anderen. Als die Frau dann irgendwann zur Flasche greift, ist sowieso alles klar: Der arme Mann! Da ist einer in schlimmen Verhältnissen groß geworden, hat es mit Müh und Not geschafft, seinen Hauptschulabschluss zu kriegen – und dann erwischt ihn die Polizei beim Drogendealen. „Wenn du cool sein willst, dann machste das!“, hatten ihm seine angeblichen Freunde zugeflüstert. Und die Nachbarn sehen sich bestätigt: „Wir haben‘s ja immer schon gewusst!“
Gibt es eine Gerechtigkeit? Nicht sehr oft. Sicher, das Leben ist hart. Und die Gesetze des Überlebens haben wir auch nicht gemacht. Wir versuchen ja nur, uns darin zurecht zu finden. Natürlich wollen alle eigentlich ganz anders sein. Aber: Geld regiert nun mal die Welt und der Stärkere wird überleben. Mag sein. Mindestens einem geht das allerdings gehörig auf den Geist: „Ich sorge für Recht zwischen Schaf und Schaf.“ Nicht mehr und nicht weniger. Schöner Gedanke, den Gott da dem Propheten Ezechiel kundtut. Aber wie will er das denn tun? Oder anders gefragt: Wo bleibt denn Gottes Gerechtigkeit, wenn Menschen unverschuldet in Armut geraten? Wo bleibt Gottes Gerechtigkeit, wenn Neid und Missgunst ein Leben zerstören? Wo bleibt sein machtvolles Eintreten für Recht und Gerechtigkeit in einer Welt, die immer kälter zu werden droht? Ich frage mich das schon gelegentlich. Mitten in diese Frage aber platzt die Antwort Jesu: „Was ihr für einen meiner ge-ringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ Und: „Was ihr für eine meiner geringsten Schwestern nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan!“ Schön und gut. Es ist ja be-kannt, dass Jesus sich so sehr mit dieser Welt identifiziert, dass alles, was wir einander tun und antun, ihn berührt. Aber trotzdem: Wo bleibt die Gerechtigkeit? Sieht die so aus, dass am Ende die Bösen schon ihr Fett weg kriegen, die Guten belohnt werden und dann das Heulen und Zähneknirschen im Jenseits weitergeht – nur mit vertauschten Rollen? Vielleicht ist es so. Zumindest für alle, die sich einen Dreck um Gerechtigkeit scheren, für die Ehrlichkeit und Treue Fremdwörter sind. Ich bin mir sicher: Am Ende fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen, wie sinnlos ihr Leben war …
Genau davor aber will Jesus uns bewahren: „Mensch, dreh dich nicht nur um dich selbst! Mensch, kümmre du dich um Gerechtigkeit und Liebe. Da, wo du bist. Mensch, gib weiter von dem, was du geschenkt bekommen hast! So kommst du Stück für Stück meinem Traum von dieser Welt näher. So erfährst du, dass am Ende nicht der Skrupellose triumphiert. So kannst du helfen, dass der Schwache doch noch eine Chance bekommt. So bereitest du meinem Reich den Weg. Dem Reich der Wahrheit und des Lebens, dem Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens.“ Zugegeben, hört sich verlockend an. Und so schön einfach! Aber was ist denn nun mit dem 53-jährigen Arbeitslosen, der verlassenen Ehefrau und dem straffälligen Jugendlichen? Gute Frage! Gegenfrage: Was hindert uns daran, ihnen zu helfen? Ihnen die Gerechtigkeit zu geben, die sie verdienen? Vielleicht reicht als erstes das Überdenken eigener Vorurteile, das Abstellen der kleinen Lieblosigkeiten oder das Überwinden der eigenen Angst. Ein erster Schritt wäre das zumindest. Ein Schritt auf dem Weg zu einer gerechten Welt. Und ob wir es nun glauben können oder nicht – den Rest, den erledigt ein anderer. Hoffentlich.
Alexander Bergel
26. November
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Predigt am 33. Sonntag im Jahreskreis
zu 1 Thess 5,1-6 und Mt 25,14-15.19-21
„Während Menschen sagen: Friede und Sicherheit!, kommt plötzlich Verderben über sie wie die Wehen über eine schwangere Frau, und es gibt kein Entrinnen.“ Was Paulus da beschreibt, kennen viele nur allzu gut. Manches Unglück kommt wirklich von jetzt auf gleich, ein anderes deutet sich langsam an, aber es fehlt die Kraft, was dagegen zu tun. Und dann sitzt man da – „und es gibt kein Entrinnen“: Arbeitslosigkeit – Armut – Sucht – Depression – Überfordert-Sein mit den pflegebedürftigen Eltern – Einsamkeit – Kinder, deren Eltern nie Zeit haben – Feindschaft und Intrigen in der Familie – Angst vor der Zukunft.
Das sind nur einige Schlagworte. Dahinter aber steht immer ein Schicksal, meist das einer ganzen Familie. Und dann geht das Drama ja oft auch noch weiter: Niemand darf es erfahren! Was sollen denn die Nachbarn sagen. Oder die Kollegen. Oder Schwiegermutter. Oder die Freunde in der Schule. Und so beginnt ein oft jahreslanges, vielleicht sogar lebenslanges Versteckspiel …
Als wenn die Realität nicht schon anstrengend genug wäre, stellen uns die letzten Tage des Kirchenjahres das mindestens genauso anstrengende Bild vom wiederkommenden Christus vor Augen. Okay, wir haben uns in den vergangenen zwei Jahrtausenden ganz gut daran gewöhnt, dass wir wohl nicht unmittelbar vor der Apokalypse stehen, die mit Christi Wiederkunft Hand in Hand ginge. Und so lebt es sich meist auch ganz entspannt. Aber tun wir mal so, als wäre es wirklich bald so weit. Als hätten wir das Ende der Welt vor Augen. Vor allem aber auch die Chance, doch noch das Beste aus unserem Leben zu machen. Was könnte das wohl sein?
Um Talente würde es da sicher gehen. Um das, was ich kann. Und um Ehrlichkeit. Warum auch sollte ich dann weiter vor mir weglaufen, vor meinen Problemen und Ängsten? Ich könnte in die nötigen Konflikte gehen, mich auseinandersetzen, Leuten meine Meinung sagen und die anderer ertragen, ohne mich beleidigt abzuwenden. Vielleicht würde mir der Gedanke, dass die üblichen Muster – immer weiter, immer höher, immer reicher, immer schöner – keinen Sinn mehr machen, eine nie gekannte Gelassenheit schenken. Plötzlich wäre klar, wie sinnlos vieles von dem ist, was ich bislang unbedingt haben wollte.
Es ist schon verrückt – wir alle wissen doch ziemlich genau, wovon wir leben und worauf es wirklich ankommt. Und trotzdem brauchen wir immer wieder die Erinnerung daran. Zu biblischen Zeiten waren es gerne mal die Bilder vom Weltuntergang. Heute machen uns eher die großen und kleinen Katastrophen des Alltags Angst. Beides ist nicht nur anstrengend, sondern immer auch lebensbedrohend: der Weltuntergang am Ende des Lebens genauso wie die Weltunter-gangsstimmung am Ende des Monats, wenn das Konto leer ist, die Kinder aber trotzdem Hunger haben.
Egal vor welchem Weltuntergang der Einzelne auch steht – er muss bestanden werden. Alle Krisen, in die Menschen geraten, sagen: Tu was! Wenn du es nicht selbst schaffst, such dir Verbündete. Lauf aber nicht weg! Geh mitten rein! Trau dich! Oder um es apokalyptisch zu sagen: Mensch, heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens! Mach was draus!
Alexander Bergel
19. November
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Predigt am 32. Sonntag im Jahreskreis
zu Mt 25,1-13
Ganz ehrlich: Warum geben sie nicht etwas ab von dem, was sie im Überfluss haben? Ein bisschen wirken die reichlich mit Öl versorgten Jungfrauen wie der Typ Schüler, der nicht gerne abschreiben lässt, oder? Sympathieträgerinnen sehen jedenfalls anders aus. Oder ist es vielleicht doch nicht so, wie es scheint?
Anders gefragt: Was heißt denn eigentlich „töricht“? Vielleicht ist damit eine Lebenseinstellung wie diese gemeint: „Ach, mal schauen, was kommt! Irgendjemand wird’s schon richten!“ Führt das vielleicht dazu, am Ende mit leeren Händen dazustehen?
Nächste Frage: Wie lässt sich das verhindern? Indem man eben nicht darauf wartet, dass andere mein Leben leben. Indem ich mich vielleicht nicht ständig, aber doch immer mal wieder frage: Was ist wirklich wichtig? Wie geht es, das Leben? Wer oder was gibt mir Halt? Und vielleicht auch: Welche Rolle spielt Gott dabei?
Es gibt Momente im Leben, da muss ich mich entscheiden. Da spüre ich: Ich kann mir nicht immer alle Türen offenhalten. Mal hier, mal dort, mal sehen, vielleicht, es könnte ja sein … Irgendwann sind die Türen nämlich zu.
Andererseits heißt Leben aber auch nicht, dass alles immer perfekt geplant sein muss und ich mit Anfang 20 schon wissen muss, wo ich meinen Ruhestand verleben werde. Sich ausprobieren, feiern bis zum Umfallen, unvernünftig sein dürfen – all das gehört auch dazu.
Aber: Am Ende kommt in der Regel keiner, der mich wachküsst. Oder aus einem Frosch einen Prinzen macht. Oder alle meine Probleme löst. Nein, diesen Weg muss ich selber gehen. Allerdings nicht allein! Jesus lockt mich, fordert mich heraus – auch mit Beispielen wie dem der zehn ungleichen Jungfrauen. Damit ich erkenne, was alles in mir steckt.
Mit anderen Worten: Sei mutig! Entdecke immer mehr, was dich am Leben hält. Dann brauchst du nicht von dem zu leben, was andere können oder tun. Denn das wäre nur geliehen. Lebe dein Leben! Und wann geht’s los? Am besten heute noch!
Alexander Bergel
12. November
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Predigt am 31. Sonntag im Jahreskreis
zu Mt 23,1-12
„… denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen.“ Ein vernichtendes Urteil. Und sofort fallen uns ziemlich sicher Menschen ein, auf die diese Einschätzung zutrifft. Meistens sind es „Die da oben“. Die da oben, die in ihren Elfenbeintürmen sitzen und den Eindruck erwecken, ziemlich genau wissen, was richtig ist und was falsch. Vor allem im religiösen Betrieb ist das so. Damals zur Zeit Jesu. Und heute natürlich auch.
„Hört auf das, was sie sagen, richtet euch aber nicht nach dem, was sie tun!“ Ein vernichten-deres Urteil könnte es kaum geben. Und Jesus hat Recht. Wie oft begegnet man der Doppelmoral: Wasser predigen und Wein trinken. Wie oft passen Botschaft und Leben nicht zusammen. Wie oft ist persönliche Eitelkeit stärker als der Blick für den anderen …
Die Worte Jesu wollen aufrütteln. Aber eben nicht nur die da oben. Jesus klopft auch bei uns an. Bei uns, die wir doch alle meist nicht wirklich viel zu sagen, zu lehren oder zu entscheiden haben. Oder vielleicht doch? Denn wie ist das so in meiner Familie? Bei meinen Freunden, bei den Kollegen oder Nachbarn? Wie ist das dort, wo ich lebe? Mit meiner Echtheit, mit meiner Selbstzufriedenheit? Wie ist das mit meiner Kritikfähigkeit, mit meiner Liebe?
Die da oben machen nicht immer alles richtig. Und manchmal muss man sie auch an das ein oder andere erinnern. Was aber wäre, wenn wir fürs erste mal bei uns nachschauen?
Alexander Bergel
5. November
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Predigt am 29. Sonntag im Jahreskreis
zu Mt 22,15-21
Steuern sind eine heikle Sache. Das war schon immer so. Und es wird so bleiben. Aber dieses Fass mache ich heute nicht auf. Denn die Pharisäer sprechen das eher sensible Thema zwar an, am Ende geht es aber um etwas ganz anderes. Nicht um die Frage, ob Gott an erster Stelle steht oder der Kaiser – nein, sie wollen Jesus austricksen, wollen ihn mit ihrer Frage aufs Glatteis locken und hoffen, dass es unter ihm zerbricht. Nur warum? Vermutlich, weil sie sich von Jesus infrage gestellt und gefährdet fühlen, von ihm und seiner Art zu leben. Was für ein engstirniger, intriganter Haufen!
Sicher, es ist einfach, zu diesem Schluss zu kommen. Doch genau darin liegt auch eine große Gefahr. Die Gefahr nämlich, das Zerrbild einer religiösen Gruppe zur Zeit Jesu zu zeichnen – und darin dann „den“ Juden zu erkennen, „den“ Juden, der von Anfang an darauf aus war, den Gottessohn ans Messer zu liefern. In welche Abgründe ein solches Denken geführt hat, wissen wir. Wir spüren dieses tödliche Gift bis heute, wenn es immer wieder und immer öfter und immer unverblümter heißt: „Die“ Juden sind, „die“ Juden haben, „die“ Juden machen. Nein, „die“ Juden gibt es überhaupt nicht! Und selbst wenn es sie gäbe (Achtung: Konjunktiv!) – dem Evangelium geht es um etwas ganz anderes! Jesus hält in dieser Szene allen, die die Geschichte hören, einen Spiegel vor. Kurz: Er hält uns einen Spiegel vor. Einen Spiegel, den die Pharisäer in ihren Händen tragen. Und in diesen Spiegel blicken wir nun hinein.
Wer das tut, sieht sich mit Fragen konfrontiert: Wie ist das eigentlich, wenn ich mich angefragt fühle? Werde ich unsicher? Oder hart und abweisend? Gehe ich gleich in Verteidigungsstellung oder zum Gegenangriff über? Oder kann ich Fragen zulassen, wirklich an mich heranlassen und dann eine ehrliche Antwort geben? Und weiter: Bin ich vielleicht selbst jemand, der andere durch unlauteres Fragen provozieren will? Ist mein Fragen respektvoll? Oder eher lieblos? Und noch weiter: Wenn ich respektloses Fragen mitbekomme, wie verhalte ich mich dann? Ziehe ich mich zurück und verstecke mich? Oder beziehe ich Position? Bin ich frei genug, mit Jesus zu fragen: Warum stellt ihr mir eine Falle? Möchte ich zu den Gründen und Wurzeln der Fragen vordringen? Oder will ich das alles lieber gar nicht so genau wissen?
Zugegeben, ganz schön viele Fragen auf einmal. Die lassen sich auch nicht in zwei, drei Minuten beantworten. Vielleicht machen sie aber doch ein bisschen sensibel. Wenn wir diskutieren und einander hinterfragen. Wenn wir eine Meinung haben oder erst noch eine finden müssen. Wenn wir miteinander und nicht selten auch aneinander leiden.
Jesus hält uns einen Spiegel vor. Wie so oft. Dort hineinzublicken – in mein eigenes Leben also –, das erfordert Mut. Denn es könnte zur Folge haben, dass ich was ändern muss …
Alexander Bergel
22. Oktober
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Predigt am 28. Sonntag im Jahreskreis
zu Jes 25,6-10a und Mt 22,1-14
Die Sehnsucht ist groß. Unendlich groß. Dass es wahr wird. Dass endlich wahr wird, was geschrieben steht: „Der Herr wird abwischen die Tränen von jedem Gesicht.“ Ja, die Sehnsucht nach Trost und Heilung, sie ist unendlich groß. Die Realität jedoch, die ist eine andere. So viel Leid. So viel Hass. So viel sinnloses Sterben. Ohnmächtig stehen wir all dem gegenüber. Sehen die Bilder. Hören die Bomben. Zumindest über die Medien. Das allein ist schon kaum auszuhalten. Wie aber geht es denen, die mittendrin sind? Die zusehen müssen, wie ihre Liebsten sterben. In Israel und Palästina. In der Ukraine. Und an tausend anderen Orten dieser Erde. Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Tag für Tag. Und das seit Menschengedenken. Um zu überleben, haben sich Menschen in alten Zeiten Hoffnungsworte zugeraunt, zugeflüstert und, wenn es nicht mehr auszuhalten war, immer lauter zugerufen, damit es alle hören: „Seht, da ist unser Gott! Er entfernt die Schande seines Volkes von der ganzen Erde!“ Uralt sind diese Worte, aufgeschrieben vom Propheten Jesaja. Und sie hallten weiter bis in unsere Tage.
Kritiker der Religionen sehen darin allerdings den verzweifelten Versuch, zu retten, was zu retten ist, damit der tatenlos zuschauende Gott zumindest am Ende der Tage die Chance bekommt, seine Gerechtigkeit aufzurichten, den Hass der Menschen hinwegzufegen und alles neu zu machen. Vielleicht müsste man diesen Kritikern sogar recht geben. Wenn es da nicht dieses eine Volk gäbe: Israel. Wie niemand sonst haben Jüdinnen und Juden durch die Jahrtausende hindurch immer und immer wieder erfahren müssen, was es heißt, verachtet, gedemütigt und ausgelöscht zu werden. Und dennoch hat dieses Volk niemals aufgehört, so von Gott zu sprechen, wie wir es eben gehört haben: „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.“
Die Bibel beschreibt auf beinahe jeder dritten Seite, wie Israel gequält, vertrieben und vernichtet wurde. Bis ins letzte Jahrhundert hinein reicht diese Spur des Unheils, als mitten in Europa Millionen von Menschen ihr Leben lassen mussten, weil eine verbrecherische Ideologie es so wollte und der Widerstand nicht stark genug war. Und nun erleben wir es wieder, so schlimm wie seit dem Holocaust nicht mehr: Wir sehen, wie Menschen abgeschlachtet werden. Aus blankem Hass. Einfach so. In all diesem Wahnsinn klammern sich gläubige Juden immer noch und immer wieder an ihren Gott, liegen ihm mit Fragen, mit Vorwürfen, mit ihrer Verzweiflung in den Ohren, lassen sich aber auch nicht ausreden, dass dieser Gott selbst im tiefsten Abgrund an ihrer Seite ist.
Wohin Fanatismus führt, religiös verbrämter obendrein, sehen wir im Lande Abrahams, Isaaks und Jakobs, im Lande der Propheten, im Lande Jesu seit Jahrtausenden. Doch genau in diesem Land haben Menschen auch niemals aufgehört, dem Gott des Lebens zu vertrauen. Haben Kraft geschöpft und Wege des Friedens gesucht. So wie jener Mann aus Nazareth, Sohn des Volkes Israel, der in seinen Gleichnissen von all dem sprach, was Menschen bewegt und beugt und lähmt. Heute fordert er uns heraus, sich darüber klar zu werden, was am Ende wirklich nötig ist, um glücklich zu sein. Die Dinge, denen wir die Macht über unser Leben geben – sie sind es nicht. Die eigene Wichtigkeit ist es noch weniger. Und all das, was unbedingt erledigt werden muss, schon gar nicht. Am Ende ist es vielleicht einzig und allein die Erfahrung, dass da einer ist, der mich in seinen Armen hält, der meine Tränen trocknet und der mir die Kraft gibt, trotz allem ein Hoffender, eine Hoffende zu bleiben. Ich bewundere Menschen, von denen uns die Bibel mit alten Worten immer wieder neu erzählt. Menschen, die sich trotz tiefster Leiderfahrungen ihren Glauben nicht ausreden lassen. Denen die Hoffnung nicht ausgeht. Die so zu Baumeisterinnen und Baumeistern einer neuen Welt geworden sind. Und die mich inspirieren, es ihnen gleich zu tun.
Nur – was kann ich schon tun? Ich kann Unrecht beim Namen nennen. Ich kann antisemitischen Parolen widersprechen, egal, aus welcher Ecke sie kommen. Ich kann solidarisch sein mit den vielen Opfern auf allen Seiten. Ich kann Verharmlosern, den „Ja, aber …-Sagern“, entgegen-treten. Ich kann eine demokratische Kultur in meinem Umfeld fördern. Ich kann zuhören und versuchen, den anderen zu verstehen. Und dann kann ich hoffen. Hoffen, dass Kain nicht erst am Ende der Tage aufhört, seinen Bruder zu erschlagen. Und hoffen, für mich und die ganze Welt, dass jene Worte, die Menschen seit Davids Zeiten einander zuraunen und vor Gott bringen, auch in unseren Tagen zur realen Erfahrung werden: „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.“
Alexander Bergel
15. Oktober
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Predigt am 26. Sonntag im Jahreskreis
zu Phil 2,1-11 und Mt 21,28-32
Er hat es vorgemacht. Dreißig Jahre lang. Er hat vorgemacht, wie das gehen kann: Mensch zu sein. Mit Haut und Haaren. Mit Lust und Leidenschaft. Wütend und zärtlich. Voller Sehnsucht und Angst. Von Anfang an hat er aber auch zu spüren bekommen, wie hart das ist, Mensch zu sein. Und am Ende – am Ende ist er gestorben. Weil die Mächtigen es wollten und seine Freunde es nicht verhindern konnten. Ja, so war es – das Leben eines Menschen. Das Leben des Jesus von Nazareth. Wegen dieses Menschen sind wir hier. Seit 2000 Jahren kommen sie von überall her: Menschen wie wir. Menschen, die fasziniert sind von dem, was Jesus getan und gelehrt hat. Menschen, die in seine Fußstapfen getreten sind, um die Welt zu verändern. Und die meist eine Frage umtreibt: Wer ist dieser Mensch? Manche gehen so weit, in ihm eine Spur Gottes zu entdecken. Ja, nicht nur eine Spur – sondern Gott selbst.
Es ist alles lange her. Und doch – und doch sind wir hier. Weil wir von Jesus hören wollen. Weil wir ihm begegnen möchten. Ihm, der auch heute noch etwas zu sagen hat. Ihm, der mit uns rechnet. Und der sich die Kirche nicht ausgedacht hat, um einen Verein ins Leben zu rufen, der alte Riten folkloristisch am Leben hält oder moralisch die Welt bewertet. Nein – Jesus ging es um Gott. Diesen Gott, den er seinen Vater nannte, wollte er den Menschen nahebringen.
Und alle, die ihm folgen, müssen es ihm nachtun. „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht“, bringt es dann auch Paulus auf den Punkt. Und das geht genau wie? Das geht nur, wenn ich den Weg Jesu nachgehe. Und zwar wirklich, nicht aus der Komfortzone heraus. Dieser Weg hat eine klare Richtung: Er geht von oben nach unten. Mitten hinein in den Dreck. „Jesus hielt nicht daran fest, Gott gleich zu sein“, heißt es in diesem uralten Hymnus, den Paulus in der Urgemeinde vorgefunden hat. „Er entäußerte sich. Wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“ Jesus kam also nicht von oben ins Blickfeld der Menschen. Sondern von unten. Und noch etwas: Er machte das auch nicht eben nebenbei, lustlos oder weil es ja einer tun musste. Nein – er ging aufs Ganze. Weil er es wollte. Weil er spürte: Ich muss es tun! Nur so – ganz offensichtlich nur so – konnte Gottes Kraft am Ende alle Mächte des Bösen überwinden. Selbst den Tod.
Von den vielen Geschichten, die Jesus erzählt hat, weist die von den beiden Söhnen und dem Weinberg einmal mehr in eine ganz klare Richtung: Du kannst die Welt nur retten, wenn du es wirklich willst. Nicht wenn du gehst, weil man es erwartet. Nur wenn du es wirklich willst. Mit allem Ringen, allem Kämpfen, mit aller Unsicherheit, die das Leben bereithält. Also: Wenn Du in der Spur Jesu unterwegs sein willst, dann gehe einfach los. Ohne Netz und doppelten Boden. Leg den Finger in die Wunden. In deine Wunden, in die der Kirche und in die der Gesellschaft. Mach den Mund auf gegen Menschen verachtende Parolen. Setz dich ein, wenn Schwache verfolgt und ausgegrenzt werden. Sei mutig und kraftvoll. Nicht irgendwann. Sondern jetzt. Und wenn du scheiterst? Dann schau auf den, der auf ganzer Linie gescheitert ist. Damals vor 2000 Jahren. Und denke daran: Nach dem Scheitern kam Ostern. Und davon reden wir noch heute!
Alexander Bergel
30. September
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Predigt am 21. Sonntag im Jahreskreis
zu Jes 22,19-23 und Mt 16,13-20
Schlüsselfragen sind immer Schlüsselfragen. Denn daran entscheidet sich, wer reinkommt und wer nicht. Und vor allem: Wer es selbst bestimmen kann, ohne immer jemand anderen fragen zu müssen. In der Kirche ist das genauso wie in der Firma oder im Verein. Und wo es um Schlüsselfragen geht, sind Schlüsselfiguren meist nicht weit. Einer dieser Schlüsselfiguren sind wir eben begegnet: Simon Petrus. Auf diesen Felsen will Jesus seine Kirche bauen. Und die Schlüssel zum Himmelreich gibt’s obendrauf. Auch hier: Schlüsselfragen sind offensichtlich Schlüsselfragen.
Wie auch immer es damals anfing, wie auch immer Jesus das Fels-Sein und den Schlüsseldienst des Petrus verstanden haben mag – was daraus auch geworden ist, können wir in der Kuppel der Peterskirche in Rom sehen. In riesigen Buchstaben steht das Jesus-Wort dort zu lesen. Es ist der in Stein gehauene Machtanspruch der Päpste, die sich von jeher auf diesen Auftrag Jesu berufen. Doch auch wenn man Petrus ehrlicherweise nicht als den ersten Papst bezeichnen kann, hat sich das Papsttum historisch doch von ihm her entwickelt. Und nicht nur das.
Keine vier Jahrhunderte dauerte es, da war die Kirche zur Staatskirche geworden und ihre Amtsträger zu Beamten. Wie schnell wurde Politik gemacht. Wie oft wurden plötzlich Dinge entschieden, von denen man sich schon fragen kann: Was haben die eigentlich mit dem Evangelium zu tun? Wie oft wurden – und werden auch heute noch – Menschen ausgeschlossen: Menschen, die mit ihren Fragen quer kommen. Menschen, die bestimmten moralischen Ansprüchen nicht genügen. Das Schloss ist zu, der Schlüssel in mächtigen Händen. Ob das so gemeint war? Dieser Frage muss man sich stellen.
Vielleicht muss man dazu aber auch nicht nur nach Rom schauen. Wie sieht’s denn hier bei uns aus? Benutzen wir unsere Schlüssel immer dazu, Türen zu öffnen? Spüren Menschen, die uns begegnen, dass unser Gott einer ist, der befreit – und keiner, der einengt? Gelingt es uns, den Schlüssel zum Herzen von Menschen zu finden, die in sich verschlossen oder verbittert oder verletzt oder von dieser Kirche maßlos enttäuscht sind? Schaffen wir es, andere neugierig zu machen auf die Botschaft Jesu – vielleicht gar nicht so sehr durch große Worte, sondern einfach dadurch, dass wir da sind? Und noch eine Frage: Können wir es haben, Menschen neben uns groß werden zu sehen?
Jesaja, der Prophet, berichtet von einem Gottesdiener, der Menschen klein gehalten und nur an sich und seinen Machterhalt gedacht hat. Solchen Leuten wird der Schlüssel am Ende wieder weggenommen. Alle, die ihre Schlüssel benutzen, um zu verschließen und nicht, um Herzen zu öffnen, stehen dem Plan Gottes im Weg. Vielleicht hat Jesus dem Petrus genau deshalb diesen ganz besonderen Schlüssel anvertraut. Weil er wusste: Dieser Mann hat das Herz am rechten Fleck. Er kämpft. Und leidet. Und hofft. Und liebt. Offene Türen, offene Hände und offene Herzen. Darauf kommt es an. Ob uns das gelingt, ist am Ende wohl die entscheidende Schlüsselfrage.
Alexander Bergel
27. August
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Predigt am 19. Sonntag im Jahreskreis
zu 1 Kön 19,9-13 und Mt 14,22-33
„Ob dich die Wellen wie Hände tragen? Ich weiß es nicht. Das Wagnis des Petrus, du musst es selber wagen.“ Ein Gedicht. Kein sehr langes. Aber doch eines mit Tiefgang. Nur leider ohne alltagspraktische Antwort. Aber hätten wir die nicht gerne? Dann, wenn mir das Wasser bis zum Hals steht, wenn die Wellen hochschlagen und ich nicht weiß, wie ich mein Leben retten soll – wie oft haben Menschen in solchen Momenten wohl schon gerufen: Gott, wo bist du?
Mit dieser Frage verbunden ist eine schmerzhafte Erfahrung: Er, den manche den „Allmächtigen“ nennen, greift nicht ein, schiebt nicht die Wolken beiseite, vertreibt nicht den Hunger, vereitelt nicht die Pläne der Potentaten. Dabei berichtet die Bibel doch immer wieder genau davon: Ein ganzes Volk zieht aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit. Mächtige werden vom Thron gestürzt, und die Schwachen können wieder aufatmen. Ja, es gibt sie, diese Erfahrungen. Aber wir hören auch vom Propheten Elija. Und der erlebt etwas ganz anderes.
Elija kennt sich aus und hat einen guten Draht nach oben. Meint er jedenfalls. Er kämpft für seinen Gott. Auch mit Feuer und Schwert. Irgendwann ist er jedoch an einem Punkt, an dem viele Kämpferinnen und Kämpfer stranden: Er kann nicht mehr. So sitzt Elija in der glühenden Sonne unter einem Ginsterstrauch und wünscht sich den Tod. Er spürt nichts mehr. Sich nicht. Und Gott schon gar nicht. Bis ein Engel kommt. Der reicht ihm Brot und Wasser. Und schenkt ihm so eine neue Lebensperspektive. „Mach dich auf den Weg, Elija, geh weiter!“ Zweimal hört er das. Und dann geht er los. Geht und geht. Vierzig Tage. Bis zum Gottesberg Horeb.
Dort angekommen, meint Elija, Gott müsse sich nach dieser langen Mühsal und an diesem besonderen Ort doch endlich wieder zeigen. So wie früher. Aber es kommt anders. „Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.“ Ein Säuseln – fast nicht zu hören und vor allem überhaupt nicht erwartet: Darin zeigt sich der Herr. Elija hatte mit allem gerechnet. Damit nicht. Aber genau diese Begegnung, diese Erfahrung hat ihn verändert. Und nicht nur ihn.
Immer wieder berichtet die Bibel von solchen Erlebnissen. Menschen machen sich Bilder von Gott. Das müssen sie auch, anders geht es gar nicht. Doch diese Bilder können immer nur Versuche sein. Versuche, die eigene Ahnung von diesem Gott zu beschreiben. Wer zu schnell das Bild des allmächtigen Gottes zeichnet, der dreischlägt, der all das kann, was mir selbst nicht gelingt, möchte vielleicht vor allem der eigenen Ohnmacht entfliehen. So wie Petrus.
Er war ein Mann der lauten Worte und der schnellen Tat. „Das wäre doch gelacht! Wenn Jesus übers Wasser gehen kann, schaffe ich das auch!“ Immerhin: Mutig war er. Doch dann wird der Gegenwind zu stark, die Wellen schlagen zu hoch, und Petrus geht unter. „Herr, rette mich!“, schreit er noch. Und dann erfährt er sie, die ersehnte Rettung. Also doch der allmächtige Gott, diesmal in Menschengestalt? Ich bin mir nicht sicher. „Ob dich die Wellen wie Hände tragen? Ich weiß es nicht. Das Wagnis des Petrus, du musst es selber wagen.“
Wer als Glaubender, wer als Glaubende durch dieses Leben geht, kann sich seiner Sache niemals allzu sicher sein. Denn Gott ist eigentlich immer anders als gedacht. Siehe Elija. Und auch wenn Menschen davon berichten, diesem Gott ganz nahe gekommen zu sein – zum Glück gibt es ja diese Erfahrung –, muss ich meine Schritte schon selber wagen. Siehe Petrus.
Und nun? Sind wir so schlau wie zuvor. Vielleicht. Aber vielleicht auch ein bisschen mehr. Zweierlei lese ich in diesen uralten biblischen Geschichten: Wenn du dich allzu sehr mit einem Gottesbild angefreundet hast, lass es los. Und rechne damit, dass Gott dir anders begegnet als du es erwartest. Wenn der „zahnwehhafte Schmerz, dass Gott fehlt“, wie Martin Walser es einmal gesagt hat, so übermäßig stark geworden ist, dass du immer nur um diesen Schmerz kreist, entlasse Gott aus der Verantwortung für alles und jeden und trau dir selbst wieder mehr zu. Vielleicht wirst du ihm dann ganz neu begegnen. Bei Petrus war es jedenfalls so. Und bei Elija auch.
Natürlich: All das ist nur die halbe Wahrheit und auch keine Garantie für ein zufriedenes Glaubensleben. Aber vielleicht macht es Mut. Mut, den Glauben nicht in das Gefängnis dessen einzusperren, was man bereits erlebt hat, sondern den Glaubensweg jeden Tag neu zu beginnen. „Ob dich die Wellen wie Hände tragen? Ich weiß es nicht. Das Wagnis des Petrus, du musst es selber wagen.“
Alexander Bergel
13. August
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Predigt am Fest der Verklärung des Herrn
zu 2 Petr 1,16-19 und Mt 17,1-9
Es geht ums Überleben. Immer wieder. Auch heute. Und um die tiefe Sehnsucht nach Heil und ewigem Aufgehoben-Sein. Heute kleidet sich diese Sehnsucht in starke Bilder: Berg, Wolke, strahlendes Weiß, Gottes Stimme. Bilder sind es, die Sehnsucht und Erfahrung gleichermaßen benennen: die Erfahrungen dreier Menschen, die sich von Jesus in die Weite und in die Höhe haben führen lassen. Nach mühsamem Aufstieg also machen Petrus, Jakobus und Johannes eine tiefe Gotteserfahrung. Wie genau das ablief? Schwer zu sagen. Irgendwie klingt das, was wir da lesen, auch eher nach Märchen als nach Tatsachenbericht, oder? Doch nicht so schnell. Denn was sich so fantastisch anhört, ist nicht als nette Geschichte zur Vertröstung der religiös Naiven gedacht. Ganz im Gegenteil! Der Schreiber des zweiten Petrusbriefes sagt es ziemlich deutlich: „Wir sind nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt, sondern wir waren Augenzeugen. Diese Stimme, die vom Himmel kam, haben wir gehört.“
Klare Ansage. Sie zeigt mir: Da haben sich Menschen also wirklich packen lassen. Nicht nur von einem unstillbaren Durst nach Leben – Gott selbst hat sie berührt, seine Nähe umgibt sie wie eine Wolke. So war das damals, auf dem Berg Tabor. Und so war es auch schon vorher. Deshalb kommen Mose und Elija ins Spiel, die beiden Großen des Alten Testaments. Auch sie haben ihre Gotteserfahrungen gemacht. Sie stehen für alle Menschen, die vor uns gelebt haben und auch diesen unstillbaren Lebensdurst hatten. Die drei Apostel, die Jesus mitnimmt – Petrus, Jakobus, Johannes –, sie sind uns wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie haben erlebt, was das heißt: Jesus zu vertrauen. Wenn wir das auch tun, stehen die Chancen gut, dass auch unsere Sehnsucht nach Leben eine Antwort findet.
Was aber, wenn mir diese vollmundige Vertrauensbekundung im Halse stecken bleibt? Weil es nämlich diese vielen alltäglichen Tode gibt – bei mir und um mich herum. Weil es diese schwere Krankheit in meiner Familie gibt. Weil meine Beziehung zerbrochen ist. Weil mich diese Schulden fast umbringen. Oder die Schläge von dem, der sagt, er liebe mich. Weil ich einfach keinen Sinn mehr erkennen kann. Weil ich Angst vor der Zukunft habe. Weil sich Gott mir so selten zeigt. Oder gar nicht. Was ist dann?!
Die Jünger waren Gott ganz nahegekommen. Aber sie blieben nicht in der Ekstase sitzen. Nein, es ging zurück ins Tal, ins Tal der Tränen. Und auf diesem Weg stellen sie all die Fragen, die wir nur zu gut kennen. Sie fragen einander, was das denn nun heißt: von den Toten auferstehen. Diese Drei, die das Leben spüren durften, wie es wirklich ist – sie schweben nicht auf Wolke sieben. Nein, sie kehren als Fragende und Suchende zurück in den harten Alltag. Aber – etwas hatte sich verändert. Und damit sind wir wieder bei uns. Und bei der Frage, ob es bei uns auch so sein könnte. Und ob wir ihn auch erleben werden – diesen Perspektiv-Wechsel. Ein solcher war es nämlich.
Das erfahren wir nur, wenn wir es ausprobieren! Machen wir es wie Petrus, Jakobus und Johannes: Suchen wir nach diesem Gott. Auch wenn er weit weg ist. Und rechnen wir damit, dass er sich zeigt. Auch wenn es ziemlich sicher anders sein wird als erwartet. Und gehen wir dann mit seiner Kraft in unsere Täler hinab. Machen wir uns gegenseitig Mut! Erzählen wir einander von unseren Lebens-Erfahrungen. Von Schmerzen, die nachlassen. Von Hoffnungen, die uns geschenkt werden. Erzählen wir uns von unserem Lebens-Durst. Und davon, wie er jetzt schon gestillt wird. Dann könnte es sein und wir spüren am eigenen Leib, was wir heute feiern: „Verklärt ist alles Leid der Welt.“ Auch meins.
Alexander Bergel
6. August
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Predigt am 15. Sonntag im Jahreskreis
zu Jes 55,10-12 und Mt 13,1-9
Was ist das Wichtigste im Leben? Eine alte Frau wurde das gefragt. Sie musste nicht lange überlegen und gab zur Antwort: „Das Wichtigste im Leben ist mir das Hören! Sicher“, so meint die alte Dame weiter, „es gibt noch vieles mehr, was wichtig ist. Die Liebe, die steht natürlich ganz oben, die Familie, das Verbundensein mit anderen Menschen. Aber all das kann ja nur gelingen, wenn ich nicht immer nur rede, sondern wenn ich hören, wenn ich zuhören kann.
Seit einigen Monaten schon treffen sich alle 14 Tage im Johannes-Prassek-Haus ein, zwei Dutzend Männer und Frauen, evangelische und katholische, um gemeinsam den Bibelpodcast „Unter Pfarrerstöchtern“ zu hören. Wir hören, was die beiden Pfarrerstöchter, eine Journalistin und eine Theologieprofessorin, über die biblischen Geschichten denken. Und danach kommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer miteinander ins Gespräch, erst in den kleinen Tischgruppen, dann in großer Runde.
Ich höre gerne zu. Ich höre, was die beiden Fachfrauen zu sagen haben, die mir immer wieder neue Sichtwesen schenken. Vor allem aber interessiert mich, was die Menschen um mich herum von den biblischen Geschichten mitnehmen. Welche Fragen diese Erzählungen aus einer fernen Zeit provozieren, welche Herausforderungen sie darstellen, welche Schlüsse man für heute ziehen kann und welche vielleicht auch nicht. Ich höre von den anderen und spüre auch an mir selbst: Diese uralten Worte bewirken etwas. Beim Propheten Jesaja klingt das dann so: Das „Wort, das meinen Mund verlässt […] kehrt nicht leer zu mir zurück, ohne zu bewirken, was ich will, und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe.“
Die Bibel ist sicher keine 1:1-Übersetzung der göttlichen Gedanken. Nur Fundamentalisten behaupten das noch. In der Bibel finden sich vielmehr wortgewordene Gotteserfahrungen. Alle großen Themen des Lebens kommen darin vor: Anfang und Ende, Geburt und Tod, Liebe und Hass, Frieden und Krieg, Vertrauen und Eifersucht, Treue und Verrat. Gesellschaften scheinen auf, die längst vergangen sind, deren Werte aber bis heute wirken – im positiven wie im negativen Sinn. Gottesbilder begegnen uns, die befreiend sind. Andere wiederum schüchtern ein. Und dann wieder wird davon berichtet, wie Menschen sich von solchen destruktiven Bildern befreien und endlich durchatmen konnten.
Die Bibel nimmt uns mit auf eine Reise. Alle Themen, die dort vorkommen, berühren das Leben jedes und jeder einzelnen. Manche Entwicklungen, die dort beschrieben werden, gelten nicht nur für ein Volk, sondern für die Entwicklung jedes Menschen. Deswegen finde ich es so wichtig, aufeinander zu hören, sich auszutauschen, zu fragen: „Wie ist das denn eigentlich bei dir?“
Manchmal fällt etwas von diesem Wort auf meinen Lebensweg, wird zertreten oder weggewischt. Manchmal ist seine Wirkung nur von kurzer Dauer, geht schnell auf, berührt mich aber nicht. Manchmal wird das Wort erstickt in den Dornen des Leids und der Perspektivlosigkeit, weil mir die Luft zum Atmen fehlt. Manchmal aber bin ich offen für das, was mein Leben verändern kann, ist der Boden in meinem Herzen bereitet – und es geschieht etwas, das mich wieder aufatmen lässt.
Was Jesus in seinem Gleichnis vom Wort Gottes beschreibt, all das passiert. Tag für Tag. Nicht immer kann ich es selbst beeinflussen. Eines aber kann ich tun. In all der Komplexität des Lebens, bei aller Beanspruchung, die der Alltag mir abverlangt, bei aller Überforderung auch, ich kann versuchen, wie die alte Dame immer mehr zu einem Hörenden zu werden. Vielleicht stehen dann die Chancen gar nicht schlecht, immer wieder auch mal Gottes Stimme zu entdecken.
Alexander Bergel
16. Juli
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Predigt am 14. Sonntag im Jahreskreis
zu Sach 9,9-10 und Mt 11,25-30
„Ausmerzen werde ich die Streitwagen aus Éfraim und die Rosse aus Jerusalem, ausgemerzt wird der Kriegsbogen. Der Herr wird den Nationen Frieden verkünden, und seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer, vom Strom bis an die Enden der Erde.“ Es ist ein Kontrastprogramm, ein wirkliches Kontrastprogramm, das der Prophet Sacharja dem am Boden liegenden Jerusalem zuruft. Auch wie Jesus die Welt sieht, ist ein Kontrastprogramm. Denn am Ende rechnet er vor allem mit einem Publikum: „Ich preise dich“, so betet er zu seinem Vater, „weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast.“
Kein Starker, kein Mächtiger, das weiß Jesus ganz genau, hört auf seine Worte. Nur die Kleinen, die, die nichts mehr zu verlieren haben – die sind es, sie haben noch ein Ohr. Ein Ohr für diese verrückte Botschaft, die nichts anderes ist als ein Kontrastprogramm. Und damit ein Stachel. Ein Stachel – ganz sicher – in der großen Welt der Politik. Und ein Stachel in der kleinen Welt meines Lebens. Er ist präzise gesetzt, dieser Stachel. Und er tut weh. Zumindest dann, wenn wir ihn nicht betäuben mit den üblichen Beruhigungsmitteln: „Ach, das wird er schon alles nicht so wörtlich gemeint haben, das mit dem Vergeben und der anderen Wange und so!“ Oder: „Es ist halt ein Traum.“ Um es gleich zu sagen: Diese Beruhigungsmittel fegt Jesus vom Tisch, indem er klar macht: „Ja, es ist ein Traum. Und: Ja, ich habe das wörtlich und wirklich so gemeint!“ Tja, und nun? Wir könnten – zumindest für einen Augenblick – so tun, als würden wir diesem wörtlich gemeinten Traum Jesu folgen.
„Mensch“, so stelle ich mir vor, würde Jesus dann sagen, „Mensch, lass die Bedenken Bedenken sein. Dreh dich nicht nur um dich selbst. Blicke nach rechts und nach links. In die Welt, wie sie ist. Blicke aber auch nach oben und nach unten. Halte Ausschau nach dem, was Gott dir schenkt. Und nach dem, was schon da ist. Erwarte alles von Gott – denn der weiß, was du brauchst. Und dann – dann lebe meinen Traum von dieser Welt. Fang einfach an. Ohne Konzept. Ohne Netz mit doppeltem Boden. Ohne Reiserücktrittsversicherung. Ich weiß ja, dass eigentlich alles dagegen spricht: die Macht der selbstverliebten Männer, die grenzenlose Selbstüberschätzung der Despoten, das Beharrungsvermögen der Traditionalisten, die Bedenken der Erfahrenen, das Leid der Gequälten, die Trauer der Einsamen, die Wunden der Gefolterten, die ausgelachten Barmherzigen, die für naiv erklärten Weltverbesserer, die getöteten Friedenssucher, die sinnlose Zerstörungswut der Radikalen von Links und Rechts. Ja, eigentlich spricht alles dagegen. Da habt ihr Recht. Aber wollt ihr wirklich, dass meine Idee von dieser Welt zu Ende geht? Wollt ihr wirklich, dass die Kämpfer für Gerechtigkeit umsonst gestorben sind? Wollt ihr wirklich der Angst und der Ohnmacht das letzte Wort gönnen?“
Jesus war kein naiver Träumer. Jesus war Realist. Und genau deshalb blickte er weiter. Genau deshalb hat er sich nicht zufrieden gegeben mit der Welt, wie sie ist. Er hat uns vielmehr gezeigt, wie sie auch ist. Solange es die Welt gibt, begegnen uns die entmutigende, angstmachende, zähnefletschende Fratze des Bösen, die Großmacht der Überheblichkeit, das Meer der geweinten Tränen. Aber mittendrin – mittendrin lebt die Vision des Jesus von Nazareth. Die Bedenken, die kennt er. Alle. Und trotzdem – trotzdem wagt er eine Frage: Folgst du mir?
Alexander Bergel
9. Juli
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Predigt am 13. Sonntag im Jahreskreis
zu Mt 10,37-42
522.821. Das ist die Zahl der Woche. Zumindest in der katholischen Welt. 522.821 Menschen sind im vergangenen Jahr in Deutschland aus der Kirche ausgetreten. Die Führungsetagen der Bistümer reagieren routiniert. Einmal mehr wird von der tiefen Krise gesprochen, in der die Kirche stecke. Von schmerzhaften Einschnitten. Von tiefer Betroffenheit. Davon, dass man Vertrauen wiedergewinnen und Reformen voranbringen müsse.
Am Tag der Zahlenveröffentlichung rückt die Staatsanwaltschaft beim Erzbistum Köln an, um Dokumente zu sichten im Zusammenhang mit der Frage, ob Kardinal Woelki einen Meineid geleistet habe. Der wiederum erstattet Anzeige gegen Unbekannt, weil jemand die Razzia an die Presse durchgestochen habe. Sich zu fragen, ob das, was seit Jahren an Skandalträchtigem im gut eingerichteten katholischen Paralleluniversum Köln geschieht, nicht einer der Gründe für die weglaufenden Menschen sein könnte, ist dort offensichtlich schwer denkbar.
Ganz anders Jesus. Er hatte zweitausend Jahre zuvor ein Konzept entwickelt, um seine Botschaft unter die Leute zu bringen. Und dieses Konzept heißt: Hingehen. Schauen, was ist. Zuhören. Und dann davon sprechen, dass es einen Gott gibt, der deinem Leben Sinn und Richtung geben kann. Eine Vergnügungsreise ist das nicht immer, denn auf diesem Weg begegnet dir auch das Kreuz. Und so höre ich schon die selbsternannten Märtyrer, die sich von den Medien und der Öffentlichkeit ans Kreuz geschlagen sehen im Kampf der bösen Welt gegen die heilige Kirche.
Mit dem Wort Jesu „Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert“ ist aber wohl etwas anderes gemeint. Kein Beleidigtes-Leberwurst-Gehabe, sondern radikaler Realitätssinn. Jesus hat sich der Welt gestellt, ihren Abgründen, ihrer Angst, ihrem Horror, ihrem Tod. Ohne auszuweichen. Bis zum bitteren Ende. Wer in seiner Spur unterwegs ist, sollte das ebenso versuchen. Um es zu bestehen, das Leid. Um dagegen anzugehen. Und um eine Hoffnung in die Welt zu bringen, die von Ostern nicht nur spricht, sondern die Kraft der Auferstehung erfahrbar werden lässt.
Mit anderen Worten: Wir müssen neu lernen umzusetzen, womit Jesus seine Jüngerinnen und Jünger damals beauftragt hat: „Lasst die Menschen spüren: Auch wenn du am Ende bist, auch wenn dir Hören und Sehen vergangen ist, auch wenn dich das Leben sprachlos gemacht hat, auch wenn deine Schmerzen übergroß sind, die körperlichen genauso wie die seelischen – auch wenn das alles so ist: Hör nicht auf zu vertrauen! Vertraue, dass da ein Gott ist, der dich sieht und sich um dich sorgt!“
Man wird auch uns daran messen, ob solchen Worten Taten folgen. Ob wir Begegnungen ermöglichen, die Menschen sagen lassen: Hier darf ich sein. Hier kann ich glauben. Hier kann ich leben. Und frei atmen. Ich glaube, so hatte sich Jesus das mal gedacht.
Alexander Bergel
2. Juli
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Predigt am 12. Sonntag im Jahreskreis
zu Jer 20,10-13 und Mt 10,26-33
Propheten, das ist nicht neu, Propheten müssen mit Widerstand rechnen. Weil es selten bequem ist, was sie sagen. Weil sie den Finger in die Wunde legen. Weil sie Unehrlichkeit nicht ertragen. Und Ignoranz. Und schon gar nicht eine Haltung, die sich selbst zum Mittelpunkt des Universums macht. Weil sie genau dagegen immer wieder angehen, werden Propheten lächerlich gemacht, für verrückt erklärt und bekämpft. Auch Jeremia bekommt das zu spüren: „Ich hörte die Verleumdung der Vielen: Zeigt ihn an! Meine nächsten Bekannten warten alle darauf, dass ich stürze.“ Es musste ihm klar gewesen sein, dass viele so reagieren würden. Und dennoch: Jeremia geht seinen Weg weiter. Denn er spürt: Das ist nicht einfach nur eine fixe Idee. Nein, er kritisiert und hinterfragt eine Gesellschaft, die ihre Mitte verloren hat. Er bekämpft religiöse und politische Machthaber, die vergessen haben, dass es nicht um Selbsterhalt gehen muss, sondern um das Wohl eines ganzen Volkes.
Wenn der Mann aus Nazareth viele Jahrhunderte später einen ähnlichen Weg einschlägt und am Ende dafür am Kreuz sterben muss, spüren wir einmal mehr, wie wenig sich die Dinge ändern lassen. Menschen neigen durch alle Zeiten hindurch ganz offensichtlich dazu, sich friedlich einzurichten. Und dabei nicht gestört werden zu wollen. Und – seien wir ehrlich – es ist ja auch nur allzu verständlich, oder? Wer wünscht sich denn auch nicht, friedlich bei einem lauen Lüftchen und einem guten Glas Wein auf der Terrasse zu sitzen und in den eigenen Garten zu schauen? Wer wünscht sich nicht, bei all den Belastungen, die das Leben für einen bereit hält, nicht ständig mit den großen Problemen der Welt konfrontiert zu sein? Wer würde nicht gerne die Augen schließen und einfach für sich und seine Familie in Ruhe und Frieden leben? Ich glaube, die meisten würden es am liebsten genauso machen. Doch wenn es wirklich alle so machen, dann kippt am Ende auch alles. Wirklich alles.
Jesus wusste das. Genauso wie die vielen Prophetinnen und Propheten vor ihm und danach. Deshalb hat sein aufrüttelnder, Mut machender Ruf auch heute nichts von seiner Aktualität verloren: „Fürchtet euch nicht!“ Fürchtet euch nicht, die eigene Komfortzone zu verlassen! Fürchtet euch nicht, Partei zu ergreifen für die Armen und Schwachen! Die übrigens gar nicht so weit weg wohnen, sondern vielleicht sogar auf der anderen Straßenseite. Fürchtet euch nicht, die selbstgemachte Katastrophe des Klimawandels anzuprangern und alternative Lebensformen zu entwickeln! Fürchtet euch nicht, für die Rechte von Arbeitnehmern einzutreten, die keine Lobby haben! Fürchtet euch nicht, weiter nachzufragen, woher unsere Lebensmittel und unsere Kleidung kommen und unter welch menschenunwürdigen Bedingungen sie teilweise hergestellt werden! Fürchtet euch nicht, Rassismus beim Namen zu nennen und für die Rechte aller Menschen einzutreten! Egal woher sie kommen. Egal was sie fühlen. Egal wen sie lieben. Fürchtet euch nicht, Strukturen des Bösen zu erkennen und zu verändern! Fürchtet euch nicht, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern immer wieder einzufordern! Oder sie einfach zu leben. Fürchtet euch nicht, eurem Gewissen zu folgen! Fürchtet euch nicht, unbequem zu sein, wenn ihr ein Ziel erkannt habt, das über eure kleine Welt hinausweist! Fürchtet euch nicht!
Prophetin, Prophet sein – das ist kräftezehrend. Und oft frustrierend. Einfacher ist es, das zu tun, was alle machen. Das stimmt. Doch wo führt das hin? Weil es immer wieder diese Mahnerinnen und Mahner gegeben hat, konnten Dinge sich verändern. Selten schnell. Fast nie sofort. Manchmal auch nur in Teilen. Oder gar nicht. Und doch gab es immer wieder Menschen, die nicht aufgegeben haben. Menschen wie Jeremia und Elija, Debora und Rut, Maria von Magdala, Hildegard von Bingen und Teresa von Avila. Menschen wie Dietrich Bonhoeffer und Hannah Ahrend, Martin Luther King, Nelson Mandela, Eugen Drewermann und Greta Thunberg. Und noch viele andere. Sie hatten keine Angst. Und haben weitergemacht. Trotz allem. Wo wären wir ohne sie? Gute Frage. Noch wichtiger aber: Wer geht ihren Weg weiter?
Alexander Bergel
25. Juni
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Predigt an Pfingsten
zu Gen 11,1-9, Apg 2,1-11 und Joh 20,19-23
Wir dürfen uns nichts vormachen. Pfingsten feiern bedeutet: Türen öffnen. Mauern überwinden. Neue Sprachen lernen. Natürlich ist alles andere leichter. Es ist leichter, Türen zu schließen, sich hinter Mauern sicher zu fühlen und in der Sprache zu kommunizieren, die man kennt. Aber das führt dazu, dass es eng bleibt. Und irgendwann muffig wird. Weil die Luft zum Atmen fehlt. Die Geschichte der Menschheit ist voller verschlossener Türen. Voller unüberwindlicher Mauern. Voller einsilbiger Sprachmuster. Immer dann, wenn Menschen nur um das kreisen, was sie kennen, immer dann, wenn sie meinen: „Wir, wir wissen, wie es geht, damit kommen wir ganz groß raus!“, immer dann, wenn es nur ums eigene Überleben, um den eigenen Machtanspruch geht, immer dann stehen Menschen – wie damals in Babel – vor einem riesigen Ungetüm aus Mauern – und verstehen sich selbst nicht mehr. Und den anderen schon gar nicht.
Pfingsten ist das Gegenteil davon. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu hatten sich verbarrikadiert. Verständlich, nach all dem, was sie erlebt hatten. Verständlich, denn die Angst war groß. Die Angst vor denen, die die Ideen des Jesus von Nazareth auslöschen wollten. Von wegen Auferstehung – ein gefährliches Märchen! Das könnte – so die politische und religiöse Elite jener Zeit – die Menschen aufrütteln und Fragen stellen lassen. Fragen, die das System bedrohen. Denn immerhin hatte Jesus von der Gleichheit aller Menschen gesprochen. Von der Würde der Kleinen und Entrechteten. Er hatte ganz selbstverständlich Frauen in seiner Nähe, sich sogar von ihnen berühren lassen und auf ihren Rat gehört. Dieser Jesus hatte den Kreislauf von Unrecht und Vergeltung durchbrechen wollen, hatte den Tempelkult kritisiert, hatte Grenzen des Denkens und Mauern des Unmöglichen überschritten. Und war dafür gestorben. Endlich hatte der Spuk ein Ende! Doch dann erzählten seine Jüngerinnen und Jünger, dass er lebe. Also, so die Ordnungshüter: suchen, aufspüren und vernichten! Man kann verstehen, dass die Gesuchten sich verbarrikadieren. Und dann kam alles ganz anders.
Jesus, der Auferstandene, betritt die Bühne am Osterabend erneut und ermutigt seine Anhängerschar: „Bleibt nicht unter euch. Alle Welt soll es wissen: Meine Botschaft ist nicht gescheitert. Ich bin nicht gescheitert!“ Es dauerte noch mal 50 Tage, bis eine unbändige Kraft die Herzen der verängstigten Jesusjünger ergriffen hatte, sie die Türen weit aufstießen und so ziemlich jede Mauer übersprangen, die sich finden ließ: die Mauern der Angst, die Mauern der Depression, die Mauern der Herkunft, die Mauern des Hasses, die Mauern der Religionen. Vieles ist seither geschehen. Die, die daran glauben, vielleicht nicht immer komplett überzeugt, aber doch voller Sehnsucht danach, dass es wahr ist, und die nach Zeichen mitten in der Welt suchen, dass der Auferstandene keine Illusion, sondern erfahrbare Wirklichkeit ist, die, die das glauben, haben eine Menge bewirkt in der Welt. Seither stehen Menschen mit ihrem Leben dafür ein, dass die Botschaft Jesu nicht in Vergessenheit gerät, sondern dass sie weitererzählt und dass sie mit Leben erfüllt wird.
Aber wer will das heute noch hören? Immer weniger Menschen scheinen sich dafür zu interessieren, was denen wichtig ist, die in der Spur des Mannes aus Nazareth unterwegs sind. Das hat viele Gründe. Immer weniger Menschen sind überhaupt noch religiös interessiert. Sehen ihr Leben aber dennoch nicht als sinnlos oder weniger glücklich an. Im Gegenteil. Andere wiederum wollen glauben und tun dies auch. Aber nicht in einer Kirche, die sich so zeigt wie unsere. Denn immer noch ist es nicht überall in der Kirche selbstverständlich, dass Entscheidungen nicht nur von einem Einzelnen getroffen, sondern viele beteiligt werden. Immer noch ist es Frauen nicht möglich, in allen Diensten und Ämtern dieser Kirche ihre Berufung zu leben, obwohl sie eine spüren. Immer noch verschließen viele Verantwortungsträger die Augen vor dem wahren Ausmaß des Missbrauchs in unserer Kirche. Des sexuellen Missbrauchs, aber auch des geistlichen Missbrauchs, an dem viele Menschen bis heute leiden, weil es da geistliche Begleiter oder Ordensobere gibt, die sagen, durch sie spreche 1:1 die Stimme Gottes. Auch im Jahr 2023! Und immer noch – auch das gehört zur Wahrheit – tun sich Menschen in den Gemeinden schwer, den Blick über ihren Kirchturm hinaus zu wagen und sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. Wer aber immer nur im eigenen Saft weiterschmort mit der Erinnerung daran, wie schön mal alles war, der wirkt wenig anziehend auf Menschen, die neu dazukommen möchten. Weil in einer solchen Gemeindeblase die Luft zum Atmen fehlt, weil frischer Wind keine Chance hat.
Türen zu, Mauern hoch, keine neuen Sprachen lernen – das kann man alles machen. Auf diese Weise hat sich durch die Jahrtausende hindurch auch vieles erhalten, das wir heute noch sehen können. Aber mehr als ein Museum ist das irgendwann nicht mehr. Pfingsten wählt einen anderen Weg. Pfingsten ermutigt uns dazu, den alten Geschichten der Bibel zu vertrauen und sie mit unserem Leben in Berührung zu bringen. Diese Geschichten sprechen von Überwindung der Angst, vom Überspringen der Mauern und vom Mut, sich auf neue Sprachen, auf neue Sichtweisen einzulassen. Und zwar nicht, um irgendetwas zu retten, weder eine Institution noch irgendein Gebäude, sondern um im Hier und Jetzt ein sinnvolles, ein erfülltes und ein befreites Leben zu führen. Die Zeit der Volkskirche ist vorbei. Den Heiligen Geist scheint das nicht zu verunsichern. Im Gegenteil. Ich glaube, er legt gerade erst richtig los!
Alexander Bergel
28. Mai
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Predigt am 7. Ostersonntag
zu Joh 17,1-11
Ja
mittendrin
da stehen wir
mittendrin
in dieser Welt
mit einem Auftrag
im Gepäck
Hört in euch hinein
hört aufeinander
sprecht von dem
was ihr erfahren habt
und dann
dann geht
hinaus
Beachte
die Reihenfolge
wenn Du
die
Verhältnisse
ändern
willst
Krisengeschüttelt
die Welt
krisengeschüttelt
dein Leben
krisengeschüttelt
alles um dich
herum
So war es
eigentlich
immer
schon
so wird es
wohl auch
bleiben
Doch eines
sei dir sicher
eines bleibt
genauso wahr
alleine
bist du
nicht
Immer wieder
gibt es da
den
einen
der so
denkt
wie du
Immer wieder
gibt es da
die
eine
die ganz anders
denkt
als du
Beide retten
dich
vor dem
Abgrund
beide helfen dir
den Weg zu finden
deinen Weg
den Weg
der zum Leben führt
ja,
das Leben
selber
ist
Und sein Geist
sein Rückenwind
der kommt
vielleicht nicht heute.
vielleicht auch nicht
gleich morgen
wart es nur ab
Denn sein
Versprechen
gilt
ich lasse dich
ohne Beistand
sicher nicht
zurück
Mach dich also
auf die Suche
Noch ist
Zeit
und gewiss nicht
aller Tage
Abend
Alexander Bergel
21. Mai
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Predigt am 5. Ostersonntag
zu Joh 14,1-12
Keiner weiß,
wohin
die Reise geht.
Der Weg durch’s Leben –
er wird immer
voller Überraschungen sein.
Voller Sackgassen
und Seitenwege.
Wie oft schon
hab ich mich verlaufen.
Wie oft schon
ganz neu angesetzt.
Versucht,
durch all das Chaos,
durch Rückschläge
und Enttäuschungen
hindurch
zu ahnen,
wie das Leben
wirklich
funktioniert.
Genau verstanden
hab ich es bis heute
nicht.
Wie oft schon
waren aber plötzlich
Menschen da.
Menschen,
die wussten,
wo es lang geht.
Meist dort,
wo ein Weg
sich gabelte
oder Mauern
unbezwingbar schienen.
Auch dort waren sie
zur Stelle,
wo die Straße sich
in dunkler Nacht
verlor.
Nicht nur einmal
waren plötzlich
weite Strecken
wie im Flug
geschafft.
Und nicht nur einmal
stellte es sich ein –
dies unbeschreibliche Gefühl:
Es ist so
schön,
dies wunderbare
Leben!
Den Weg dorthin –
den kennt ihr.
Ja,
mitunter schon …
Zum Glück
hat Thomas
noch mal
nachgefragt.
Denn so konnte er
hören,
dass
sein großes Vorbild,
sein Meister,
sein Freund
bei allem
mit von der Partie
war.
Und ist.
Und bleiben wird.
Egal,
was kommt.
Dass er selbst
der Weg ist.
Und die
Wahrheit auch,
die mich
all das
erkennen lässt.
Kurz:
Ein ganzes
reiches
Leben.
Wenn ich’s
zulasse,
auch
meins!
Alexander Bergel
7. Mai
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Predigt am 4. Ostersonntag
zu Joh 10,1-10
Was sollte er machen? Er verstand ihn einfach nicht. Zu weit waren sie auseinander. Was ihm wichtig war, ahnte er wohl. Aber ihm so begegnen, dass sein Gegenüber sich wirklich verstanden, ja mehr noch: dass er sich wieder wohl, gar zu Hause fühlte – das ging nicht. Jedenfalls nicht im Augenblick. Die Tür – zu.
Wir alle wissen wohl, wie sich so was anfühlt. Und auch Jesus kennt sie: verschlossene Türen. Wie oft schon hat er vor ihnen gestanden. Wie oft schon ist es ihm nicht gelungen, die Türen der Herzen zu öffnen. Wie oft schon aber hatten sich auch die, die ihm eigentlich ganz nahe waren, verbarrikadiert, die Schotten dicht gemacht. Angst, Unvermögen – alles kam da zusammen.Vor Ostern. Und auch danach.
Aber: Jesus gibt nicht auf. Er macht weiter. Sucht nach Wegen. Immer wieder. Weil sie ihm am Herzen liegen. Die Menschen. So, wie sie sind. Mit all ihrer Angst. Mit all ihrem Unvermögen. Mit ihrer Überforderung. Und mit ihrem Hass, ihrem Abscheu, ihrer Ablehnung. Jesus gibt sie nicht auf. Er gibt uns nicht auf.
Hirte will er sein. Einer, der lockt. Einer, der Mut macht. Einer, der Wege kennt und sie zeigt. Dann, wenn alles aussichtslos scheint. Und noch eins will er sein: „Ich bin die Tür. Wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden. Er wird ein- und ausgehen und Weide finden.“ Jesus ist eine offene Tür. Einer, der sich öffnet. Sich und sein Herz. Auch darin will er uns Vorbild sein:
„Mensch, schließe deine Türen niemals für immer. Auch wenn du vielleicht Grenzen ziehen musst, damit du leben kannst. Auch wenn du nicht allen Erwartungen gerecht werden kannst, weil du sonst untergehst. Auch wenn nicht jeder und jede immer und zu jeder Zeit bei dir ein- und ausgehen darf, weil du auch nicht alle und jeden retten kannst. Auch wenn das alles so ist: Verschließe die Tür deines Herzens niemals endgültig!“
Wir wissen genau: Das ist oft genug harte Arbeit. Oft tut das auch ganz schön weh. Und es kostet immer das eigene Leben. Aber es hilft uns auch dabei. Es hilft uns, wirklich zu leben. Denn leben kann man nicht hinter verschlossenen Türen.
Jesus, die Tür – kein nettes Bild also für gemütliche Stunden, sondern ein knallharter Auftrag. Und so steht am Ende mal wieder eine Frage: Welche Tür wartet bei mir darauf, dass sie sich öffnet?
Alexander Bergel
30. April
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Predigt am 3. Ostersonntag
zu Joh 21,1-14
Sieben Männer am See. Dort also, wo sie sich auskennen. Endlich wieder! Zu viel war auch geschehen. Der, auf den sie ihre ganze Hoffnung gesetzt hatten, war tot. Was macht man, wenn ein Projekt gescheitert ist? Viele sagen dann: Ich geh zurück. Zurück in die vertraute Umgebung. Zu vertrauten Menschen. Zurück in vertraute Muster. Das muss nicht falsch sein. Aber darin liegt auch eine Gefahr. Beides begegnet uns am See von Tiberias. Und vermutlich auch in unserem eigenen Leben.
Sie hatten es doch wirklich gewagt: Petrus und Thomas, Natanael, die Zebedäussöhne und noch zwei weitere seiner Jünger. Sie waren Jesus gefolgt. Hatten alles stehen und liegen gelassen. Hatten gesehen, wie er Menschen berührt und geheilt, sie alle in Frage und manche der Drangsalierten und Ignorierten in die Mitte gestellt hatte: Frauen und Kinder und die vielen anderen Schutz- und Rechtlosen seiner Zeit. Genau das – und vor allem, dass Jesus all das mit Gott in Verbindung bringt – hatte ihn das Leben gekostet. Sein Lebensprojekt war gescheitert. Und sie mit ihm. Oder doch nicht?
Jesus war von den Toten auferstanden. Was erst als Weibergeschwätz verunglimpft wurde, hatte zu einer realen Begegnung mit dem Auferstandenen geführt. Thomas, der all das massiv in Frage gestellt hatte, wurde im Innersten erschüttert, als er Jesus an seinen Wunden erkannte. Aber dann fing der Alltag doch wieder an. Jesus war nicht mehr so da, wie sie es gewohnt waren. War es vielleicht doch alles nur Einbildung? Mehr Wunsch als Realität? Was also sollten sie noch tun in Jerusalem? In jener Stadt, die so voller Sehnsucht nach Frieden und Leben ist, dass es sich bis heute spüren lässt. In jener Stadt aber, vor deren Toren der Friedensfürst sein Ende fand.
Also zurück in die Heimat. Vielleicht, so hatten sich die sieben Männer damals gedacht, vielleicht brauchen wir nur etwas Ruhe. Vielleicht brauchen wir den alten bekannten Rahmen. Vielleicht, wenn wir erstmal wieder in der Spur sind, vielleicht findet sich dann alles wie von selbst. Also gehen sie fischen. Doch sie fangen – nichts. Erst als da einer kommt und für einen neuen Blick auf die alten Dinge sorgt, erst dann geschieht das Wunderbare: Fische ohne Ende! Und in all dem diese Spannung: Ist er es vielleicht wieder? Keiner traut sich, dem Gedanken bis zum Ende zu folgen. Nur der, der mit den Augen der Liebe auf alles blickt, der erkennt: „Es ist der Herr!“
Dem Auferstandenen zu folgen, ist keine einfache Sache. Zu stark sind die Argumente dagegen. Zu groß die Verunsicherung. Zu mächtig die alten bekannten Bahnen. Die Begegnung der Sieben am See zeigt mir aber, dass es doch gehen kann. Dass es gehen kann, Ostern mitten im zermürbenden täglichen Allerlei zu erleben. Denn dort, wo alles seine Ordnung hat, dort, wo eigentlich niemand mehr etwas erwartet, dort, wo ich festgelegt zu sein scheine – dort, genau dort beginnt plötzlich etwas Neues. Damals war es jedenfalls so. Warum nicht auch heute?
Alexander Bergel
23. April
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Predigt am 2. Ostersonntag
zu Joh 20,19-31
Genannt: Didymus,
Zwilling.
Vielleicht bist du das wirklich,
Thomas.
Mein Zwilling.
So wie ich.
Du fühlst und denkst genau
wie ich.
Auch ich
will es sehen.
Will es spüren.
Ich will dabei sein.
Nicht einfach aufs Hörensagen
alles gründen.
Und ja,
Beweise suche ich.
Zumindest aber
ein kleines Zeichen,
dass es wahr ist.
Und nun spreche ich.
So, wie du es tust:
Ach, Jesus,
vertrauen würd ich Dir so gern.
Dir glauben,
dass es stimmt,
was du gesagt hast.
All die Jahre.
Auf all den Wegen.
Zu all den Menschen.
Auch zu
mir.
Ich würde sie so gerne spüren,
deine Auferstehung.
Meine Zukunft.
Aber all das
ist weit weg.
Sieh sie dir doch an,
die Welt.
Die große.
Und auch
meine kleine.
Sieh sie dir doch an,
die Menschen
mit ihrer Angst.
Vor sich.
Und all den anderen.
Und vor dem Tod.
Was muss ich tun,
dass Ostern wird?
Da hör ich deinen
Rat:
Frage.
Zweifle.
Gib dich nicht zu schnell zufrieden.
Erwarte aber keinen Helden.
Nimm das Leben wahr,
wie es durch meine Wunden leuchtet.
Und durch die deinen auch.
So wird Ostern.
So geht Leben.
Spürbar heute schon.
Nicht voller Glanz und Gloria.
Aber voller Kraft.
Voller Zukunft.
Voller Leben.
Ja, Jesus,
ein Verwundeter bist du,
so sagst Du‘s mir.
Aber einer,
der lebt.
In all meinem Chaos.
In al meinem Zweifel.
In all meiner Angst.
Mitten im Tod.
Zweifeln, so sagst du’s mir,
Jesus,
zweifeln hält lebendig.
Vertrauen aber –
Vertrauen sprengt die Grenzen.
Hab also Mut,
Thomas.
Halt mir deine Wunden hin.
Und lebe!
Alexander Bergel
16. April
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Predigt am Gründonnerstag
zu Joh 13,1-15
Ohmnächtig –
das war er.
Nicht gespielt.
Auch nicht kokett.
Nein, durch und
durch.
Einzug
in die große Stadt.
Auf einem Esel.
Bejubelt zwar,
doch von Königspurpur
keine Spur.
Mit der Schüssel unterm Arm
geht’s weiter.
Wasser auf die Füße.
Bitte, Herr, was soll denn das?
Das muss doch wirklich nicht!
Doch, es muss.
Letzter Schritt:
das Kreuz.
Ausgespannt und
aufgestellt:
Ohnmächtiger
geht kaum.
Ohnmächtig ist er,
der Mann aus Nazareth.
Manche werden später sagen,
dass Gott selbst es war,
der seine Allmacht
an den Nagel hing.
Gott ent-mächtigt sich.
Doch warum?
Warum um alles
in der Welt?
Genau deshalb
wohl.
Um alles in der Welt,
um wirklich alles
zu umarmen.
Und um zu zeigen,
welcher Weg der
wahrhaft starke ist.
Nur eine Liebe,
die aufs Ganze geht,
die das Kleine,
Schwache
und Verkorkste,
die das Zerstörte sucht,
nur eine solche Liebe,
frei von Zwang und Macht,
wird dich verändern,
wird dich
aufrichten und
heilen.
Eine Liebe,
die aufs Ganze geht,
hat es nicht nötig,
groß zu sein.
Sie macht sich klein.
Und den andern stark.
Wir erleben eine Kirche,
in diesen Tagen mehr und mehr,
die ihre Macht einbüßt,
und endlich keinem mehr die Hölle heiß
oder das Leben selbst
zur Hölle macht.
Indem sie weiß,
nur sie allein, was richtig ist
und was auf keinen Fall.
Indem nur sie entscheidet,
wer ein Recht auf Gnade hat
und wer, vor allem, nicht.
Wir spüren ihn,
den Machtverlust,
wohl wie noch nie.
Gott entäußert sich
all seiner Macht.
Die Kirche ist gerade erst dabei.
Wenn sie ihm
nahe kommen will,
dann sollte
sie das
weiter
tun.
Und wir?
Was ist
mit uns?
Sind wir bereit,
denselben Weg
zu gehn?
Den Weg,
der uns
vor Augen führt,
wie verletzlich
wahre Liebe
macht?
Alexander Bergel
6. Apri
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Predigt am Palmsonntag
zu Sach 9,9-12 und Mt 21,10-17.46
Wie schön, wenn er das wirklich täte: „Ich vernichte die Streitwagen aus Efraim und die Rosse aus Jerusalem. Deine Gefangenen werde ich freilassen aus ihrem Kerker, der wasserlosen Zisterne. Kehrt in Scharen zurück, ihr Gefangenen voll Hoffnung!“ Zu allen Zeiten haben Menschen gehofft, ja darum gefleht und oft voller Verzweiflung gebettelt: Herr, du unser Gott, setz den Kriegen, setz der Unterdrückung ein Ende! Auch damals in Jerusalem. Die Stimmung war angespannt. Das Joch der Unterdrücker schwer. Freiheit? Fehlanzeige. Überall war die Sehnsucht nach unbeschwertem Leben mit Händen greifbar. Jerusalem war ein Pulverfass. Und genau dorthin kommt Jesus. Ist er der Friedensbringer? Wird mit ihm die alte Prophezeiung Wirklichkeit? „Jauchze, Tochter Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft. Vernichtet wird der Kriegsbogen. Er verkündet für die Völker den Frieden. Seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer.“
Jesus spürt genau, was die Menschen brauchen. Das hatte er ihnen gezeigt. Immer und immer wieder. Wenn er Kranke geheilt, Ausgestoßene in die Mitte gestellt, Menschen ihre Würde zurückgegeben hat – auch gegen den Widerspruch der Mächtigen. In all dem macht Jesus deutlich: Ja, ich kenne euer Leid! Ja, ich stelle mich dagegen! Ja, ich bin an eurer Seite! Man möchte es ihm glauben. Und die, die es erlebt haben, die, die geheilt wurden, die, die wieder lebendig geworden sind, die, die ihren Frieden wiedergefunden haben – all diese Menschen haben Jesus als den Befreier erlebt. Aber die Römer – die sind geblieben. Die Hohenpriester mit ihren wirtschaftlichen und politischen Interessen – die haben sich auch von Jesu Aufstand im Tempel nicht beeindrucken lassen. Der ersehnte Friedensfürst – er wird nach triumphalem Einzug in jene Stadt, die den Frieden im Namen trägt, am Kreuz enden. Und mit ihm die Hoffnungen der Menschen damals. Und die Hoffnungen der vielen Menschen heute.
Warum handelt Jesus so anders, als es sich viele ersehnen? Warum schlägt er nicht drein, warum jagt er die Aggressoren dieser Welt nicht zum Teufel? Warum richtet er nicht seine Herrschaft des Friedens auf? Warum nicht damals? Und warum nicht heute? Es ist die sehnsuchtsvolle Frage der vielen Millionen Menschen, die seit Urzeiten unter der Aggression der Potentaten zu leiden haben. Und wer die vielen dahingemetzelten Menschen sieht, die in der Ukraine, aber auch überall auf der Welt auf den Straßen liegen, wer die Menschen sieht, die in Bunkern und U-Bahn-Stationen hausen, wer das Leid all derer an sich heranlässt, die voller Angst und Verzweiflung um ihr Leben rennen, der kann doch gar nicht anders, als zu fragen: Wann, ja wann setzt du den Kriegen ein Ende, du Gott, der du alles geschaffen hast?
Wir stehen am Beginn einer Woche, in der es ums Ganze geht. Um Freundschaft und Verrat. Liebe und Hass. Schmerzen und Zärtlichkeit. Einsamkeit und Begegnung. Fragen und Antworten. Licht und Dunkel. Leben und Tod. Diese Woche führt uns vor Augen, dass Jesus nicht als Kriegsherr daherkommt. Schon damals hat er die enttäuscht, die sich erhofft hatten: Endlich hat die Unterdrückung ein Ende! Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb Judas sich dazu entschloss, seinen Freund und Meister unter Druck zu setzen und ihn den Soldaten des Hohen Rates zu übergeben, damit er kraftvoll zurückschlägt. Aber genau das tut Jesus nicht. Er bleibt der Gewaltlose. Denn das ist sein Weg. Für viele ein unverständlicher. „Wenn du Gottes Sohn bist, dann …“ Diese Aufforderung hat er oft gehört. Zuletzt am Kreuz. „Wenn du Gottes Sohn bist, dann steig herab und handle!“ Er hat es nicht getan. Warum, bleibt sein Geheimnis. Und so bleiben auch die vielen schmerverzerrten Gesichter, die vielen Fragen, das große Elend durch alle Zeiten hindurch. Es bleibt die Frage: Warum handelst Du nicht?
Diese Frage – sie begleitet uns ein Leben lang. In dieser Woche gehen wir ihr nach, Schritt für Schritt. Ob wir je eine Antwort bekommen? Schwer zu sagen. Aber wir können uns vom ohnmächtigen Jesus inspirieren lassen. Können seine heilenden Hände in dieser Welt sein. Sein Ohr, das den Schrei der vielen Leidtragenden nicht überhört. Sein Blick, der den rotgeweinten Augen der Flüchtenden nicht ausweicht. Wir können handeln so wie er – und in aller Ohnmacht das Böse von innen heraus zur Strecke bringen. Das hört sich naiv an? Vielleicht. Aber wer hätte gedacht, dass der am Kreuz Hingerichtete nach drei Tagen der Lebendige sein würde?
Alexander Bergel
2. Apri
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Predigt am 4. Fastensonntag
zu Joh 9,1-41
Sie zieht sich in die Länge, die Heilungsgeschichte des Blinden. So wie kaum eine andere. Sonst geht es meist recht schnell: „Glaubst du, dass ich dir helfen kann?“, fragt Jesus oft. Und wenn der Kranke antwortet: „Ja, ich glaube, dass du mich gesund machen kannst!“, ist es auch schon passiert. Hier ist es anders. Allerdings nicht zufällig. Indem Johannes lang und breit das Umfeld der Heilung beschreibt und viele Nebengeschichten erzählt, macht er eines deutlich: Sich von Gott berühren zu lassen, das geht nicht nebenbei.
Wenn Gott wirklich in unser Leben dringt, dann tut er es ganz. Alles wird davon erfüllt. Meine Vergangenheit, meine Gegenwart, meine Zukunft. Das Umfeld, in dem ich lebe. Meine Gewohnheiten. Meine Denkstrukturen. Meine Unbeweglichkeit. Alles. Und einen weiteren Grund gibt es: Jeder hat seine „blinden Flecken“. Was für den einen völlig klar, gar kein Thema ist – für den anderen wird es zu einer Herausforderung. Und so lade ich Sie ein, sich auf die Suche zu machen nach Ihren „blinden Flecken“. Und damit auch auf die Suche nach Ihren Heilungschancen! Drei Richtungen der Heilungsgeschichte können uns dabei helfen. Vielleicht bleiben Sie ja bei einer hängen:
Die Jünger fragen Jesus: „Wer hat gesündigt, so dass dieser Mann blind ist – er oder seine Eltern?“ Grausame Frage. Denn Gott ist kein Strafender, der Krankheiten verteilt. Auch wenn manche so denken … Aber: Wie oft passiert es, ja wie einfach ist es, Verantwortung für eigenes Handeln auf andere abzuschieben. Oder unbedingt einen Schuldigen finden zu wollen, den es manchmal aber gar nicht gibt. Neige ich dazu?
„Einige der Pharisäer meinten: Dieser Mensch kann nicht von Gott sein, weil er den Sabbat nicht hält.“ Es gibt sie immer wieder: jene Menschen, die genau zu wissen meinen, wo es lang geht. Was richtig ist und was falsch. Wie Gott ist und wie nicht. Gehöre ich zu diesen Leuten?
„Der Blinde antwortete: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Nur das eine weiß ich: Dass ich blind war und jetzt sehen kann.“ Wer kennt das nicht? Man hält sich bei Nebensächlichkeiten auf. Und verliert den Blick für das, was wirklich zählt. Der Blinde setzt die richtigen Prioritäten. Tue ich das auch?
Verantwortung auf andere abwälzen – in eigenen Denkstrukturen gefangen sein – nur das Schlechte sehen: dies können „blinde Flecken“ sein. Krankheiten, von denen Menschen geheilt werden müssten. Wie sieht das bei mir aus? Müsste ich mich dem vielleicht mal stellen?
Alexander Bergel
19. März
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Predigt am 3. Fastensonntag
zu Joh 4,5-42
Es war um die sechste Stunde. Mittagszeit. Heißer geht es kaum. Da kam eine Frau, um Wasser zu schöpfen. In der Frühe, dann wenn alle anderen kamen, war für sie kein Platz. An diesem Mittag aber, da bekommt sie eine Aufmerksamkeit, die alles verändern sollte. Denn auch Jesus ist da. Eigentlich will er sich nur ein wenig ausruhen. Und einen Schluck trinken. Aber ein Schöpfgefäß, das hat er nicht dabei. Die Frau schon. Und er, er hat etwas, das sie gar nicht mehr kennt. Jesus hat ein offenes Ohr. Und Antworten auf ihre Fragen, die sie ganz tief in sich vergraben hat. Jesus gibt der Frau eine Antwort, die in diese Tiefe hinein geht. Er bietet ihr Wasser, das keinen Durst mehr zulässt.
Je länger sie sich unterhalten, desto deutlicher wird der Frau, woher dieses Wasser kommt. Es kommt von einem, der ins Herz schaut. Der zuhört. Der den Menschen so nimmt, wie er ist. Den Menschen mit seiner Geschichte. Mit seinen Verletzungen und Brüchen. Den Menschen mit seinen Fragen und seiner Sehnsucht. Die Frau merkt – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben: Hier geht es um mich. Dieser Jesus – er wendet sich mir zu. Nur mir. Jetzt. Und er verurteilt nicht. Er bewertet nicht. Er schaut mich an. Und macht aus einer Ausgeschlossenen eine Botschafterin, die sich plötzlich etwas zutraut. Und ihrem Dorf berichtet, was geschehen ist.
Im Gegensatz zu vielen männlichen Verkündern ist der Name der Frau nicht überliefert. Wie so oft. Aber von ihrem Schicksal, von dem, was in ihr steckt, und von dem, was sie sich plötzlich zu trauen wagt, davon sprechen wir bis heute. Zum Glück! Denn auch heute noch gibt es Frauen wie sie. Frauen, die an den Rand gedrängt, die kleingehalten oder sogar verfolgt werden. Und die trotzdem eintreten für ihre Sache. Weil sie spüren: Ich muss es tun! Weil sie spüren: Ich habe einen Auftrag! Weil sie spüren: Wenn nicht ich, wer sonst?
Ich denke an die alte Frau, der ich in der letzten Woche begegnet bin. Ganz plötzlich war da eine Tiefe im Gespräch, mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Es war ein Gespräch über ihr Leben. Und über meines. Über ihren Glauben. Und über meinen. Über ihren Kirchenfrust. Und über meinen. Sie hatte schon so vieles erlebt. So viele Aufbrüche kommen und wieder verschwinden sehen. Weil es da die Mächtigen in der Kirche gibt, die einfach sagen: Nein, das machen wir nicht. Sie hat mir erzählt, wie sie sich diesen Mechanismen entgegengestellt hat. Ohne zu verzweifeln. Jahrzehntelang. Und dann sagte mir diese alte Frau: „Sie erleben das ähnlich, oder? Aber geben Sie nicht auf! Dafür ist die Botschaft Jesu zu kostbar!“ Was für ein Gespräch! Ein Jakobsbrunnen-gespräch mitten in Osnabrück.
Ich denke an die Frauen und Männer, die sich an diesem Wochenende zur letzten Versammlung des Synodalen Weges getroffen haben. Sie haben darum gerungen, wie die Botschaft Jesu in unsere Zeit hineingetragen werden kann. Und zwar so, dass die Strukturen der Kirche, ihr Machtanspruch, ihre Entscheidungen, wer würdig ist und wer nicht, dieser Botschaft nicht mehr entgegenstehen. Viele wollen Veränderungen. Manch Mächtige wollen sie verhindern. Als ob es darum ginge, Gott vor irgendetwas schützen zu müssen. Nein, kein Kirchenmann muss Gott retten oder ihn schützen. Jesus selbst hat sich, hat Gott doch verwundbar gemacht. Hat ihn mitten in diese Welt gestellt. In eine Welt mit all ihren Herausforderungen, Krisen und zerstörerischen Dynamiken. Und mitten in dieser Welt hat Jesus seine Arme weit ausgebreitet und zu allen, zu wirklich allen gesagt: „Kommt, die Tore stehen offen!“ Manchmal musste Jesus zwar auch erst lernen, wie grenzüberschreitend diese offenen Arme sind. Nicht selten sogar haben ihm Frauen dabei auf die Sprünge geholfen. Aber er hat sie geöffnet. Und niemand hat das Recht, die Arme wieder zu schließen und Stopp-Schilder aufzubauen.
Ich denke an die vielen Frauen im Iran, die aufstehen gegen das Regime der Mullahs. Die Kopf und Kragen riskieren, weil sie die Wahrheit sagen. Weil sie sich nicht einreden lassen wollen, dass sie minderwertig sind. Weil sie ihre Heilige Schrift, den Koran, nicht lesen als ein Buch der Unterdrückung, sondern als Botschaft, die den Menschen zu Gott führen will. Und nicht in die Folterkammer oder an den Galgen. Am vergangenen Donnerstag waren zwei von diesen Frauen bei uns in St. Franziskus und haben von ihrem Einsatz berichtet, von ihrer Angst, von ihrer Sorge um die vielen Menschen im Iran, die dem Regime ausgeliefert sind. Und die dennoch aufstehen. Weil sie nicht anders können, als ihre Stimme zu erheben.
Immer wieder sind es Frauen, die den Finger in die Wunde legen. Die mutig voran gehen. Die sich nicht zermürben lassen. Die alles auf eine Karte setzen. Die weiterkämpfen, weiter Ausschau halten. Und oft genug auch einfach weiter sind. Weiter im Denken. Weiter im Fühlen. Weiter im Lieben. Davon könnte die Kirche eine Menge lernen. Ich hoffe, dass sie es irgendwann tut. Und ich hoffe, dass sie sich nicht entmutigen lassen, diese Frauen, dass sie nicht aufhören, aufzustehen und weiterzugehen. Die Frauen an den vielen Jakobsbrunnen dieser Welt.
Alexander Bergel
12. März
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Predigt am 1. Fastensonntag
zu Gen 2,7-9.3,1-7 und Mt 4,1-11
Alles ziemlich märchenhaft: Eine sprechende Schlange, schlauer gar als alle anderen Tiere. Adam und Eva in einem schönen Garten mit erlaubten und verbotenen Früchten. Eine nebulöse Versucher-Gestalt bei Jesus in der Wüste, Flüge zum Tempel und andere Zauberkunststücke. Märchenhaftes zuhauf. Und überall dazwischen: der Versucher, der Durcheinanderbringer – das Böse. Wenn wir in unser eigenes Leben schauen – da ist das Böse alles andere als märchenhaft, nebulös. Im Gegenteil: Wer kennt sie nicht, die Fratze des Bösen, wenn Menschen von Bosheit und Hass und Eifersucht geschüttelt werden, wenn Neid und Missgunst das Herz ergreifen, wenn Menschen sein wollen wie Gott, Herren über Gut und Böse, über Leben und Tod? Und manchmal, ja manchmal sind es dann eben nicht nur die anderen, ist es nicht nur das Unheil, das in der großen weiten Welt geschieht. Manchmal ist es das, was bei mir zu Hause los ist. Dort, wo ich meist ziemlich genau weiß, was falsch ist und böse, verletzend und gemein. Und wo ich es trotzdem tue …
Weil das schon immer so war und so ist und vermutlich auch so bleiben wird – genau deshalb versucht die Bibel, uns immer wieder neu auf die Sprünge zu helfen. Beide Geschichten – Adam und Eva mit der Schlange im Paradies und Jesus mit dem Teufel in der Wüste – beide Geschichten konfrontieren den Menschen mit sich selbst. Aufgeklärten Zeitgenossen mag es zwar albern vorkommen, sich mit nackten Tatsachen im Schatten eines Baumes und mit einer sprechenden Schlange beschäftigen zu müssen. Ebenso grotesk werden es viele finden, allen Ernstes an eine dunkle Gestalt glauben zu sollen, die Jesus mal auf die Tempelmauern, mal auf einen hohen Berg zaubert. Und in der Tat: Es sind mythologische Geschichten. Ein Mythos, das muss man wissen, erzählt, was niemals war, aber immer ist. Was niemals war, aber immer ist. Also: Adam und Eva, die beiden hat es so nie gegeben. Doch es gab einen Anfang. Und von Anfang an gab es Adams und Evas Fragen. Fragen, die bis heute unser Leben bestimmen. In ihnen geht es um Glück und Unglück, um Gelingen und Scheitern, um Macht und Ohnmacht, um Ich und Wir, um Leben und Tod. Und um die Freiheit.
Die ersten Seiten der Bibel mit Adam und Eva, Kain und Abel, mit der Arche Noah, dem Turmbau zu Babel und auch manch andere Erzählung des Alten und Neuen Testaments sind bildhafte Versuche, uns die Welt so vor Augen zu führen, wie sie – wörtlich verstanden – vielleicht niemals war, aber doch immer ist. Und in genau dieser Welt erlebt sich der Mensch als ein In-Frage-Gestellter. Denn er muss sich entscheiden. Dieses Sich-entscheiden-Können, das Sich-entscheiden-Müssen ist zutiefst menschlich. Das Erkennen von Gut und Böse und die daraus resultierende Vertreibung aus dem Paradies ist also vielleicht gar nicht so sehr eine Frage des Ungehorsams Gott gegenüber, sondern die logische Konsequenz daraus, dass zum Erwachsen-Sein die Fähigkeit gehört, eigene Entscheidungen treffen zu können – und zu müssen. Allerdings ist das Ergebnis dabei nicht immer ein gutes. Immer dann, wenn eine Folge der Entscheidung bedeutet, sein zu wollen wie Gott, nimmt das Unheil seinen Lauf. Wohin dies führen kann, erleben wir Tag für Tag. Was Jesus ist der Wüste erlebt hat, ereignet sich auch heute noch. Immer und immer wieder.
Wer kommt auch nicht in Versuchung, wenn sich einem so verlockende Möglichkeiten bieten, wie die Bibel es von Jesus in der Wüste berichtet: Macht, Reichtum, Sein-Können wie Gott? Selbst Jesus war davon nicht frei. Er allerdings durchschaut das uralte Spiel. Er entlarvt die Macht-Spiele der Seele. Er lässt sich nicht einwickeln vom Netz des Bösen. Wie er das schafft? Jesus geht den Dingen auf den Grund. Er stellt Fragen, die tiefer gehen. Jesus lehnt es ab, mächtig zu sein um der Macht willen. Jesus befriedigt seinen Hunger nach Leben nicht mit vordergründigen Genüssen. Und er lehnt es ab, sich an die Stelle Gottes zu setzen. Was bei Adam und Eva begann, was Jesus am eigenen Leib erfahren hat, das hört niemals auf. Das Böse wird sich auch weiterhin durch unser Leben schlängeln. Und immer wieder wird es auch uns vor die Wahl stellen. Ja, diese Freiheit – sie ist wohl eine der größten Herausforderungen des Menschseins, das schwierigste Geschenk des Schöpfergottes an Adam und Eva. Eine Herausforderung bis heute. Aber wir haben alle Möglichkeiten. Irgendwo zwischen Adam und Eva auf der einen und Jesus auf der anderen Seite.
Die alten Geschichten der Bibel erinnern uns daran, was zwar nie so war, aber doch immer ist. Kein Märchen, sondern oft genug harte Realität. Zu dieser Realität gehört aber auch, dass Gott einen Ausweg bereithält. Ganz ohne Hexerei. Er hat uns einen Menschen geschenkt, der gezeigt hat, wie das gehen kann. Mit der Freiheit. Mit dem Leben. Und mit der Liebe. In seinem Namen sind wir hier versammelt. Und in seinem Namen könnten wir es doch noch mal versuchen, oder?
Alexander Bergel
26. Februar
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Predigt am 6. Sonntag im Jahreskreis
zu Mt 5,20-22a.27-28.33-34a.37
Klare Kante. Das war sein Ding. Nicht „jaja“, auch kein „eventuell“ und kein „mal schauen“. Im Gegenteil. Er hat gesagt, was er dachte. Und das war meist ziemlich unbequem. Und sehr konkret. Nur – wie stellt er sich das vor? Wer hat ihn denn nicht? Den Bruder oder den Verwandten, den man am liebsten zum Mond schießen würde. Wer kennt sie nicht? Die Situation, in der man sich sehr schwertut, ehrlich zu sein. Oder wer kommt nicht an seine Grenzen, wenn jemand immer und immer wieder in derselben Wunde rumstochert und sich dann wundert, wenn das Ganze explodiert?
Vielleicht ging es Jesus manchmal selbst so. Denn er hat sie ja erlebt, die Menschen. Die Menschen mit ihren Grenzen und Abgründen. Die Menschen in ihrer Verlogenheit. Die Menschen mit ihrem Hass und dem ewigen Drang, es allen zeigen zu wollen. Vielleicht hatte er sogar Verständnis. Verständnis für alle, die das nicht mehr aushalten. Verständnis für die, die sich wehren wollen. Verständnis für jeden, der resigniert und zurückschlägt.
Und trotzdem sagt Jesus: Nein! Bleib bei dir! Lass dich nicht einwickeln von der Tücke des anderen! Lass dich nicht entmutigen von den vielbeschworenen Dingen, die man ja doch nicht ändern kann. Doch, sagt er, man kann die Dinge ändern! Es ist möglich, den Kreislauf des Bösen zu durchbrechen. Und zwar indem du nicht nur jemanden nicht tötest, sondern dem, der dir so querkommt, keine Macht mehr über dich gibst. Es ist möglich, ehrlich zu sein. Lebe so, dass man dir traut. Auch auf die Gefahr hin, dass andere es ausnutzen.
Natürlich, es gibt sie. Die vielen Gründe, immer und immer wieder benannt, warum das alles doch nur Phantasterei und Wunschdenken naiver Weltverbesserer ist. Warum Jesus ja auch nicht ohne Grund am Kreuz gelandet ist, Auferstehung hin oder her. Warum sich seither nichts verändert hat. Nicht mal in der Kirche. Wir müssen uns doch nur umschauen, wie sehr auch in der Kirche gelogen und vertuscht wird, wie sehr auch hier die Macht des Stärkeren gilt und so vieles starr und unbeweglich bleibt bis zum Jüngsten Tag.
Aber dann gibt es doch auch immer wieder die, die sich das anhören und denken: Ihr habt recht! Es ist mühsam. Aber ich versuche es trotzdem! Denn: Ich kann nicht anders! Wie sähe es heute wohl in Heilig Geist und damit in unserer ganzen Pfarrei aus, wenn es nicht diesen Dieter Wellmann gegeben hätte, der Anfang der 80er-Jahre den Laden auf den Kopf gestellt hätte. Ihm ist es gelungen, die damalige katholische Enge und Schwere in eine Weite und Tiefe zu verwandeln, von der nicht wenige bis heute sagen: Diese neue Sicht, diese ganz andere Erfahrung von Glauben – das hat mich gerettet. Sonst wäre ich nicht mehr da.
Dieter hat es anders gemacht. Weil er fest davon überzeugt war, dass die Gebote Jesu den Menschen zwar herausfordern, aber nicht, um ihn klein zu halten und in klerikale Abhängigkeiten zu bringen, sondern um ihm einen unmittelbaren Zugang zu Gott zu schaffen. Denn dieser Gott ist kein Aufpassergott, der durchs Schlüsselloch schaut und alles mit Argwohn betrachtet, was schön ist. Dieser Gott ist keine alte Jungfer, kein Spielverderber und schon gar kein Sadist, der die Menschen quält.
Dieter Wellmann hat mit Lust und Leidenschaft, mit Herz und Verstand von einem Gott gesprochen, der den Menschen in die Freiheit und in die Weite führt. Viele haben ihn gehört. Manche zehren bis heute davon. Dieter hat diesem Gott geholfen, zur Welt zu kommen. Indem er die Armen kannte und ihnen nahe war. Indem er manch unmöglich Geglaubtes möglich machte. Indem er Menschen zutraute, etwas zu können und sich einzubringen.
Dieter sah die Kirche realistisch. Er hinterfragte, analysierte klug und ging dann seinen Weg. Egal, was seine Vorgesetzten dachten. Und im Gegensatz zu seinem Fußballverein, der mal Deutscher Meister gewesen ist, war Dieter niemals mittelmäßig. Alles auf eine Karte, ganz oder gar nicht – das war seine Devise.
Jesus fordert uns heraus. In Zeiten wie diesen, in denen die Kirche, wenn sie ehrlich ist, nicht mehr strahlend in den Spiegel schauen darf, in Zeiten wie diesen, in denen mitten in Europa ein für unmöglich gehaltener Krieg tobt, in Zeiten wie diesen, in denen überall auf der Welt Menschen an Hunger und Krankheit sterben und viele einfach keine Hoffnung mehr haben, in Zeiten wie diesen, in denen alles den Bach runterzugehen scheint – in Zeiten wie diesen brauchen wir den Mut und die Kraft, die Jesus denen verheißt, die ihm vertrauen. Und die dann – trotz allem – dabeibleiben. Und mitgehen. Und gestalten. Und sich blutige Nasen holen. Weil sie wissen, wofür sie es tun. Dieter Wellmann war so einer. Nicht lange zögern. Einfach machen. Er wäre wahrscheinlich schon längst losmarschiert!
Alexander Bergel
12. Februar
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Predigt am 5. Sonntag im Jahreskreis
zu Mt 5,13-16
Salz brennt. Vor allem in der Wunde. Und in genau diese streut Jesus besonders gerne sein Salz. Das macht ihn so unbequem. Am Anfang versucht er, seinen Zuhörern das Ganze noch schmackhaft zu machen: „Ihr seid das Salz der Welt! Ihr könnt das Ganze würzen mit Lebendigkeit und Kraft, Kreativität und Energie!“ Doch erste Zweifel mischen sich in das Gericht hinein: „Wenn das Salz seinen Geschmack verliert – womit kann man es wieder salzig machen?“
Ja, mit dem Salz ist das so eine Sache. Wir alle wissen, was das bedeutet: zu viel, zu wenig, gar kein Salz. In der Suppe und im Leben. Und wir alle wissen, dass diese schönen plastischen Alltagsbeispiele Jesu keine idyllischen Wellnessratgeber sind, wie man sie in der Landlust oder in der Happynez finden kann. Nein, diese schönen plastischen Alltagsratgeber sollen dem Publikum Jesu mal wieder auf die Sprünge helfen. Und so wird die Rede von der Würzkraft des Salzes zum Salz in der Wunde. Zum Salz in den vielen Wunden, die sich im Laufe eines Christenlebens einstellen können: „Ach, warum soll ich anfangen? Tut ja sonst auch keiner! Hat doch eh alles keinen Sinn – was kann ich kleiner unbedeutender Mensch schon ausrichten? Und: Was hat mir das denn gebracht? Nur Ärger!“ Ja, irgendwie stimmt das alles. Und trotzdem ist alles falsch.
Ich stelle mir vor, Jesus würde darauf seine Antworten geben. Anhören könnte sich das so: „Ja, lieber Mensch, du hast Recht. Die Leute sind unvernünftig, unlogisch und selbstbezogen –liebe sie trotzdem. Das Gute, das du tust, wird morgen vergessen sein – mach es trotzdem. Ehrlichkeit und Offenheit machen dich verwundbar – sei trotzdem ehrlich und offen. Was du in jahrelanger Arbeit aufgebaut hast, kann über Nacht zerstört werden – baue trotzdem weiter. Deine Hilfe wird wirklich gebraucht, aber die Leute greifen dich vielleicht an, wenn du ihnen hilfst – hilf ihnen trotzdem. Gib der Welt dein Bestes, und sie schlagen dir die Zähne aus – gib der Welt trotzdem dein Bestes.“
Dasselbe Salz, das der Welt ihren Geschmack geben kann, schmerzt in unseren Wunden. Als Jüngerin, als Jünger Jesu unterwegs zu sein – das bleibt eine Herausforderung. Aber genau das traut er uns zu. Dazu brauchen wir keine Superkräfte. Nur ein bisschen Mut. Und ein, zwei Leute, die mitgehen. Menschen, die nicht glauben wollen, dass die Argumente der Macht, der Angst und des Marktes das letzte Wort behalten. Solche Menschen zu finden, um gemeinsam Salz zu sein in der Welt, wie sie ist – sind wir nicht auch deswegen hier?
Alexander Bergel
5. Februar
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Predigt zum Jahreswechsel
zu Lk 2,16-21
Wo führt das alles hin? Vielleicht hat sie das gedacht. Denn was sie bisher erlebt hatte, war alles andere als normal. Vielleicht war es nur ein kurzer Moment. Irgendwo zwischen Windelwechsel und erschöpftem Einschlafen. Ein kurzer Moment der Rückschau. Und die bange Frage: Wo führt das alles hin? Es waren aufregende Monate gewesen. Wirklich verstanden hatte sie es vermutlich nicht sofort, als der Engel zu ihr kam und sagte: „Maria, Gott hat Großes mit dir vor! Machst du mit?“ Es ist auch schwer zu verstehen. Mehr und mehr wuchs in ihr aber wohl die Zuversicht, dass es gehen kann: „Ja, ich gehe diesen Weg. Wohin auch immer der führen mag!“ Bei uns stehen eher selten Engel vor der Tür und fragen, ob wir Gottes Plan unterstützen wollen. Aber die Frage: Wo führt das alles hin? – diese Frage kennen wir doch auch.
Ja, wo wird das alles hinführen? Wo führt es hin, dass diese Welt von einer Krise in die nächste schlittert? Wo führt es hin, dass Arme immer ärmer und Reiche immer reicher werden? Wo führt es hin, dass die Gesellschaften überall auf dem Globus immer zerrissener sind? Wo führt es hin, dass wir seit Jahren spüren, wie sehr die Strukturen unserer Kirche Machtmissbrauch begünstigen und das Leben von Schutzbefohlenen, von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, zerstört wird? Wo führt es hin, wenn viele Kirchenführer noch immer nicht bereit sind, wirkliche, das heißt: heilsame Konsequenzen zu ziehen? Wo führt es hin, dass immer weniger Menschen in der Kirche ihr Zuhause finden? Wo führt es hin, dass selbst Menschen, die zum Kern der Gemeinde gezählt haben, nicht mehr kommen? Ja, wo führt das alles hin?
Die Frage: Wo führt das alles hin? versetzt viele in Angst und Schrecken. Und sie macht müde, diese Frage, ungeheuer müde. Immer mehr Menschen sagen von sich: Ich kann nicht mehr. Ich bin fertig. Kriegsangst, Klimakrise, Konflikte überall, kein Geld mehr am Monatsende, eine Kirche, die sich nicht mehr nach Heimat anfühlt und viel vergebliches Tun, egal, wohin man schaut. Was bringt es denn noch? Manche möchten sich einfach nur noch zurück- und die Decke über den Kopf ziehen, Augen zu und irgendwie durch. Eine Zeit lang mag das funktionieren. Aber als Lebenskonzept taugt das wohl nicht. Nur, wie kann es aussehen – ein Lebenskonzept, mein Lebenskonzept? Vielleicht hilft der Blick in das Leben jenes Menschen, in dessen Namen wir hier sind.
Der Weg Jesu – er war nie der eines strahlenden Helden. Von Anfang an war sein Leben ein Leben an der Grenze. Unterwegs geboren, draußen vor der Stadt, von Anfang an konfrontiert mit der Gnadenlosigkeit der Mächtigen, musste auch Jesus seinen Weg erst finden. Musste suchen, wie das gehen kann: eins zu sein mit Gott – aber nicht in einer Traumwelt, nicht an der Welt vorbei, sondern mitten in ihr. Jesus hat die Welt erlebt, wie sie ist. Er hat die Liebe seiner Eltern geschenkt bekommen. Aber nicht das Paradies. Er hat die Schriften seines Volkes kennengelernt. Aber nicht im Rahmen einer Märchenstunde abends am Lagerfeuer. Wer Jesus reden hört, der spürt: Die alten Geschichten von Berufung und Ermutigung, von Befreiung und Rettung, die haben sich deshalb so tief in seine Seele eingegraben, weil sie ihn haben spüren lassen: Darauf kann ich mein Leben bauen! Das ist es doch, wonach sich auch heute so viele sehnen, oder? Diesen einen Grund zu haben, auf den ich mein Leben bauen kann.
Bei allem, was mich so manches Mal sprachlos werden oder gar verzweifeln lässt, bei allem, wo die Übermacht des Faktischen so groß ist, immer dann, wenn ich mich frage: Wohin soll das eigentlich alles führen? – immer dann versuche ich, mich zu erinnern. Zu erinnern an Menschen, die trotz alledem nicht aufgehört haben zu hoffen und zu vertrauen. Ich denke an die Frau, die jahrelang Missbrauch erlebt hat und kämpft und kämpft und immer weiter kämpft, und die in diesem Jahr an Weihnachten einen solchen Frieden in sich gespürt hat, dass ihre leuchtenden Augen für alle in ihrer Nähe wohl das größte Weihnachtsgeschenk waren. Ich denke an die Frauen im Iran, die sich nicht davon abbringen lassen, für ihre Rechte einzutreten, weil sie den Mullahs, die meinen, sie wüssten genau, was Gott will, aber eigentlich nur Angst um ihre Macht haben, den Kampf ansagen. Ich denke an die vielen Frauen und Männer, an die Kinder und Jugendlichen, die sich einsetzen dafür, dass die Fragen nach Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung auf der Tagesordnung bleiben. Ich denke an die Menschen, die in unserer Pfarrei nach Wegen in die Zukunft suchen und dableiben. Und zwar nicht, weil man die Form von Kirche, wie wir sie kennen, unbedingt erhalten muss, sondern weil sie möchten, dass das, was Jesus gelebt, was er verkündet hat und wofür er gestorben ist, nicht in einem institutionellem Kirchensumpf untergeht.
Wo führt das alles hin? Das ist die Frage. Wer ehrlich mit sich ist, muss sagen: Ich weiß es nicht. Der Blick in die eigene Geschichte, der Blick auch in die Geschichte derer, die an diesem Gott festgehalten haben, zeigt doch: Niemand wusste jemals und weiß und wird vermutlich jemals wissen, wohin die Reise geht, wohin all das führt. Aber solange es Menschen gibt, die diese Unsicherheit miteinander aushalten, solange es Menschen gibt, die einander fragen: „Worauf baust Du eigentlich Dein Leben?“, solange es Menschen gibt, die Kraft schöpfen aus dem Glauben an einen Gott, der in Jesus Hand und Fuß bekommen hat, solange es Menschen gibt, die deshalb immer wieder nach Wegen suchen am Abgrund vorbei – so lange habe ich die Hoffnung, dass kein Unheil der Welt mein Leben zerstören kann. Und mit dieser Hoffnung gehe ich in ein neues Jahr. Am liebsten mit Ihnen zusammen!
Alexander Bergel
31. Dezember
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Predigt an Weihnachten
zu Jes 9 und 11 und Lk 2,1-15
Wenn ein Kalb mit einem Löwen grast und ein Kind sie hüten kann … Wenn ein ganzes Volk auf einmal ein strahlendes Licht erblickt … Wenn eine jede und ein jeder sich dorthin auf den Weg macht, wo sie, wo er geboren wurde … Wenn diese Begebenheiten aufeinandertreffen, so wie eben in den Texten des Alten und Neuen Testaments gehört, bei Jesaja und Lukas, dann, ja dann sind wir mittendrin in dem Versuch, die Geschehnisse rund um Weihnachten zu beschreiben, zu ertasten, zu erfühlen, zu erahnen.
Und wir lassen uns ein wenig verzaubern von den Kerzen, gleich noch von dem Duft des Weihrauches, vom Gesang, den biblischen Erzählungen, von unseren Sehnsüchten, vom Anblick der wundervoll gestalteten Krippe, die in diesem Jahr von den Kindern der Kita St. Antonius mitgestaltet wurde. Das alles möchte uns auf den einen Punkt hinführen: Gott als Mensch – und zwar mit aller Konsequenz und genau so, wie Leben immer beginnt. Mit der Geburt. Sein Leben beginnt im Stall, mit Hirten und Schafen, Ochs und Esel und Stroh und einem leuchtenden Stern. So steht es (jedenfalls) geschrieben …
Geschichten zu hören, und wir reden hier von unserer Lebens- und Glaubensgeschichte, bringt in mir manchmal die Frage zum Vorschein, wer oder was wäre ich gerne gewesen, als Zeitzeuge, ja, wenn ich hätte dabei sein können … Da ich gerne am Feuer sitze, wollte ich lange ein Hirte sein – natürlich auch deshalb, weil ich dann ein echter Entdecker gewesen wäre … Die Hirten haben mich immer fasziniert. Sie sind so ruhig, haben alles im Blick und übersehen auch Kleinigkeiten nicht. Und sie kennen ihre Herde. Jede und ein jeder von uns hat vielleicht schon einmal darüber nachgedacht, welche Rolle sie/er in dieser Geschichte einnehmen würde … Wenn nicht, nur Mut! Und stellen Sie sich dabei die Frage: Was bewegt mich daran am meisten?
Die Botschaft von Weihnachten ist klar und undurchsichtig, hell und dunkel, kalt und warm zugleich. Sie fragt uns an, fordert uns heraus. Wir haben den Wunsch nach Wärme und Licht und wissen doch zu genau, dass es das an vielen Stellen nicht gibt. Nicht jetzt, nicht morgen und auch in naher Zukunft nicht … Und jetzt wird es gefährlich für mich. Warum? Es ist die Stelle der Erklärungsversuche, aber wie? Weihnachten politisch werden? Die Klimafrage und damit die Frage nach der Zukunft der Menschheit stellen? Kirchenkritik äußern? Die Kriege und den Hunger missbilligen und sofortigen Stopp fordern? Die Dinge beim Namen nennen? Aber wie damit anfangen? Dieses Kind im Stall als Heilsbringer für alles verherrlichen und missbrauchen?
Ich kann Ihnen nur sagen: Weihnachten zerreißt mich immer wieder aufs Neue. Ich glaube an diesen Gott, ich glaube an das Kind im Stall, ich glaube an Jesus den Christus, der alles versucht hat um Frieden zu stiften in seinem kurzen Leben … Und an manchen Tagen sind die Zweifel größer als der Glaube … All das kennen wir … Ich möchte einfach in diesen Stall schauen und für einen Moment sagen dürfen: Alles wird gut! So wie Eltern es ihren Kindern sagen, wenn sie sie tröstend auf dem Arm halten. Und ich möchte es glauben können – dieses „Alles wird gut!“. Wird es aber nicht. Jedenfalls nicht immer und nicht immer sofort und schon gar nicht, wenn ich es gerne hätte … Dieses Kind im Stall, dieser Jesus von Nazareth wird für seine Botschaft am Kreuz enden, und es wird nicht dabei bleiben. Es wird das Leben siegen, und es wird Ostern folgen. So unser Glaube … So unsere Hoffnung …
Wie Eltern ab der Geburt ihres Kindes dieses ein Leben lang begleiten, so begleitet uns dieser Jesus von Nazareth vom Stall aus mit all seinen Erlebnissen und Geschichten … Unser Leben, mein Leben lang, wenn ich es zulasse. Verbunden mit unzählig vielen Fragen, Gedanken, Aufforderungen … Wenn ein Kalb mit einem Löwen grast und ein Kind sie hüten kann … Wenn ein ganzes Volk auf einmal ein strahlendes Licht erblickt … Wenn eine jede und ein jeder sich dorthin auf den Weg macht, wo sie, wo er geboren wurde … Wenn wir den Glauben daran nicht verlieren, das Wunder dieser Tage zu beschreiben, zu ertasten, zu erfühlen, zu erahnen … Wenn wir das zulassen, kann in Ihnen, in uns, in mir diese heilige Nacht anbrechen …
Dirk Schnieber
24. Dezember
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Predigt an Weihnachten
zu Lk 2,1-15
Eigentlich ist doch schon alles gesagt. Über dieses Kind. Und über das, was damals in Betlehem geschah. Oder? Tausendmal schon haben Sie gehört, dass Gott Mensch geworden ist. Einer von uns. Dass er eine Brücke geschlagen hat. Von seiner Welt in unsere. Sie haben gehört, dass Weihnachten das Fest der neuen Anfänge ist. Weil Gott selbst diesen einzigartigen Anfang gesetzt hat, nachdem alles andere nicht wirklich funktioniert hat, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Wie oft haben Sie all das wohl schon gehört und gedacht: Schön, wenn all das wahr wäre! Aber dann ist da die Realität. Und vor der können wir nicht weglaufen. Nicht mal an Weihnachten.
Wir können nicht weglaufen davor, dass die Welt immer sicherer am Abgrund steht. Können nicht weglaufen davor, dass Kriege toben, nicht mehr nur weit weg, am anderen Ende der Welt, sondern fast vor unserer Haustür. Wir können nicht weglaufen davor, dass immer mehr Menschen immer ärmer werden, vielleicht sogar im Haus, im Wohnblock gegenüber. Wir können nicht weglaufen davor, dass grenzenloser Hass einfach nicht einzudämmen ist, dass die Natur stöhnt wie nie zuvor, dass Minderheiten gedemütigt und verfolgt werden, dass korrupte Menschen gut durchkommen, dass diese Idee Gottes, er selbst kommt in die Welt, um von innen heraus den Neustartknopf zu drücken – am Ende nichts verändert hat.
Und doch sind Sie hier. Obwohl Sie all das wissen. Und obwohl Sie all die Antworten kennen, die an Weihnachten gegeben werden, aber sich doch irgendwie nach Vertröstung und Märchen am Lagerfeuer anhören. Sie sind hier. Und warten. Vielleicht darauf, dass Sie etwas hören, das Sie überzeugt. Nur – was könnte das sein? Ich glaube, die Antwort darauf tragen Sie bereits tief in sich. Ihre Sehnsucht nämlich. Die Sehnsucht danach, dass das, was wir hier feiern, wahr ist. Und die Kraft hat, Ihr Leben zu prägen und zu stärken.
Auch wenn schon so ziemlich alles gesagt wurde über dieses Kind und über das, was an Weihnachten geschah – entscheidend wird sein, was dies in Ihnen auslöst. Die alten prophetischen Worte vom Licht in der Dunkelheit, die Fabel vom Löwen und dem Lamm, die friedlich beieinander liegen, die Botschaft vom blutbefleckten Hemd, das ein für alle Mal im Feuer verschwindet, und diese einzigartige Geschichte von Maria und Josef, die mitten in der Nacht Zeugen davon werden, wie ein Kind das Licht der Welt erblickt – all das ist eben keine Beruhigungspille, sondern fleischgewordene Erfahrung, dass es sich zu leben lohnt. Dass unsere Möglichkeiten größer sind, als wir oft ahnen. Dass Ungeheures Wirklichkeit werden kann, wenn wir uns dem öffnen. Auch wenn es nur einen Augenblick lang dazu führt, das Gefühl zu haben: Ich bin geliebt. Und gewollt. Und: Ich kann etwas tun.
Genauso fing es doch damals auch an. Oder glauben Sie, dass Maria sofort wusste, was sie tun sollte, als der Engel wieder weg war? Jener Engel, der ihr gesagt hatte, sie werde die Mutter des erwarteten Messias. Nein. Denn diese Engelsstimme hatte alles durcheinander- gewirbelt. Maria brauchte Zeit. Zeit, um zu verstehen, was Gott mit ihr vorhatte. Oder Josef.
Er hätte gute Gründe gehabt zu gehen. Von wegen Heiliger Geist und so. Aber was macht er? Er bleibt. Auch er horcht tief in sich hinein. Und hört dort eine Stimme, die ihn fragt: Du hast recht, Josef, es ist alles ziemlich verrückt. Aber bleibst du trotzdem? Oder die Hirten, die Outlaws jener Tage, die missachtet wurden von denen, die es zu etwas gebracht hatten – sie sitzen im Dunklen, und dann begegnen sie völlig unerwartet einem Kind, das ihr Gesicht zum Leuchten bringt.
Geht es nicht genau darum? Dass in uns etwas zu leuchten beginnt? Weil wir spüren, dass das, was wir hier und heute feiern, nicht nur die Erinnerung an etwas längst Vergangenes ist, sondern in uns und durch uns wirken kann? Auch wenn über dieses Kind schon so unendlich viel gesagt wurde, auch wenn viele zurecht fragen: Was bringt es mir? Auch wenn Weihnachten nicht die Antwort auf alle Fragen bietet – eines könnte doch geschehen: Dass wir entdecken, wie in uns Weihnachten wird, wie der armselige Stall in uns mit Glanz erfüllt wird, wie in uns der Frieden wächst und wie durch uns die Sehnsucht nach alldem eine Stimme bekommt, die man nicht überhören kann. Ich kann es Ihnen nicht versprechen, aber vielleicht beginnt Ihr Gesicht dann ganz voll allein zu leuchten …
Alexander Bergel
24. Dezember
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Predigt am 4. Adventssonntag
zu Mt 1,14-28
Was wäre, wenn Josef das Spiel nicht mitgemacht hätte? Wenn er seiner Frau nicht geglaubt, wenn er vielmehr gesagt hätte: „Du, wenn das alles so war, wie du sagst, Maria, dann kann sich doch auch der Heilige Geist um euch kümmern!“ Hat er aber nicht. Was Josef gesagt hat, was er jemals gesagt hat, das weiß niemand. Kein einziges Wort ist von ihm überliefert. Was er getan hat hingegen, davon sprechen wir bis heute.
Josef war sensibel genug, um auf das zu hören, was tief in ihm geschieht. Er achtet auf seine Träume. Auf das, was sprachlos in ihm schlummert und worin sich vielleicht sogar eine göttliche Botschaft verbirgt. Und Josef war stark genug, um nicht gekränkt das Weite zu suchen. Er will wissen, was los ist. Aber als er eine Antwort bekommt, die – gelinde gesagt – ungewöhnlich ist, fasst er sich ein Herz. Und bleibt.
Hören und bleiben – zwei nicht immer ganz leichte Reaktionen auf das, was einem das Leben an Herausforderungen präsentiert: die Ohren nicht verschließen vor unbequemen Botschaften und bleiben, wenn eigentlich alles zum Weglaufen ist. Die Frage, ob Gott nicht auch hätte Mensch werden können, wenn der Heilige Geist vielleicht ganz natürlich durch einen leiblichen Vater gewirkt hätte, kann ich für mich eindeutig mit Ja beantworten. Mir ist es nicht besonders wichtig zu wissen, wie sich die Zeugung Jesu abgespielt hat.
Erzählungen wie diese wollen das auch gar nicht bis ins Letzte durchbuchstabieren. Ihnen geht es vielmehr darum zu zeigen, was passiert, wenn Menschen offen bleiben für Gottes Wirken in der Welt. Gott konnte Mensch unter Menschen werden, weil eine Frau sich hat berühren lassen von einer Frage. Und weil ein Mann nicht weggelaufen ist, obwohl es jeder verstanden hätte. Manchmal hätte ich auch lieber eine klare Antwort. Wüsste am liebsten immer, woher etwas kommt, warum etwas so ist, und wohin die Reise geht. Aber die Realität ist meist eine ganz andere.
Am Beginn der Weihnachtsgeschichte begegnet uns eine Frau, durch die etwas ganz Neues geschehen konnte. Weil sie Unmögliches für möglich hielt. Und uns begegnet ein Mann, der seiner Frau glaubte und so Gott half, zur Welt zu kommen. Eine Mutmachgeschichte aus ferner Vergangenheit. Ob mir das Mut macht zu bleiben, wenn eigentlich alles zum Weglaufen ist?
Alexander Bergel
18. Dezember
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Predigt am 3. Adventssonntag
zu Mt 11,2-11
Rosarot ist hier gar nichts. Im Gegenteil. Johannes sitzt im Gefängnis. Dorthin hatten sie ihn gebracht. Ihn, der alles durcheinanderzuwirbeln drohte. „Aber doch nicht mit uns!“, dachten sich die Mächtigen. „Weg mit ihm, bevor es zum Aufstand kommt.“ Später, sehr viel später sollte es ihn dann auch geben – den Aufstand des geknechteten Volkes gegen die Macht der Mächtigen. Aber er wurde niedergeschlagen von den Römern. Danach war nichts mehr wie vorher. Das Volk: zerstreut in die ganze Welt. Der Tempel: niedergerissen. Die Idee der Freiheit aber, die lässt sich nicht auslöschen. Bis heute nicht. Die Idee von einem Leben, das für alle lebenswert ist. Die Idee von einer Gesellschaft, in der alle dieselben Rechte haben. Die Idee von einem Gott, der unterschiedslos alle Menschen liebt.
Johannes der Täufer war eine revolutionäre Gestalt. Einer, der den Kompromiss nicht ertragen konnte. Einer, der es genau wissen wollte: Ja oder nein! Solche Leute stören. Aber solche Leute braucht es immer wieder, damit die Welt nicht vor die Wand fährt. Johannes sitzt nun in den vier Wänden seines Kerkers. Er ahnt, dass es seine letzten Stunden sind. War denn alles umsonst? Hätte er vielleicht doch kompromissbreiter sein müssen? Hatte er sich verschätzt? War der, auf den er gezeigt hatte, war dieser Mann aus Nazareth, sein Verwandter doch nicht der, von dem er gedacht hatte: Er ist der Retter der Welt? „Bist du der, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Mit anderen Worten: Habe ich mich getäuscht? Oder bist du es wirklich?
Johannes steckt in einer tiefen Krise. Wie so viele Menschen, die kämpfen für eine andere Welt. Für die Zukunft der kommenden Generation. Für das Überleben. Für Freiheit. Für Gleichstellung. Für Gerechtigkeit. Für Frieden. Die Sehnsucht nach all dem ist groß. Aber wie oft führt ein solches Engagement auch zum Erfolg? Wie oft kann man sagen: Es hat was gebracht? Ist nicht oft das genaue Gegenteil der Fall? Was ist aus den vielen Kämpferinnen und Kämpfern für die Menschenrechte geworden? Die Gefängnisse der Regime sind voll. Galgen werden aufgerichtet ohne Zahl. Gegner in Schauprozessen abgeurteilt. Das ist die Realität. Immer noch. Und immer wieder. Und die Frage lautet: Wie lange sollen wir denn noch warten? Und vor allem: Auf wen?
Johannes der Täufer wurde erst mundtot gemacht und am Ende getötet. Wie so viele vor ihm und danach. Die Antwort, die ihm der gegeben hatte, den er fragen ließ – ob sie ihm kurz vor Ende seines Lebens noch einen Funken Hoffnung gegeben hat? „Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet.“ Gibt es sie? Blinde, die wieder sehen, Lahme, die wieder gehen, Aussätzige, die wieder rein werden, Taube, die wieder hören, Tote, die wieder aufstehen, und Arme, denen eine Botschaft verkündet wird, die ihr Leben froh macht?
Die rosarote Farbe dieses Sonntags kann und will das Dunkle der Welt nicht übertünchen. Aber erinnern kann sie und ermutigen! Erinnern daran, dass die Ideen des Jesus von Nazareth, für die Johannes seinen Kopf hingehalten hat, bis heute wirken und immer wieder Menschen inspirieren, nicht aufzugeben. Die rosarote Farbe dieses Sonntags kann und will das Dunkle der Welt nicht übertünchen. Aber erinnern kann sie und ermutigen! Ermutigen dazu, nicht der Hoffnungslosigkeit zu erliegen, sich einzurollen und zu meinen: Es nützt ja doch alles nichts!
Ob Johannes die Antwort auf seine Frage noch bekommen hat, ist nicht überliefert. Ist auch nicht mehr wichtig. Wichtig aber wäre etwas anderes. Dass wir nach diesen Antworten suchen. Und sie vielleicht sogar finden. Wenn wir uns gegenseitig ermutigen und einander erzählen. Davon, was uns am Leben hält. Davon, wo wir mit ungeahnter Kraft Dinge beim Namen genannt und vielleicht sogar verändert haben. Davon, wo wir unerwartet unterstützt, beschenkt oder ermutigt wurden. Davon, wo mit unserer Hilfe das Dunkle nicht mehr dunkel war. Vielleicht ist das alles gar nicht so spektakulär. Macht nichts. Aufs Anfangen kommt es an. Und aufs Durchhalten.
Alexander Bergel
11. Dezember
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Predigt am 2. Adventssonntag
zu Jes 11,1-10, Röm 15,4-9 und Mt 3,1-6
An jenem Tag.
Ein bisschen hört sich das an wie:
Es war einmal.
Wie im Märchen also.
Und in der Tat:
Die Bilder, die Jesaja da zeichnet,
haben schon märchenhafte Züge:
„Der Wolf findet Schutz beim Lamm,
der Panther liegt beim Böcklein.
Kalb und Löwe weiden zusammen,
ein kleiner Junge leitet sie.“
Ach ja,
wie schön wäre das doch alles.
Aber – seien wir ehrlich:
Es ist und bleibt ein Märchen.
Etwas für Träumer.
Doch bevor wir das mit einem müden,
weil erfahrenen Lächeln abtun:
Vielleicht ist das wirklich was für Träumer!
Für Träumer allerdings,
die sich nicht in eine Märchenwelt flüchten,
sondern mit beiden Beinen
auf dem Boden stehen.
Die Welt wird nur dann eine Zukunft haben,
wenn es Menschen gibt,
die träumen.
Die träumen von einem Leben
in Gerechtigkeit und Frieden.
Ohne Hass und Gewalt,
Neid und Missgunst,
Fanatismus und Tod.
„Alles, was einst geschrieben worden ist,
ist zu unserer Belehrung geschrieben,
damit wir durch Geduld und durch den Trost der Schriften
Hoffnung haben.“
So bringt es Paulus auf den Punkt.
Der Täufer Johannes
geht noch einen Schritt weiter.
Er erinnert uns daran,
dass aus der Erinnerung
die Tat werden muss:
„Meint nicht, ihr könntet sagen:
Wir haben Abraham zum Vater.“
Wir stehen im Advent.
Es ist die Zeit der Träume.
Die Zeit der Hoffnung.
Und die Zeit der Tat.
Eine Zeit also
besonders für Menschen,
die schon alles haben
und nichts mehr erwarten.
Eine Zeit für Menschen,
die alle Antworten kennen,
aber nicht mehr die Fragen,
die dazugehören.
Für Menschen,
die sich mit Fahrplänen auskennen,
aber nicht mehr das Verlangen haben
aufzubrechen.
Eine Zeit für Menschen,
die sich nicht mehr erinnern können
an die Träume des Anfangs,
an die Neugier des Aufwachens,
an den Ruf, der von weit her kommt.
Für Menschen,
die sich im Winterschlaf verkriechen
und betäuben mit allem Möglichen,
um ihren Hunger nicht zu spüren.
Eine Zeit für Menschen,
die sich alles zurechtgelegt,
aber keinen Platz mehr haben
für etwas, größer als das Herz.
Ja,
für all diese Menschen
– vielleicht gehören wir auch dazu –
könnten wir bitten:
Um Neugierde.
Um Unruhe.
Um Sehnsucht.
Um Ungeduld.
Um Zukunft.
Manchmal
werden Bitten
sogar erhört.
Nicht nur
im Märchen.
Alexander Bergel
4. Dezember
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Predigt am 1. Adventssonntag
zu Mt 24,27-34
„Sofort nach den Tagen der großen Not wird sich die Sonne verfinstern, und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Völker der Erde jammern und klagen.“ Jesus blickt in die Zukunft. In eine Zukunft, in der genau das passiert. Ist seine Zukunft unsere Gegenwart? Blutige Konflikte, heimtückische Terroranschläge, Zerstörung der Natur, überall Unsicherheit und Angst vor dem, was noch alles kommen mag. Werte und Ordnungen werden erschüttert; viele Menschen haben die Orientierung verloren. Ist das nicht unsere Realität?
„Die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann werden alle Völker der Erde jammern und klagen.“ Alte Bilder sind es. Aber sie sagen auch heute noch etwas Entscheidendes: Unsere Welt ist nicht ewig, nichts in ihr hat auf ewig Bestand. Die scheinbar sicheren Ordnungen, auf die wir uns meist verlassen, sie sind vergänglich. Die großartigen Systeme dieser Welt, sie brechen eines Tages zusammen. Auf sie ist kein endgültiger Verlass. Von den mächtigen Reichen der Geschichte, ihrem sagenhaften Reichtum und mit Kunstschätzen erfüllten Städten sind nur Ruinen übriggeblieben.
Es ist Advent. Jedes Jahr aufs Neue konfrontiert uns diese Zeit mit Fragen: Wozu das alles? Und: Was trägt mein Leben? Was gibt ihm Sinn? Ja, was bleibt am Ende übrig, wenn ich mir die Welt um mich herum anschaue? Die Welt, in der Menschen sich gegenseitig abschlachten, in der Menschen anderen das Recht zu leben nehmen? Was bleibt von meiner Welt, in der es doch oft genug auch nur darum geht, am Ende als der Stärkere da zu stehen, als der, der es geschafft hat. Was bleibt?
Es ist Advent. Die Zeit der Erschütterung, wie es jemand mal auf den Punkt gebracht hat. Zeit der Erschütterung … Ja, wenn wir uns noch erschüttern lassen, dann spüren wir nicht nur, wie unfertig die Welt, wie erlösungsbedürftig sie ist – sondern wir tun etwas. Und dann, ja dann, wenn wir alles getan haben: die Hungernden gespeist, die Kranken besucht, die Traurigen getröstet, wenn wir uns aufgerieben haben und müde sind und es wieder nur ein Tropfen auf den heißen Stein war – dann wird am Ende ein anderer kommen und das Werk vollenden, das über unsere Kraft ging. Darum dürfen wir nicht nur am Ende unseres Lebens, sondern praktisch jeden Abend sagen: Komm, Herr Jesus! Das ist Advent: Zeit der Tat. Und Zeit der Erwartung.
Alexander Bergel
27. November
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Predigt am Christkönigsfest
zu Lk 23,35b-43
Was für ein Vertrauen! Kurz vor seinem Tod bittet einer, der bald sterben wird, einen anderen Todgeweihten: „Denk an mich, wenn du in dein Reich kommst.“ Vielleicht kannte er Jesus bereits. Vielleicht begegnet er ihm auf Golgota aber auch zum ersten Mal. Nur ein paar Stunden hängt er neben diesem Mann aus Nazareth – und vertraut ihm sein Leben an. „Heute wirst du mit mir im Paradies sein!“, lautet dann auch die Antwort Jesu. Und sie gilt nicht nur ihm, sondern allen, die das hören. Heute wirst du mit mir im Paradies sein! Nicht irgendwann – heute! Also, Mensch: Vertrau mir doch – auch wenn die Fakten dagegen sprechen! Vertrau mir doch – auch wenn dich alle hängen lassen! Vertrau mir doch – auch wenn du keinen Ausweg siehst!
Ja, mag da mancher denken, das hört sich alles so schön an. Und die Geschichte vom heruntergekommenen Gott, von dem, der mich kennt, wie ich bin, der auch in Leid und Tod an meiner Seite ist – all das ist sehr ergreifend. Aber wirklich ergriffen bin ich von diesem Elend, von all den Sorgen, meinen eigenen und den der vielen anderen. Wirklich ergriffen und verunsichert, ja und auch verstört und verletzt bin ich von den vielen Mächten des Todes in meiner kleinen und in der großen Welt … Heute wirst du mit mir im Paradies sein – mir sagt das keiner! Es ist so weit weg, dieses Paradies.
Das stimmt. Es ist weit weg, das Paradies. Und trotzdem ist es da. In uns. Sicher, so werden auch psychologische oder esoterische Trostpflaster verteilt. Und die Religion stand ja schon immer im Verdacht, die Massen beruhigen zu wollen. Aber genau das ist mit Jesus eben nicht zu machen. Er hat die Schwachen stark gemacht und die Kranken gesund. Er hat Kinder und Frauen vom Rand in die Mitte gestellt. Er hat die Wunden der Menschen, die dämonischen Schatten ihrer Vergangenheit ernst genommen und so Heilung geschenkt. Jesus hat den politischen und religiösen Führern den Kampf angesagt, weil sie vergessen hatten, wofür sie da waren. Jesus hat nie vertröstet. Er hat die Dinge beim Namen genannt. Er hat Perspektiven eröffnet. Er hat geheilt. Deshalb hängt er am Kreuz.
Geplant hatte er das sicher nicht. Aber je mehr Jesus seinen Weg fand und ihn konsequent ging, desto mehr wurde ihm auch klar, wie sehr beides zusammen gehört: Handeln und Vertrauen. Jesus konnte seinen Weg der Liebe und der Klarheit nur gehen im Vertrauen auf seinen Vater. Und dem vertraut er – bei allem Zweifel, bei allem inneren Kämpfen – bis zum Schluss. Die Ahnung vom Paradies verliert er nie.
Lange ist das her. Und Argumente dagegen gibt es nach wie vor zuhauf. Aber dann gibt es noch diesen Mann am Kreuz, der Jesus vielleicht nur diese paar Karfreitagsstunden erlebt hat – und dennoch oder vielleicht gerade deswegen alles auf diese eine Karte setzt. Dann gibt es uns, die wir oft wie in einem langen, unendlich langen Karsamstag darauf warten, dass endlich Ostern wird. Und dann, ja dann gibt es da noch etwas – diesen kleinen Mutmacher des Evangelisten Lukas. Erinnern Sie sich? Richtig: Das kleine Wörtchen „Heute“. Siebenmal taucht es in seinem Evangelium auf. Das letzte Mal in tiefster Verzweiflung. Am Kreuz. Und immer heißt es: Trau dich, Mensch. Trau dich zu vertrauen. Ja, trau dich! Nicht irgendwann. Heute!
Alexander Bergel
20. November
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Predigt am 31. Sonntag im Jahreskreis
zu Lk 19,1-10
Damit hatte er nicht gerechnet. „Zachäus, komm schnell herunter. Ich muss heute bei dir zu Gast sein!“ Zu Gast – bei mir? Bei dem, den keiner leiden kann? Aber die Leute – man sieht ja, was die denken: „Jesus bei diesem Sünder? Das geht gar nicht!“ Doch – das geht. Ganz offensichtlich. Und alles wird anders. Mit einem Mal begreift der kleine Mann – der, den keiner mag, weil er sich fremdes Geld unter den Nagel reißt, und den man zum Teufel wünscht –, mit einem Mal begreift er: Es ist egal, was war. Nun kommt es darauf an, was wird!
Es scheint zu den Spezialitäten dieses Jesus aus Nazareth zu gehören, schräge Typen nicht links liegen zu lassen, sondern sich mit ihnen zu beschäftigen. Bei den Normalen hat er oft keinen großen Erfolg. Die gemütliche Bürgerlichkeit lässt sich auch nicht so gerne hinterfragen. Bei denen aber, die sich verrannt haben, deren Leben wie eine Achterbahn verläuft, die nichts mehr zu verlieren haben, bei denen, die richtig tief im Dreck sitzen, die mehr Fragen haben als Antworten, und schon gar keine glatte Biographie – bei solchen Leuten klingelt Jesus immer wieder gerne an. Und die Begegnung mit ihm verändert alles. Nur warum?
Vielleicht, weil er nicht gleich mit Forderungen kommt. Weil er nicht sagt: „Du, bevor wir ins Geschäft kommen, musst du erst mal dein Leben ändern, frömmer werden und permanent Gutes tun.“ Nein, Jesus ist einfach da. Spricht die Leute an, hört zu. Und wartet. Wartet ab, was passiert. Was wäre, wenn Jesus bei mir anklopfen und sagen würde: „Heute bin ich bei dir zu Gast!“ Was würde er dort finden?
Alexander Bergel
30. Oktober
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Predigt am 30. Sonntag im Jahreskreis
zu Lk 18,9-14
Hauptsache, die Fassade stimmt. Hauptsache, ich stehe gut da. Hauptsache, meine Schatten merkt keiner. Wer denkt das nicht manchmal? Es muss doch auch wirklich nicht jeder wissen, wie es in mir aussieht, oder? Natürlich nicht. Und trotzdem: Kann man auf Dauer so leben? Nur an der Oberfläche? Hauptsache, keiner merkt was?
Zwei Personen begegnen uns heute. Personen aus längst vergangener Zeit. Ein Pharisäer. Und ein Sünder. Also einer, der alles richtig macht – und das Gegenteil davon. Der Dritte allerdings, der, der uns diese beiden Typen vorstellt – Jesus –, der entlarvt das Spiel, bevor es in die zweite Runde geht. Jesus nennt die Probleme beim Namen: Nicht der religiöse Hochleistungssportler hat die Nase vorn, nicht der, an dessen Selbstgerechtigkeit alles abperlt, nicht der, der aus Angst vor dem Leben seine Fassade permanent übertüncht mit den quietschigen Farben der eigenen Überlegenheitsphantasien, nicht der hat die Nase vorn, sondern der, der sich selbst realistisch einschätzt – und die eigene Schwäche nicht überspielt. Wer so lebt und handelt, den stellt Jesus aufs Siegertreppchen.
Denn bei Gott ist der groß, der sich selbst nicht so wichtig nimmt. Bei Gott ist der groß, der vor seiner Schwäche nicht davon läuft. Bei Gott ist der groß, der sich nicht auf Kosten anderer zum Helden stilisiert. Bei Gott ist der groß, der in erster Linie den Menschen sieht und nicht das Gesetz. Bei Gott ist der groß, der nicht auf alles eine Antwort hat. Bei Gott ist der groß, der damit rechnet, dass Gott sein Herz berührt. Und der sich noch überraschen lässt.
Das ist alles lange her. Pharisäer gibt’s hier keine und stadtbekannte Sünder sowieso nicht. Das stimmt. Vielleicht stimmt aber noch mehr, dass wir diese beiden Typen doch nur allzu gut kennen. Und zwar, weil sie in uns wohnen – je nach Lage der Dinge, je nach Situation, je nach Stimmung, je nach Prägung oder eigener Geschichte. Sie merken: Plötzlich ist das alles gar nicht mehr so weit weg, sondern Teil unseres Lebens. Was also tun? Weglaufen wäre die einfachste Variante. Aber das bringt nichts. Dann bleiben die beiden Untermieter auf ewig unversöhnt bei uns wohnen. Man könnte das Pharisäerhafte und das Schwache in uns aber auch mal nebeneinander setzen und ins Gespräch bringen. Unsere überhebliche Seite und die realistische. Den Hang zum strahlenden Sieger und die eigene Hilflosigkeit. Die religiös sichere Seite und jene, die mehr Fragen hat als Antworten.
Einfach ist das nicht, na klar. Wie so oft, wenn Jesus uns den Spiegel vorhält. Aber es wäre ehrlich. Und was würden wir dadurch verlieren? Richtig: Nichts. Im Gegenteil: Wir würden gewinnen. Und zwar einen realistischen Blick auf uns selbst. Und dadurch auch auf die anderen. Das wäre doch mal eine Perspektive, oder?
Alexander Bergel
23. Oktober
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Predigt am 29. Sonntag im Jahreskreis
zu Lk 18,1-8
„Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen!“ Schöne Verheißung! Aber ist das unsere Erfahrung? Handelt Gott wirklich, wenn ich ihn bitte? Bereits am letzten Sonntag war das die große Frage. Handelt Gott, wenn ich ihn bitte? Viele würden sagen: „Nein, tut er nicht. So oft schon habe ich ihn um etwas gebeten. Und nichts ist passiert.“ Am Ende bleiben meist viele Fragen. Manche Unsicherheiten. Und auch Wunden: „Warum, Gott, erhörst du mich nicht? Bin ich dir denn egal?“
Mitten in diese Fragen hinein platzt Jesus mit einem Gleichnis, das es in sich hat. Jesus vergleicht Gott mit einem Richter. Einem, dem es egal ist, was um ihn herum geschieht. Letzten Endes aber lässt er sich doch bewegen. Die Aufdringlichkeit der Witwe, sie sorgt dafür, dass der Richter ihr zu ihrem Recht verhilft. Muss man Gott also doch nur lange genug in den Ohren liegen? Hilft eine 5-Kilo-Kerze, entzündet an einem der großen Wallfahrtsorte dieser Welt, dem Gedächtnis Gottes auf die Sprünge? Muss man nur oft und lange genug das Kreuz von Lage um die Kirche tragen, damit der Kranke wieder gesund wird? Ist Gott also doch wie eine Maschine, die nur manchmal etwas länger braucht, bis sie unsere Wünsche erfüllt? Drückt Gott am Ende naturgesetzmäßig doch beide Augen zu und wirkt ein Wunder, wenn er es nicht mehr ertragen kann, das Gebitte und Gebettele?
Fast scheint es so zu sein: Wer lang genug betet, bekommt das gewünschte Resultat. Wirklich erwachsen ist das allerdings, glaube ich, nicht. Und zwar nicht nur, weil es quer zu den meisten unserer Erfahrungen steht. Denn auch wenn die Bibel voller Geschichten ist, die berichten, was Gott alles getan hat, dass er sich als ein Gott gezeigt hat, dem die Welt nicht egal ist, ja im Gegenteil: der ein Herz für die Menschen hat, und auch wenn wir selbst vielleicht schon so manches Mal gedacht oder sogar gespürt haben: Gott hat seine Finger im Spiel meines Lebens – selbst wenn all das – hoffentlich – auch zu unseren Glaubenserfahrungen gehört, ein erwachsener Glaube geht tiefer. Die Herausforderung eines erwachsenen Glaubens besteht darin, an Gott zu glauben, wenn ich ihn nicht spüre. Wenn das, was ich mir wünsche, nicht eintritt. Und wenn ich dennoch an ihm festhalte. Egal, was passiert. Ein erwachsener Glaube ist nicht naiv. Oder magisch. Ein erwachsener, ein reifer Glaube hilft, das Leben zu bestehen, das Leben mit all seinen Herausforderungen und Grenzen. Meine ich jedenfalls.
Ein Kind bittet: „Lieber Gott, mach, dass es morgen nicht regnet!“ Ein Erwachsener würde vielleicht eher sagen: „Lebendiger Gott, gib mir Kraft für einen guten Tag!“ Ein Kind betet: „Lieber Gott, bring uns sicher nach Hause!“ Ein Erwachsener vielleicht eher: „Begleite uns mit deinem Geist, der unsere Sinne schärft!“ Menschen, die an Gott glauben, fragen: „Warum hast du das nur zugelassen?“ Wer als Christ auf Jesus, den Gekreuzigten und Auferweckten schaut, geht vielleicht irgendwann einen Schritt weiter und kommt an einem Punkt an, an dem er sagen kann: „Mit dir, Gott, werde ich mein Leben bestehen, komme, was kommt!“ Kinder beten meist zum lieben Gott. Dürfen sie auch. Aber wer im Glauben erwachsen wird, kann nicht dabei stehen bleiben. Denn Gott ist nicht lieb. Als Erwachsene merken wir, dass uns Gott in dieses Leben gestellt hat. In ein Leben voller Grenzerfahrungen, voller Wunden, voller unerfüllter Bitten. Wenn wir jedoch ein Leben lang beten wie Kinder, bleibt Gott für uns ein Lückenbüßer und Wünscheerfüller.
Und wie geht es nun? Immerhin steht die Witwe immer noch im Raum. Und sie hat gekriegt, was sie wollte. Ja, hat sie. Ich glaube aber, dass es bei ihr um etwas ganz anderes geht. So wenig Gott so ist wie der abwägende, kaltschnäuzige Richter, so wenig überzeugt die aufdringliche Witwe durch ihre Aufdringlichkeit. Was sie überzeugend sein lässt, meine ich jedenfalls, ist ihr Vertrauen, ihr Vertrauen, dass am Ende alles gut wird. Am Ende wird also die Frage stehen, die Jesus immer wieder stellt: „Mensch, bei allem, was passiert, bei allem, was sich nicht ändern lässt, bei allem, wo du mehr Fragen siehst als Antworten – bei all dem, Mensch, und trotz allem: Wirst du mir vertrauen?“
Alexander Bergel
16. Oktober
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Predigt am 28. Sonntag im Jahreskreis
zu Lk 17,11-19
Wer glaubt, lebt gesünder. Zu diesem Schluss kommen wissenschaftliche Untersuchungen aus den USA. Jahrzehntelang haben Wissenschaftler kranke Menschen begleitet. Und dabei zwei Sorten von Patienten unterschieden: Glaubende und Nicht-Glaubende. Das Ergebnis: Religiöse Menschen haben ein geringeres Risiko für Krankheiten wie Depressionen, Bluthochdruck und Herzbeschwerden. Außerdem seien sie weniger suchtgefährdet und hätten eine stärkere Abwehr. Menschen, die glauben, benötigten weniger Schmerzmittel, hätten mehr Lebenszufriedenheit, ein höheres Wohlbefinden und sogar eine längere Lebenserwartung.
Ist es das, was Jesus meinte, als er dem geheilten Aussätzigen bescheinigt: „Dein Glaube hat dich gerettet!“? Könnte man meinen. Denn er ist ja gesund geworden. Zusammen mit neun anderen. Was aber – und da beginnen die ersten Fragen –, was ist mit den Millionen von Kranken, die Jesus nie begegnet sind? Was ist mit den Tausenden von Menschen, die in den Krankenhäusern dieser Welt liegen und unheilbar krank sind? Was ist mit unseren Angehörigen, deren Krankheit wir vielleicht schon seit Jahren mit ansehen müssen? Muss man denen sagen: „Tut mir leid, dein Glaube hat dich wohl nicht gerettet“?
Die schöne Heilungsgeschichte des Aussätzigen wirft mehr Fragen auf, als dass sie Antworten bietet. Und so landen wir bei einer der Kernfragen unseres Glaubens: Handelt Gott, wenn ich ihn bitte? Am Rande einer Bittprozession, einige Jahre ist das schon her, kam ich mit jemandem ins Gespräch – über genau dieses Thema. „Also, wenn ich ehrlich bin“, begann der Mann, „wenn ich ehrlich bin, kann ich mit dem ganzen hier nichts anfangen. Gott erfüllt sie doch eh nicht, unsere Bitten. Wie denn auch?“ Hat er Recht, dieser Kritiker? Was meinen Sie? Ich fühlte mich ertappt von ihm, von seiner Nachfrage. Denn mir geht es – ehrlich gesagt – ähnlich. Mir fällt es schwer, Gott um etwas zu bitten, ihm genau zu sagen, was ich von ihm erwarte. Und doch ist es zutiefst menschlich. Hätte Jesus sonst gesagt: „Bittet, dann wird euch gegeben!“?
Wer bittet, der macht deutlich: Ich schaffe nicht alles aus eigener Kraft. Ich warte auf Hilfe. Ich vertraue. Grundvoraussetzungen des Glaubens. Ohne Frage. Aber darf das dazu führen, naiv zu werden und zu glauben: Gott wird’s schon richten!? Ich meine: nein. Ein solcher Glaube führt nämlich zu der Hoffnung, dass Gott mal eben die Naturgesetze außer Kraft setzt und Heilung schenkt, wo sie einfach nicht möglich ist. „Für Gott ist doch aber nichts unmöglich!“ wird manch Verzweifelter da einwenden. „Könnte er denn nicht doch bitte eingreifen? Nur ein einziges Mal?“ Wie oft ist Gott darum wohl schon gebeten worden – ohne Erfolg.
Wer glaubt, lebt gesünder. Je länger man sich damit beschäftigt, desto mehr Menschen fallen einem ein, die diese These zu blankem Hohn werden lassen. Und eigentlich müsste man aufstehen und gehen, weil er nur schwer zu ertragen ist, dieser Satz Jesu: „Dein Glaube hat dir geholfen!“ Vielleicht versuchen wir es aber doch noch einmal anders – und ziehen nicht enttäuscht von dannen. Helfen könnte dabei der nochmalige Blick in die amerikanische Untersuchung. Die beschreibt den Glauben nämlich vor allem als die innere Fähigkeit des Menschen, sich auf eine Dimension einzulassen, die nicht im Hier und Jetzt stehen bleibt, sondern Gott als ein wirkliches Gegenüber wahrnimmt. Und das sei – so die Studie weiter – ein wesentlicher Faktor für Lebensqualität. Ich kenne kranke Menschen, die genau das tun. Die – trotz aller Fragen, trotz Verzweiflung, trotz Schmerzen – mit Gottes Nähe rechnen, sich von ihm getragen fühlen. Am Ende scheint Jesus vielleicht doch Recht zu behalten: „Dein Glaube hat dich gerettet!“
Was aber heißt das nun für uns und unser Beten? Bei der Suche nach einer Antwort begleitet mich schon seit Jahren ein Wort, das es in sich hat: Gott erfüllt nicht jede unserer Bitten, aber alle seine Verheißungen. – Nicht jede unserer Bitten, aber alle seine Verheißungen … Was bedeutet das? Vielleicht nur dies: Egal, was kommt – ich lasse dich nicht los! Natürlich beantwortet das nicht alle Fragen. Doch ganz offensichtlich lässt ein solches Vertrauen Menschen weiterleben, ohne zu verzweifeln. Gott erfüllt nicht jede meiner Bitten, aber alle seine Verheißungen: Wer sich das zu sagen traut, ja, wer so durch sein Leben und seine Krankheit geht – für den ist das keine graue Theorie mehr, sondern wirkliche, lebendige Erfahrung. Ahnen Sie, was das bedeutet?
Alexander Bergel
9. Oktober
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Predigt am 27. Sonntag im Jahreskreis
zu Hab 1,2-3. 2,2-4, 2 Tim 1,6-8.13-14 und Lk 17, 5-10
„Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.“ Ein sehr verstörendes Wort. Unnütze Knechte, die nur ihre Schuldigkeit tun? Jesus wählt ein hierarchisches Modell seiner Zeit, um den Jüngern etwas zu erklären. Doch: Manches, was früher galt, ist vorbei. So geht das heute nicht mehr. Wir brauchen ein neues Miteinander. Ein Miteinander ohne Oben und Unten, ohne Machtmissbrauch und Willkür. Genau das aber erleben wir. Auch heute noch. Immer und immer wieder. Machtmissbrauch und Willkür. Dann, wenn ein Potentat willkürlich Grenzen verschiebt. Dann wenn ein Regime die Freiheit eines ganzen Volkes unterdrückt und selbst über Leichen geht. Und auch in der Kirche erleben wir es. Immer und immer wieder.
„Warum lässt du mich die Macht des Bösen sehen und siehst der Unterdrückung zu? Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit.“ Was der Prophet Habakuk vor 2.700 Jahren Gott anklagend entgegenschleudert, ist auch heute die Erfahrung so vieler Menschen. Und eine immer noch unbeantwortete Frage: Warum siehst du der Unterdrückung zu? Manche sind fertig mit einem Gott, der nur zuschaut. Der nichts tut. Der die Unterdrücker, die Misshandler, die Vertuscher nicht zum Teufel jagt. „Wie sollte Gott das denn tun“, fragen andere, „wenn er den Menschen doch in die Freiheit entlassen hat?“ Ja, das mag ein Argument sein. Aber wer im Leid versinkt und dann die alten Geschichten hört, Geschichten, in denen Menschen beschreiben, dass sie Gott als den erfahren haben, der ein ganzes Volk aus der Knechtschaft befreit hat, der wird nicht aufhören, Gott genau das immer wieder unter die Nase zu reiben. Und ihn anzuschreien: Zeige dich!
Die Geschichte des Propheten Habakuk geht weiter: „Der Herr gab mir Antwort und sagte: Schreib nieder, was du siehst, schreib es deutlich auf die Tafeln, damit man es mühelos lesen kann!“ Mit anderen Worten: Mach du dich zum Anwalt der Kleinen und Entrechteten! Uns erwischt diese uralte Aufforderung am Ende einer Woche, in der offenbar wurde, dass ein Priester, der weit über das Bistum hinaus hohes Ansehen genießt, vor vierzig Jahren ein Mädchen missbraucht hat. Das Bistum steht in der Kritik, nicht angemessen mit der Situation umgegangen zu sein. Die Betroffene wurde zwar gehört, aber geschehen ist faktisch nichts. „Schreib es deutlich auf Tafeln, damit man es mühelos lesen kann!“ Wir brauchen die Wahrheit, die ganze Wahrheit. Alles muss ans Tageslicht. Kein Wegducken mehr! Kein Vertuschen! Kein Relativieren! Nicht wenige jedoch fragen: Ist es dafür nicht schon zu spät?
Als die Kirche zu wachsen begann, in den ersten Jahren nach Jesu Tod und Auferstehung also, begannen bereits die ersten Konflikte. Konflikte, die Menschen an den Rand ihrer Kräfte brachten. In dieser Zeit schreibt Paulus an seinen Schüler Timotheus: „Ich rufe dir ins Gedächtnis: Entfache die Gnade Gottes wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteilgeworden ist! Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ Keine Angst: Zum Schluss kommt jetzt nicht die „Alles-wird-gut-Soße“! Nein, die würde nur alles ersticken. Aber ich merke: Auszuhalten ist all das nur, wenn ich versuche, daran zu glauben, dass noch nicht alles verloren ist. Die Welt – sie steht am Abgrund. Und die Kirche sowieso. Und ich? Ich kann nur versuchen, meinen Beitrag zu leisten, dass der nächste Schritt nicht zum freien Fall wird. Der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit – vielleicht hilft er mir dabei.
Alexander Bergel
2. Oktober
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Predigt am 16. Sonntag im Jahreskreis
zu Gen 18,1-10a und Lk 10,38-42
Jesus sitzt am gedeckten Tisch, gibt der Gastgeberin aber vorher noch eins auf die Kochmütze: „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Maria aber hat das Bessere gewählt!“ Ist das wirklich sein Ernst? Und wenn ja, was heißt das dann für uns? Meint Jesus wirklich „Lass die Arbeit Arbeit sein! Widme dich ganz dem Gebet, dem Studium, der Stille, so wirst du Gott finden“? Ja, theoretisch ist das sicher sehr schön. Nur – wer bringt dann den Müll raus? Oder die gerade gar nicht so kontemplativ gestimmten Kleinen in den Kindergarten? Soll ich Gott jenseits all dessen suchen, was ich Tag für Tag tue? Was ich Tag für Tag tun muss? Und ist er nur jenseits all dessen zu finden?
Vielleicht ist das, was Jesus sagt, gar nicht so ignorant, wie es wirkt. Vielleicht war es ihm nur wichtig, in diesem Augenblick deutlich zu machen: „Marta, lass Maria ihren Weg gehen! Du hast ihn doch schon hinter dir – und bist ein Stück weiter! Maria muss das Bessere erst einmal spüren, es erleben, es erfahren, bevor sie es im wuseligen Alltag als Kraftquelle erleben kann.“ Meister Eckhart, ein sehr lebenstauglicher Mystiker des späten Mittelalters, sieht in der wuseligen Marta einen Menschen, der selbst dann, wenn er nicht still wird und betet, in der Gegenwart Gottes lebt. Auch beim Bügeln oder beim quirligen Kindergeburtstag. Meister Eckhart glaubt Marta schon einen Schritt weiter als ihre Schwester: Sie ist fähig zur Gottesbegegnung trotz des ganz normalen Alltags-Wahnsinns.
Diesen Alltags-Wahnsinn kennt wohl jeder. Mal mehr, mal weniger intensiv und belastend. Manche ersticken in Arbeit, sind froh, wenn sie all das irgendwie noch schaffen. Andere sitzen nur noch da. Fühlen sich leer und ausgebrannt. Fragen sich: War es das? Wofür das alles? Und vor allen: Was kommt denn noch? Abraham und Sara, die uns heute ebenfalls begegnet sind, haben vielleicht auch genau diese Fragen gehabt: War es das? Wofür das alles? Und: Was kommt denn noch? Mitten in ihrem Alltag bekommen sie jedoch eine ganz unerwartete Antwort. Aber der Reihe nach.
Es ist heiß. Mittagszeit in der Wüste. Abraham sitzt vor dem Zelt und ruht sich aus. Sara ist drinnen und macht den Haushalt. Manche Dinge ändern sich wohl nie. Abraham sieht drei Männer auf sich zukommen, geheimnisvolle Gestalten. Der Künstlerpriester Sieger Köder hat diese Szene sehr eindrücklich festgehalten. Schauen Sie sich dieses Bild nach dem Gottesdienst gerne mal genauer an. Unten am Taufbrunnen steht es. Am Tisch, zu Füßen seiner drei Besucher, sitzt Abraham, die Augen nach oben gerichtet. Er hält Ausschau in eine Zukunft hinein, die ihm von den drei Besuchern angesagt wird: „In einem Jahr wird deine Frau Sara einen Sohn haben.“
Wer aber sind die drei Männer? Die Bibel sagt: Der Herr. Sieger Köder stellt drei Gesichter dar: das erste hinter einem Tuch verborgen. Gott ist einer, der sich vor den Menschen verbirgt, der im Dunkel bleibt, der sich dem Zugriff der Menschen entzieht und doch aus der Verborgenheit heraus den Menschen anspricht. Das mittlere Gesicht hat die Verhüllung, das Velum, halb zur Seite geschoben. Es ist der Gott, der teilweise aus seiner Verborgenheit herausgeht und sich dem Menschen zu erkennen gibt. Das eine Auge als Gottessymbol, auf dem Tisch Brot und Wein – Lebens-Mittel, in denen sich Gott zu erkennen gibt. Dieser Gott, der aus seiner Verborgenheit heraus geht, bekommt ein Gesicht in der Person dessen, von dem es später heißen wird: „Niemand hat Gott je gesehen. Der einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.“ Die dritte Person auf diesem Bild ist schließlich ein dunkelhäutiger Mann. Sein vom Aussatz zerfressener Arm ist eingebunden, unter der Wolldecke sieht man einen zum Skelett abgemagerten Oberkörper. Der Künstler zeichnet so das Bild eines Gottes, dem wir in den Ärmsten der Armen begegnen. „Ich war hungrig, durstig, nackt, obdachlos.“ Ein dunkles Bild, voller Geheimnisse. Geheimnisse aber, die sich dem erschließen, der bereit ist, in die Tiefe zu gehen.
Abraham und Sara. Marta und Maria. Menschen wie Du und ich. Menschen, die versuchen, Gott zu begegnen. In den Rätseln und Fragen des Daseins. Im Hören und miteinander Reden. Am kühlen Abend oder in der Mittagssonne. Beim entspannten Nachsinnen oder in der Hitze des Gefechts. Marta und Maria – zwei Schwestern, die ihren je eigenen Weg durchs Leben und zu Gott suchen. Und sich dabei unterstützen. Sara, die um ihre Begrenzungen weiß (immerhin lacht sie, als sie hört, sie solle in ihrem Alter noch Mutter werden), und Abraham, der trotz allem zu hoffen wagt. Irgendwo dazwischen: Wir. Wir mit unseren Fragen, wir mit unserer Sehnsucht, wir mit unserer Überforderung, wir mit unserer Leere. Und wir mit einem Herzen, das sich sehnt nach einem, der es anrührt. Auch wenn es lange, manchmal unendlich lange zu dauern scheint. Aber auch nicht ewig. Und so gilt sie auch heute noch, die geheimnisvolle Verheißung jener drei Männer von damals: „In einem Jahr komme ich wieder.“ Wo sind wir dann wohl?
Alexander Bergel
17. Juli
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Predigt am 15. Sonntag im Jahreskreis
zu Dtn 30, 9c-14 und Lk 10,25-37
„Es ist nicht im Himmel, sodass du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf,
holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, sodass du sagen müsstest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können? Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.“
Mit anderen Worten: Ausreden gibt es keine. Also keine wirklichen. Klar, zu tun haben immer alle viel. Wenn man die Zeit hätte, dann würde man ja, aber … Und es gibt auch sicher immer noch geeignetere Menschen, die das übernehmen könnten. Wir kennen das … Und trotzdem: Das, was Jesus damals gesagt und getan hat – es ist ein Auftrag. Auch für uns. Sich im Hier und Jetzt dem stellen, was uns widerfährt. Nicht darauf warten, dass andere das Problem angehen, sondern selbst tätig werden. Darum muss es gehen. Jemandem zum Nächsten werden – das ist etwas, was ich tun kann. Was ich aber auch tun wollen muss.
Nicht im Himmel, nicht jenseits des Meeres – Gottes Wort ist uns so nahe, wie wir es an uns heranlassen. Man muss dazu kein Studium absolvieren oder exegetische Fachkenntnisse besitzen. Auch diese Sorge lässt sich schnell nehmen: „Lebe das vom Evangelium, was du verstanden hast. Und wenn es noch so wenig ist. Aber lebe es!“ (Frère Roger).
Grau ist alle Theorie. Die Praxis – sie macht lebendig. An ihr lässt sich ablesen, was Menschen im tiefsten berührt. Vielleicht ist das heute so eine Art samaritische Nagelprobe: Was berührt uns eigentlich noch?
Alexander Bergel
10. Juli
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Predigt am 13. Sonntag im Jahreskreis
zu Lk 9,51-62
Der Blick zurück – hilft der weiter? Manchmal erinnere ich mich ganz gerne an das, was war. Denn immerhin gehört die Vergangenheit ja auch zu mir. Die Menschen, die mir begegnet sind, die mich vielleicht sogar geprägt haben. Die Erfahrungen, die ich gemacht habe, auch die Fehler. Zeiten und Orte, Träume und Sehnsüchte, Unsicherheit und Schmerz – all das gehört dazu. Wird immer dazu gehören. Und lässt mich verstehen, wer ich bin. Und wie die Welt ist. Und auch, wie ich Gott erlebt habe. Mal ganz offensichtlich. Mal verborgen. Mal war er mir ganz nahe. Mal sehr fremd.
Und dann kommt Jesus mit diesem Wort: „Keiner, der nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.“ Der Blick Jesu geht nach vorne. Immer nach vorne. „Schau die Welt an, wie sie ist, nicht wie sie war!“, scheint er allen zuzurufen, die fasziniert sind von seinem Weg. „Halte dich nicht fest an dem, was dich geprägt hat. Halte dich nicht fest an Menschen, denen du begegnet bist. Halt dich nicht fest an deinen Wunden, an deinem Schmerz. Halte dich auch nicht fest an dem, was mal wichtig war, aber vergangen ist. Halte dich nicht fest an deinen geordneten Strukturen, die dir Sicherheit geben sollen. Lass sie los. Suche deine Sicherheit woanders!“
„Aber wo – wo können wir denn finden, was uns trägt?“, mag da mancher vorsichtig nachfragen wollen, „wo, Jesus, wo finden wir das, was uns leben lässt?“ Vielleicht würde er antworten: „Ich kann dir nichts anbieten, was dir die Sicherheit gibt, die du kennst. Was ich dir anbieten kann – das bin ich! Aber bedenke: Wo ich bin, da ist immer der Weg unter den Füßen. Wo ich bin, da liegen die Hände selten im Schoß. Meist sind sie dabei, sich schmutzig zu machen, weil sie anpacken. Wo ich bin, da sind immer Menschen, die deine Hilfe brauchen. Die dir aber oft auch selbst zur Hilfe werden. Wo ich bin, da ist immer Kraft und Leidenschaft für das Reich meines Vaters. Wo ich bin, da ist Zeit für Träume und Visionen. Aber das bedeutet keine Flucht vor der Realität, kein: ‚Ich würde ja, ich könnte ja, man müsste mal, aber …‘ Wo ich bin, da bist du gefragt. Und wo ich bin – da bist du nie allein!“
So stelle ich mir vor, könnte Jesus dem antworten, der fragt, ob der Blick zurück nicht auch wichtig ist. Die Erinnerung, sie hilft mir doch zu verstehen, warum ich so bin, wie ich bin. Warum die Kirche so ist, wie sie ist. Warum die Welt sich so zeigt, wie sie sich zeigt. Aber wer dabei stehen bleibt, der darf sich auch nicht wundern, wenn es nicht weitergeht. Genau das aber ist es, was Jesus will, was er gelebt hat. Und mit ihm die vielen prophetischen Menschen aller Zeiten, Männer und Frauen, die sich haben beunruhigen lassen von den Ungerechtigkeiten dieser Welt, von Unfreiheit und Hass. Nur wer sich beunruhigen lässt, wird die Dinge ändern können und dabei helfen, dass die Ideen des Mannes aus Nazareth keine Ideen bleiben, sondern Hand und Fuß bekommen.
Denn nur so wird das Wirklichkeit – immer mehr, immer konkreter, immer erfahrbarer –, worum Jesus damals geworben hat, wofür er viel Unverständnis geerntet und womit er viele auch maßlos überfordert hat. Und wir? Ja, das ist die Frage. Wir – mit all unserer eigenen Überforderung, mit all unseren Bedenken, mit all unserer Furcht auch vor dem, was das konkret für uns bedeuten könnte –, wir könnten trotz alledem den Pflug in die Hand nehmen und mit ihm die Zukunft, unsere eigene, die der Kirche und die der Gesellschaft, und – trotz allem, was dagegensprechen mag – einfach losgehen.
Alexander Bergel
26. Juni
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Predigt an Pfingsten
zu Gen 11,1-9, Apg 2,1-12 und Joh 20,19-23
„Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel. So wollen wir uns einen Namen machen!“ Das ist die Ausgangslage. Kennt man. Menschen machen sich selbst zum Maß aller Dinge. Und wollen es allen zeigen. Der Turm zu Babel erzählt bis heute davon. Wird sich das denn nie ändern? Vermutlich nicht. Aber der, den manche gerne spielen – Gott –, der gibt zwischendurch schon mal eine Antwort: „Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“ Schluss also mit dem ewigen Gekreise um sich selbst. Schluss mit dem Ausschließen anderer Stimmen. Schluss mit dem wahnsinnigen Blick nach oben, der nur dem eigenen Vorteil gilt.
Pfingsten ist die Antwort Gottes auf die zerstörerische Kraft der Potentaten, der Selbstüberschätzer, der Blender. Der menschlichen Ur-Versuchung, wie sie sich seit Babel in immer neuen Varianten zeigt, dieser Ur-Versuchung begegnet Gott mit einem Spektakel der besonderen Art: Die Kraft aus der Höhe, seine Geistkraft, ja er selbst senkt sich herab in die verkapselten Herzen der Menschen. Er öffnet Augen und Ohren, damit sie die wirkliche Tiefe des Lebens entdecken. Und die findet sich nicht in gewaltiger Höhe. Die findet sich schon gar nicht in den Ellenbogen. Nein: Die Tiefe des Lebens findet der Mensch, der es wagt, dem anderen zu begegnen. Wirklich zu begegnen. Und das kann manchmal ganz schön verstörend sein: „Jeder hörte sie in seiner Sprache reden.“ Das bedeutet doch: Ich lasse mir etwas sagen. Auch wenn es mir fremd vorkommt. Das bedeutet: Ich versuche zu verstehen, was der, was die andere mir sagt. Das bedeutet: Ich darf meine Meinung nicht absolut setzen. Das bedeutet: Niemand weiß alleine, wie das Leben geht. Auch wir nicht.
Pfingsten meint uns. Und deshalb sollten wir vielleicht auch mal unsere Türme zu Babel anschauen. Unsere festgefügten Mauern. Unseren Drang nach oben. Unsere eingeschränkte Sicht. Unsere Allmachtsphantasien. Wenn wir hier und heute um die Kraft aus der Höhe bitten, um den Geist, der unser Herz erfüllt, dann hat das Konsequenzen. Anstrengende, sicher. Aber in erster Linie – das glaube ich ganz fest –, in erster Linie hat das Befreiung und Aufbruch zur Folge. Wir können natürlich immer und immer wieder auf das schauen, was alles nicht mehr geht, was vergangen ist oder dabei ist zu sterben. Wir können traurig sein über den Bedeutungsverlust der Kirche in der Gesellschaft. Aber dann stehen wir wie die Babel-Turm-Erbauer vor unserem Werk und wundern uns, dass uns keiner mehr versteht. Weil die „Menschen da draußen“ nämlich ganz andere Sorgen haben.
Die Pfingstgeschichte – also Gottes Antwort auf alle Resignation, alle Selbstverliebtheit und alle Traurigkeit –, diese Geschichte geht dann weiter, wenn wir danach fragen: Wovon lebe ich? Und: Wovon leben die anderen? Pfingsten wird dann keine phantastische Geschichte bleiben, wenn wir uns aufmachen, nach Spuren Gottes in dieser Welt zu suchen. Wenn wir es wagen, auf das zu hören, was andere uns sagen – und sei das noch so verrückt oder unbequem. Pfingsten wird sich auch 2022 ereignen, wenn ich mich darüber freue, neue Sichtweisen zu bekommen. Pfingsten wird sich ereignen, wenn ich wieder Lust daran finde, Kirche zu sein und zu gestalten. Keinen Turm zu Babel, sondern einen Ort, an dem alle einen Platz finden, die Gott suchen. Denn um den geht es doch zuerst. Um ihn und um die Menschen. Die Menschen in all ihrer Buntheit.
Ganz viel von dem erlebe ich hier bei uns ja schon. Ich erlebe Menschen, die anpacken. Menschen, die sich um Schwache und Bedürftige sorgen. Menschen, die über ihren Glauben sprechen und darum ringen. Menschen, die sich auf neue Formen einlassen und sie ausprobieren. Die Liturgien gestalten und feiern, die zu Herzen gehen. Luft nach oben – klar, die gibt’s immer. Und die Gefahr zu meinen: Läuft doch! Die gibt’s auch. Also: Bleiben wir neugierig. Werden wir noch mutiger. Und schauen wir draußen nach, was es noch zu tun gibt. Richtig – draußen. Dorthin führt der Weg!
Alexander Bergel
5. Juni
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Predigt am 7. Ostersonntag
zu Apg 7,55-60, Offb 22,12-14.16-17.20 und Joh 17,20-26
Er hatte es kommen sehen. Denn er kannte sie genau. Die Menschen. Und was in ihnen ist. Jesus hatte kommen sehen, dass es sehr schwer werden würde, alle unter einen Hut zu bringen. Und so richtet er einen flehentlichen Appell an die Zwölf, die neben ihm am Abendmahlstisch sitzen: „Seid eins. Lass euch nicht auseinandertreiben. Dreht euch nicht um euch selbst. Schaut auf das, was ich euch gegeben habe!“ Was daraus geworden ist? Wir wissen es. Eine geteilte und zerrissene Kirche. Ein Gegeneinander von Gruppen und Richtungen, von denen alle wissen, wie es am besten geht. Und so streiten die einen mit den anderen, bekämpfen die stärkeren Rechtgläubigen die schwächeren Rechtgläubigen, führt ein Religionskrieg in den nächsten.
Vielleicht sind die Zeiten, in denen wir leben, ganz heilsam für die Kirche. Fast keinen interessiert es mehr, welche internen Streitigkeiten zum Ausbilden der einzelnen Konfessionen geführt haben oder wie genau Luther damals dieses gemeint und der Papst jenes missverstanden hat. Es ist vorbei. Für die Kirche und ihre Fachprobleme interessiert sich einfach keiner mehr. Und wenn doch, dann für die Abgründe, für die Verbrechen, die in den Kirchen geschehen sind. Es gab Zeiten, da war die Botschaft Jesu so faszinierend, so strahlend, so revolutionär, dass Menschen unbedingt dazu gehören wollten. Es gab Zeiten, da waren Menschen so begeistert von diesem Jesus, so voller Kraft und Hoffnung, dass sie alles zu geben bereit waren. Stephanus hat sogar mit seinem Leben dafür bezahlt. Es gab Zeiten, da war die Vision von einer neuen Welt, wie die Johannes-Offenbarung sie zeichnet, so stark, dass Menschen sich davon ergreifen ließen. Ja, diese Zeiten gab es. Und vielleicht – vielleicht gibt es sie irgendwann einmal wieder.
Dann nämlich, wenn die Jesus-Jünger von heute nicht darauf schauen, wer eigentlich mehr Recht hat. Dann, wenn die Jesus-Jünger von heute wieder ihrer Sehnsucht trauen. Dann, wenn die Jesus-Jünger von heute Menschen Lust auf diesen Jesus machen. Dann, wenn die Jesus-Jünger von heute nach dem suchen, was der Geist uns heute sagen will. Nicht gestern oder vorgestern. Sondern heute. Wir müssten vielleicht viel mehr auf das hören, was der andere sagt, was die andere denkt. Wir müssten vielleicht viel mehr auf das schauen, was die Welt heute braucht. Und wir müssten vielleicht überhaupt mal damit rechnen, dass Gott ganz neue Wege gefunden hat, zu uns zu sprechen, als wir es gewohnt sind. Neue Sprachen. Neue Kraft. Neues Leben. Das kommt ihnen irgendwie bekannt vor? Richtig – das gab es schon mal. Sie wissen schon, damals in Jerusalem: die Sache mit dem Heiligen Geist. So fing das damals alles an. Warum nicht auch heute?
Alexander Bergel
29. Mai
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Predigt am 6. Ostersonntag
zu Apg 15, 1-2.22-29 und Joh 14,23-29
Es hat ordentlich geknallt. Denn es ging ans Eingemachte. „Wenn ihr euch nicht nach dem Brauch des Mose beschneiden lasst, könnt ihr nicht gerettet werden.“ Meint jedenfalls die eine Fraktion. Die andere sagt: „So einfach ist das nicht. Wir müssen neue Wege gehen.“ Die Apostelgeschichte berichtet davon, wie Menschen, die in der Spur Jesu unterwegs sind, nach dem richtigen Weg suchen.
Müssen die alten Regeln für alle gelten, auch für Nichtjuden? Oder sind da Spielräume möglich? Und: Warum gibt es diese Regeln überhaupt? Welchen Sinn haben sie? Und wenn es manchen schwer fällt, darin einen Sinn zu erkennen – gibt es für sie vielleicht die Möglichkeit, auf andere Weise dem Auferstandenen zu folgen? Die Männer und Frauen der ersten Stunde machen es sich nicht leicht. Sie hören aufeinander. Sie streiten. Sie suchen nach Argumenten. Sie bitten Gott um Beistand. Und dann, dann finden sie eine Lösung.
Wie ist das heute mit der Meinungsfindung? In der Kirche: liberal gegen traditionell. In der Politik: links gegen rechts. Im Freundes- und Bekanntenkreis: meine Meinung gegen deine Meinung. Geht es ums Argument? Oder nicht doch immer mehr darum, den anderen als Menschen zu diskreditieren? Sind echte Diskussionen überhaupt noch möglich? Oder werden sie immer mehr zur Schlammschlacht?
Wenn Jesus von seinem Frieden spricht, den er uns hinterlassen will, dann meint er wohl keinen faulen Kompromissfrieden, der jede Auseinandersetzung ausklammert. Das wäre das andere Extrem. Wenn Jesus von seinem Frieden spricht, der so anders ist als der, wie die Welt ihn uns gibt, dann meint er vielleicht eher einen Frieden, der die Herzen so anrührt, dass es nicht darum geht, wer am Ende gewinnt, sondern darum, am Ende noch in den Spiegel schauen zu können.
Weil ich meine Meinung nicht absolut setze. Weil ich nicht um jeden Preis gewinnen will. Weil ich nicht mein Selbstwertgefühl davon abhängig mache, wie mächtig ich bin. Vielleicht müsste man sich das mal wieder fragen: Wenn ich in den Spiegel schaue – wen sehe ich da eigentlich?
Alexander Bergel
22. Mai
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Predigt am 4. Ostersonntag
zu Joh 10,27-30
Wir müssen uns nichts vormachen: Die guten alten Zeiten sind vorbei. Doch bevor sich Wehmut regt oder innerer Widerstand, seien wir doch ehrlich: Die guten alten Zeiten – die gab es eigentlich nie. Wenn ich mit alten Leuten spreche, na klar, dann ist die Erinnerung manchmal so präsent, dass man schon wehmütig werden kann: Früher, ja, da waren die Kirchen voll. Da gab es große Gruppen, Feste und Fahrten, viel Gemeinsames, ähnliche Interessen. Man wusste, was zu tun war. Und die Verantwortlichen, der Pastor, die Gemeindeschwester, die waren immer da. Man kannte sich. Und heute?
Szenenwechsel. „Meine Schafe hören auf meine Stimme: Ich kenne sie und sie folgen mir.“ Dieses Jesus-Wort, es fasziniert bis heute. Und mit ihm die Verheißung, ja mehr noch, das Versprechen: Da ist einer, der mich kennt. Der mich sieht. Der um mich weiß. Jesus war einer, der den Menschen ganz nahekam. Der wusste, was sie brauchen. Der mit ihnen Wege ging. Wenn uns dieses Bild bis heute fasziniert, dann wohl deshalb, weil es unsere tiefe Sehnsucht nach Heimat anrührt.
Ist es das, was viele heutzutage so vermissen? Dass da keine einheitliche Gruppe mehr ist? Dass da keiner mehr sofort weiß, wer ich bin, wo mir der Schuh drückt? Vermutlich ist das so. Andererseits – und auch das gehört zur „guten alten Zeit“ – andererseits hat dieses klar strukturierte Miteinander auch immer wieder zu einer Enge und Starrheit geführt, die eigene Wege oft unmöglich gemacht haben: „Wir machen das hier aber so. Und das war immer sehr schön!“
Wenn Jesus sagt: „Ich kenne die Meinen!“ – dann ist das ein Auftrag an alle, die in seiner Spur unterwegs sind. Ein Auftrag, sich diese Haltung zu eigen zu machen. Und das bedeutet vor allem: zu schauen, was die Menschen heute brauchen. Die, die noch kommen. Und die, die nicht mehr da sind. Unsere Gemeinde wird dann eine Zukunft haben, wenn wir nah dran sind an dem, was die Menschen in unseren Stadtteilen brauchen. Wenn sie bei uns etwas finden, das ihnen Kraft zum Leben gibt. Ein erster Schritt wäre vielleicht mal zu überlegen: Was weiß ich eigentlich von den Menschen, die Sonntag für Sonntag mit mir hier in der Kirche sitzen?
Alexander Bergel
8. Mai
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Predigt am 3. Ostersonntag
zu Joh 21,1-14
Sieben Männer am See. Dort also, wo sie sich auskannten. Endlich wieder! Zu viel war auch geschehen. Der, auf den sie ihre ganze Hoffnung gesetzt hatten, war tot. Was macht man, wenn ein Projekt gescheitert ist? Viele sagen dann: Ich geh zurück. Zurück in die vertraute Umgebung. Zu vertrauten Menschen. Zurück in vertraute Muster. Das muss nicht falsch sein. Aber darin liegt auch eine Gefahr. Beides begegnet uns am See von Tiberias. Und vermutlich auch in unserem eigenen Leben.
Sie hatten es doch wirklich gewagt: Petrus und Thomas, Natanael, die Zebedäussöhne und noch zwei weitere seiner Jünger. Sie waren Jesus gefolgt. Hatten alles stehen und liegen gelassen. Hatten gesehen, wie er Menschen berührt und geheilt, sie alle in Frage und manche der Drangsalierten und Ignorierten in die Mitte gestellt hatte: Frauen und Kinder und die vielen anderen Schutz- und Rechtlosen seiner Zeit. Genau das – und vor allem, dass Jesus all das mit Gott in Verbindung bringt – hatte ihn das Leben gekostet. Sein Lebensprojekt war gescheitert. Und sie mit ihm. Oder doch nicht?
Jesus war von den Toten auferstanden. Was erst nur als Weibergeschwätz verunglimpft wurde, hatte zu einer realen Begegnung mit dem Auferstandenen geführt. Thomas, der all das massiv in Frage gestellt hatte, wurde im Innersten erschüttert, als er Jesus an seinen Wunden erkannte. Aber dann fing der Alltag doch wieder an. Jesus war nicht mehr so da, wie sie es gewohnt waren. War es vielleicht doch alles nur Einbildung? Mehr Wunsch als Realität? Was also sollten sie noch tun in Jerusalem? In jener Stadt, die so voller Sehnsucht nach Frieden und Leben ist, dass es sich bis heute spüren lässt. In jener Stadt aber, vor deren Toren der Friedensfürst sein Ende fand.
Also zurück in die Heimat. Vielleicht, so hatten sich die sieben Männer damals gedacht, vielleicht brauchen wir nur etwas Ruhe. Vielleicht brauchen wir den alten bekannten Rahmen. Vielleicht, wenn wir erstmal wieder in der Spur sind, vielleicht findet sich dann alles wie von selbst. Und genauso war es dann auch. Sie gehen fischen. Aber sie fangen – nichts. Erst als da einer kommt und für einen neuen Blick auf die alten Dinge sorgt, erst dann geschieht das Wunderbare: Fische ohne Ende! Und in all dem diese Spannung: Ist er es vielleicht wieder? Keiner traut sich, dem Gedanken bis zum Ende zu folgen. Nur der, der mit den Augen der Liebe auf alles blickt, der erkennt: „Es ist der Herr!“
Dem Auferstandenen zu folgen ist keine einfache Sache. Zu stark sind die Argumente dagegen. Zu groß die Verunsicherung. Zu mächtig die alten bekannten Bahnen. Die Begegnung der sieben Männer am See von Tiberias zeigt mir aber, dass es gehen kann. Dass es gehen kann, Ostern mitten im zermürbenden täglichen Allerlei zu erleben. Wenn ich das, was ich tue, nicht verbissen mache, sondern den Rahmen, den mir das Leben bietet oder die Umstände gewähren oder die Tradition empfiehlt, wenn ich all das als das nehme, was es ist: als Hilfe dabei, meinen eigenen Weg zu finden – dann kann ich auf dieser Grundlage auch neue Schritte wagen.
Dann entdecke ich plötzlich eine neue Sicht auf die alten Dinge. Dann erkenne ich in einem Frühstück nicht nur Fisch und Brot, sondern ein Geschenk, das mir das Herz erwärmt. Dann bekomme ich vielleicht nicht auf alles sofort eine Antwort. Aber ich spüre: Das alles hier, das ist kein Märchen. Auch keine Vertröstung. Nein, es ist vielmehr das Angebot eines Menschen, in dem Gott sich ganz auf unsere Seite gestellt hat, um an den Herausforderungen und Widrigkeiten dieses Lebens nicht zu zerbrechen, sich von ihnen nicht in die Enge führen zu lassen, sondern ermutigt und gestärkt nach vorne zu schauen.
Wenn ich diesen Schritt wage – weg aus dem, was mich an die Vergangenheit kettet, weg von dem, was immer schon so war, weg von dem, wo ich mich nicht traue, anders zu sein, weg von dem, wo die Enge dominiert, nicht die Weite – wenn ich diesen Schritt wage, dann hat das Leben eine Chance. Was aussieht wie ein Sonnenaufgangsidyll mit Picknick am Stand, das ist in Wahrheit ein Aufstand gegen den Tod. Gegen den Tod mitten im Leben.
Alexander Bergel
1. Mai
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Predigt an Ostern
zu Joh 20,1-18
„Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde …“ Was für eine unendliche Enttäuschung spricht aus diesen Worten. Keine Erlösung. Keine Perspektive. Kein Leben. Alles vergebens. Deshalb wollen sie auch nur noch weg. Die beiden Männer auf ihrem Weg nach Emmaus. Plötzlich aber, kurz bevor es dunkel wird, ist da einer, dem sie – wie von selbst – alles erzählen. Sie berichten von Frauen, die allen Ernstes meinen, der, den sie hatten sterben sehen, lebe! Aber wer soll das glauben? So verrückt kann doch keiner sein!
Noch zwei andere sind unterwegs. Petrus und der Jünger, den Jesus liebte. Auch sie hatten gehofft. Gehofft, „dass er der sei, der Israel erlösen werde“. Aber das ist vorbei. Denn er ist tot. Und doch sind sie unterwegs. Aufgeschreckt von einer Frau, die Unglaubliches berichtet. Leer soll es ein, das Grab. Dort angekommen, sehen die beiden Männer ein paar Leichentücher. Sonst nichts. Sie zählen eins und eins zusammen: Leeres Grab + zusammengelegte Leinenbinden = ja, was nur? Irgendwas halt. Bloß nicht weiter denken oder gar fühlen. Lieber zurück nach Hause. Weitermachen wie bisher. Auch eine Art, mit der eigenen Sehnsucht umzugehen. Typisch Mann, sagen manche.
Und dann steht da diese Frau. Und lässt ihren Gefühlen freien Lauf. Maria aus Magdala. Auch sie hatte gehofft. Gehofft, „dass er der sei, der Israel erlösen werde“. Erlösung – was für ein Wort! Verstehen kann das wohl nur, wer einmal im Tiefsten erfahren hat: Da gibt es einen,
der nimmt mich so, wie ich bin. Keine Vorurteile. Keine Verurteilung. Keine Bedingung. Doch – eine schon: „Wenn du mir folgen willst, dann vertrau mir!“ Das hatte Maria getan. Und am eigenen Leib zu spüren bekommen, was es bedeutet, nicht mehr klein und wertlos zu sein. Doch nun war er tot. Er, der so unendlich gut war. Der heilte. Und aufrichtete. Der, der nicht nur von Gott sprach, sondern bei dem man Gott spüren konnte. Wie nirgendwo sonst. Jetzt aber spürte Maria nur noch eines: tiefe Verzweiflung.
Und heute? Ja, was fühlen wir? In diesen Tagen? In diesen Zeiten? In dieser Welt? Wie soll denn Ostern werden in einer Welt, die von Tod und Elend und Hass und Gewalt so zerfressen ist wie schon lange nicht mehr? In der Menschen dahingemetzelt, Familien zerrissen, Millionen in die Flucht getrieben und ganze Landstriche verwüstet werden? „Wir hatten so sehr auf dich gehofft, o Gott, doch wo – wo bist du?“ Ostern ist kein Fest der heilen Welt. Die Osterzeugen von damals waren voller Panik und Angst. Alles war zerbrochen, nichts machte mehr Sinn, und diese eine Frage quälte auch sie: „Wo, Gott, wo bist du?“ Wer sich heute auf die Suche nach Ostern macht, darf das nicht vergessen.
Aber wer sich mit diesem Wissen auf die Suche nach Ostern macht, der wird sich vielleicht daran erinnern, wie damals von diesen verängstigten, tieftraurigen Menschen eine Kraft ausging. Eine Kraft, die bis heute reicht. Sie alle hatten die Erfahrung gemacht: Jesus lebt! Und es allen erzählt. Und die vielen Leidtragenden spüren lassen: Das Leben hat doch einen Sinn! Trotz allem. Ostern ist zwar kein Fest der heilen Welt. Aber vielleicht kann sie doch etwas heiler werden, diese Welt, wenn wir unsere Ostererfahrungen weitergeben. Wenn wir voller Hoffnung Ostern feiern. Und wenn wir Ostern leben!
Alexander Bergel
17. April
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Predigt am Gründonnerstag
zu 1 Kor 11,23-26
Diese Bilder gingen um die Welt. Frauen und Kinder, die sich verabschieden. Denn der Ehemann, der Papa muss in den Krieg ziehen. Wird er zurückkommen? Werden alle diese Ehemänner und Väter, diese Söhne und Brüder, diese Onkel und Cousins, werden all diese Männer je zurückkehren? Keiner weiß es. So wenig, wie irgendjemand weiß, wohin der Irrsinn des Krieges überhaupt führen soll. Was er schon geschafft hat, dieser Krieg, was Kriege immer schaffen: Menschen werden auseinandergerissen. Überall tiefer Schmerz. Ungewissheit. Nackte Angst. Und warum? Weil ein Mächtiger es so will.
Heute Abend denken wir auch an einen Abschied. Jesus von Nazareth feiert Abschied. Am Abend vor seinem Leiden. Er nimmt Abschied im Kreis der Freunde. Er isst und trinkt. Auge in Auge mit dem Tod. Weil die Machthaber in Jerusalem es so wollen. Bei allem Zweifel, aller Angst, ja Todesangst, bei allem Weglaufen-wollen vor diesem Abschied blickt Jesus dennoch in die Zukunft: „Ich werde nicht mehr vom Gewächs des Weinstocks trinken, bis zu jenem Tage, wo ich auf neue Weise davon trinken werde im Reich meines Vaters.“ Jesus hat keine Gewissheit, dass die Sache gut ausgeht. Im Gegenteil. Er weiß, dass nun der größte Abschied vor der Tür steht. Und doch hofft er, dass es nach diesem Abschied weiter gehen wird.
Es ist diese Hoffnung, fast kann man sagen: Gewissheit, die mir in einem Brief begegnet ist. Kurz vor der Hinrichtung durch die Nazis schreibt eine Frau ihrem zum Tode verurteilten Mann: „Ich verlasse dich nicht, denn meine Gefühle und alles, was lieben kann in mir, gehört ja Dir.“ Wer so liebt, der weiß, was Abschied nehmen im tiefsten bedeutet. Und der kann verstehen, wirklich verstehen, was wir heute feiern.
Alexander Bergel
14. April
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Predigt am 5. Fastensonntag
zu Jes 43,16-21 und Joh 8,1-11
In der Lesung haben wir von der Wüste gehört. Wo Wüste ist, kann nichts wachsen. Der Klima-Wandel lässt die Wüsten größer werden. Wer da lebt, hat ein hartes Leben. Wer da lebt, ist aber meistens nicht schuld. Schuld sind oft die, die viele hundert Kilometer weit weg leben. In Europa wird die Umwelt angegriffen. In anderen Teilen der Welt merkt man die Folgen. Wir Menschen gehören zusammen. Das ist manchmal gut für alle. Und manchmal ist es schlecht für viele.
Misereor, das Hilfswerk der Kirche in Deutschland, will das verändern. Misereor hat Projekte in vielen Ländern der Erde: in Asien, Afrika und Lateinamerika. Das Wort Misereor kommt aus der lateinischen Sprache. Wir können es so übersetzen: Mitleid haben. Das kann man leicht falsch verstehen. Falsch ist: Ich bin der Große – ich gebe etwas. Das sind die Kleinen – die nehmen nur. Richtig ist: Unsere Lebensweise verursacht anderswo Leid.
Wir tragen Schuld. Papst Franziskus hat dazu in seinem Schreiben Fratelli tutti geschrieben: „Die Reichen sind nur reich, weil die Armen arm sind.“ Darum ist Mit-Leid nicht ganz passend. Besser wäre: Mit-Schuld und Mit-Verantwortung. Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika nehmen Verantwortung wahr. Es gibt dort viele gute, kreative Projekte. Zum Beispiel Projekte für das Klima: In großen Städten entstehen neue Grün-Anlagen. Das ist gut gegen die Hitze und gut für die Luft. Und es gibt Projekte für Mobilität. Auf den Philippinen z.B. gibt es ein Fahrrad-Projekt. So können mehr Kinder leichter in die Schule und Erwachsene zur Arbeit kommen. Von vielen gute Ideen können wir in Deutschland manches lernen.
In einem kurzen Film zeigen wir Ihnen gleich beispielhaft, wie die Folgen des Klimawandels das Leben vieler Menschen in Bangladesch verändern und wie sie sich gegenseitig in den Projekten helfen. Misereor sammelt heute Geld, um diese Projekte zu unterstützen. So bauen wir – Menschen hier aus dieser Kirche und Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika – zusammen an einer guten Zukunft.
Gott will das Gute. Im Evangelium haben wir gehört: Jesus sieht die Schuld. Aber er verurteilt nicht. Jesus sieht nach vorn. Jesus schenkt eine neue Chance. Das gibt uns Mut. Das gibt uns Hoffnung. Uns – und unseren Schwestern und Brüdern auf der ganzen Welt. Zusammen sind wir Kirche. Das ist schon österliche Hoffnung. Das ist schon pfingstliche Wirklichkeit.
Ausschuss Mission-Entwicklung-Frieden
3. April
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Predigt am 4. Fastensonntag
zu Lk 15,1-3.11-32
Gerecht ist das nicht. Der, der immer alles macht, der da ist, der die Arbeit erledigt, der keine krummen Dinger dreht – der geht leer aus. Ich kann den Bruder gut verstehen: „So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich dein Gebot übertreten. Mir aber hast du nie einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte.“ Der andere aber, der, der sich das Erbteil auszahlen lässt, der sich aus dem Staub macht, der das Leben in vollen Zügen genießt und dann in der Gosse landet – der wird belohnt. Kleidung, Ring und Festmahl. Mehr geht nicht. Und das soll gerecht sein?
Jesus erzählt davon, wie er Gott sieht. Und welchen Weg Gott einschlägt. Offensichtlich ist es oft genug ein ganz anderer als wir ihn einschlagen würden. Ein Weg, der irritiert. Vielleicht sogar verärgert. Mindestens aber nachdenklich macht. Warum handelt Gott so? Vielleicht, weil er damit deutlich machen will: Das Leben ist eigentlich nie ein gerader Weg. Zum Leben gehört es auszubrechen, neue Erfahrungen zu machen, die eigenen Grenzen zu erfahren und auch, am Boden zerstört zu sein. Wer nie ausbricht aus dem, was er kennt, wird das Leben in seiner Fülle niemals erfahren können.
Die beiden Brüder, von denen Jesus spricht, sind nicht nur zwei Jungs, denen wir uns sympathiemäßig zuordnen können. Das vielleicht auch. Aber ich glaube, diese beiden wohnen auch – in uns. Beide. Da gibt es die gewissenhafte Seite. Das Anständige. Das, „was sich gehört“. Und dann gibt es das Rebellische, das, wo wir ausbrechen wollen. Die Momente, in denen wir spüren: Ich muss weg, ich muss etwas anderes tun. Ich will anders sein – koste es, was es wolle. Beides ist in jedem vorzufinden. Und beides hat sein Recht.
Am Ende nämlich schließt der Vater beide Söhne in seine Arme. Den einen, der immer schon da war und dageblieben ist. Und den anderen, den, der die Welt entdeckt hat – mit allen Schatten und Abgründen. Vielleicht kann nur der, der diese Abgründe erlebt hat, erfassen, was offene Arme wirklich bedeuten. Die beiden Söhne – sie leben in uns. Bekriegen sich mitunter. Beargwöhnen sich. Und gehören doch zusammen. Mit welchem von beiden müsste ich mich eigentlich mal wieder unterhalten?
Alexander Bergel
27. März
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Predigt am 3. Fastensonntag
zu Ex 3,1-8a.10.13-15
Manchmal zieht es einem fast die Schuhe aus. Da sterben Menschen durch ein tragisches Unglück – und niemand kann wirklich helfen. Da vertraut einem die beste Freundin an: „Ich habe Krebs!“ – und man selbst muss es hilflos mit ansehen. Da wird ein Kind entführt und missbraucht – und keiner kann es verhindern. Da führt ein Despot einen grausamen Krieg – und alle bisherigen Versuche, das zu beenden, scheitern. Jeder von uns kann diese Liste weiterführen. Und jeden von uns treibt sie wohl manchmal um, diese eine Frage: Wo bist du denn, Gott? Lässt dich das alles kalt?
Eine Frage – so alt wie die Menschheit. Hat sie jemals schon eine Antwort gefunden? Das ist schwer zu sagen. Man könnte eine geben. Eine schnelle. Eine, die zwar stimmt. Aber ob sie hilft? Jesus, der Leidende, der Gekreuzigte, der Auferstandene – er ist die Antwort Gottes auf das viele Leid dieser Welt. Das mag sein. Und ich glaube es auch. Aber hilft uns das wirklich? Ist Ihnen das schon mal zur Hilfe geworden? Mir manchmal schon. Oft auch nicht.
In meiner Wohnung hängt ein Kreuz. Man muss sich ganz schön verrenken, um Jesus ins Gesicht schauen zu können. Aber auch er selbst hängt qualvoll verrenkt da. Eine schier unendlich Last scheint auf seinen Schultern zu liegen. Vielleicht auch unsere. Mir scheint, als wolle dieser Jesus das sagen, was Mose tausende Jahre zuvor schon einmal gehört hatte, damals am Dornbusch: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen!“ So fing sie nämlich an, die Begegnung des Mose mit einem Unbekannten. Mose, der junge Hebräer, der in Ägypten auf der Suche ist nach seiner Identität, Mose, der Tag für Tag erlebt, was es heißt, versklavt zu sein, Mose, der sich fragt, ob es denn wirklich einen starken Gott gebe, dieser Mose – er wird IHM begegnen.
Ein Dornbusch steht da. Mitten in der Wüste. Er brennt und verbrennt doch nicht. „Leg deine Schuhe ab!“, ruft ihm eine Stimme zu, „der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden.“ Diese Begegnung zieht ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Schuhe aus. Mitten in der Wüste also, dort, wo Tod und Verderben lauern, genau dort soll heiliger Boden sein? Dort gibt sich Gott zu erkennen? Und es wird noch besser: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen.“
Welch wunderbare Verheißung! Leben im Milch-und-Honig-Land! Leben ohne Bitterkeit und Dürre. Leben ohne Sklaverei und Hetze. Leben ohne Leid und Tod. Doch wer soll, ja wer kann das wirklich glauben? Auch Mose fiel es schwer. „Ich werde also zu den Israeliten kommen“, hält er der Stimme aus dem Dornbusch entgegen, „und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen darauf sagen?“
Verständliche Fragen. Uns vielleicht auch schon mal gestellt. „Du mit deinem Gott. Hat dir das jemals schon was genützt? Wo ist er denn, dein Gott?“ Fragen, die einen schon sprachlos machen können – denn manchmal ist er einem ja wirklich fremd, der eigene Gott. Mose erhält eine Antwort. Kurz und knapp zwar, aber sie hat es in sich: „Ich bin der ‚Ich-bin’.“ „Ich bin da, wo du bist!“ So übersetzt es Martin Buber. Keiner weiß, was Mose gedacht und gefühlt hat bei dieser Antwort. Aber sie hat ihm gereicht, um es allen weiterzusagen. Und dann ein ganzes Volk in die Freiheit zu führen. Würde Ihnen das reichen? Reicht Ihnen das Versprechen „Ich bin da, wo du bist“, wenn Ihnen das Leben manchmal die Schuhe auszieht?
Wenn ich auf mein Kreuz blicke, wenn ich Jesus ins Gesicht schaue, dann ist das kein schöner Anblick. Im Gegenteil. Aber genauso bekomme ich immer mehr eine Ahnung davon, was es heißt: „Ich kenne dein Leid.“ Und dann erinnere ich mich. Ich erinnere mich an Gottes uraltes Versprechen. In der Wüste gegeben, hat es am Kreuz Hand und Fuß bekommen. Und es gilt. So sehr die Fragen auch bleiben. So sehr Leid und Elend auch weiter zum Himmel schreien. So sehr Menschen sich das Leben auch weiter gegenseitig zur Hölle machen. „Mensch, ich bin da, wo du bist!“ Theoretisch hört sich das alles sehr gut an. Wird es den Praxistest überstehen?
Alexander Bergel
20. März
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Predigt am 2. Fastensonntag
zu Lk 9,28b-36
Da stehen sie, die beiden. Zwei Männer. Vielleicht mit langen weißen Bärten, denn sind sie schon sehr alt. Mose und Elija, die großen Gestalten des Volkes Israel, stehen neben Jesus auf dem Berg und sprechen mit ihm. Nicht über das, was war, sondern über das, was kommen wird: Mose und Elija blicken in die Zukunft. Szenenwechsel. Ein einzelner Mann steht da. Einer mit langem weißem Bart. Er spricht über das, was ist. Kyrill, der Patriarch von Moskau, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, spricht über den Krieg in der Ukraine. Und nennt ihn einen „metaphysischen Kampf gegen die Dekadenz des Westens“. Als Ausdruck dieser Dekadenz sieht Kyrill die Homosexuellenbewegung und überhaupt das ganze westliche Gerede von Menschenrechten. Es hört sich an wie eine Stimme aus längst vergangen geglaubten Zeiten. Aber er fühlt sich Jesus ganz nahe.
Und der? Jesus begegnet auf dem Berg Tabor zwei Zeugen aus der Vergangenheit. Jenem Mann, der wie kaum ein anderer für die Sehnsucht nach Freiheit steht: Mose. Und Elija, der mit Feuer und Schwert für seinen Gott gekämpft hat und dann doch völlig ausgelaugt spüren musste: Dieser Weg, der Weg des Kampfes, führt ins Unheil. Und mit Gott hat er rein gar nichts zu tun. Dieser Gott, so die nächste Erfahrung des Elija, zeigt sich nicht im Donner, nicht im Feuer, nicht im Sturm. Nein, dieser Gott zeigt sich im sanften leisen Säuseln oder wie Martin Buber es übersetzt: in einer Stimme „verschwebenden Schweigens“. Jesus steht auf dem Berg Tabor. Einem Berg, der schon von weitem sichtbar ist. Einem Berg, von dem aus man eine wunderbare Aussicht hat. Und wie sind diese Aussichten?
Jesus weiß: Wenn ich meinen Weg konsequent weitergehe, wird er mich an den Abgrund führen. Wenn ich diesen Weg konsequent weitergehe, wenn ich Menschen nicht nur mit Worten, sondern mit meiner ganzen Existenz berühre, wenn ich ihnen Perspektiven eröffne, wenn ich hoffe wider alle Hoffnung, wenn ich mich mit den Mächtigen anlege, wenn ich von Feindesliebe spreche und sie praktiziere, wenn ich jeden so nehme, wie er, wie sie ist, wenn ich den Menschen nicht nur sage, dass sie ein Abbild Gottes sind, sondern sie es am Ende wirklich glauben können (und zwar egal, was sie leisten, egal, wie unperfekt sie sind, egal, woher sie kommen, egal, wen sie lieben) – Jesus weiß: Wenn ich all das tue, dann wird es auch immer einige geben, die sagen: Nein, Jesus, so nicht! Und die dann alles tun, um das zu verhindern.
Es müssen nicht unbedingt Männer mit langen Bärten sein, die so denken und handeln. Aber es sind eben doch auch Männer wie der Moskauer Patriarch. Er ist für mich zum Symbol geworden. Zum Symbol für die ewig Gestrigen, die Verbohrten, die unendlich von sich und ihrem Kampf für das angeblich allein Richtige Überzeugten. Er ist für mich zum Symbol geworden für jene Menschen, die den Hammer in der Hand haben, um die Freiheit, die allen gilt, ans Kreuz zu schlagen, die die Liebe, die selbst den Tod besiegt, in eine erlaubte und in eine verbotene Liebe unterteilen, die die eigene Position mit Zähnen und Klauen verteidigen, koste es, was es wolle. Und sei es ein Krieg, der als „metaphysische Kampf“ verbrämt wird. Was für ein Irrsinn!
Jesus spricht mit Mose, dem Befreier, und mit Elija, dem Kämpfer, der mühsam lernen musste, dass er als Kämpfer Gott nicht finden kann. Diese beiden Männer, vor allem ihre Geschichten, ihre Erfahrung, dass Gott der ist, der in die Freiheit führt, nicht in die Enge, diese Erfahrung hat Jesus darin bestärkt, vom Berg herunterzusteigen und weiter den mühsamen Weg durch die Ebene zu gehen. Diesen mühsamen Weg kennen wir alle nur zu gut. Den manchmal so quälenden Alltag mit all seinen unbeantworteten Fragen. Das Ringen um ein gutes Miteinander zwischen den Generationen. Das immer neuen Hören auf die Meinung der anderen. Das Hinhalten der ausgestreckten Hand zur Versöhnung. Die Frage: Was kann ich in all dem Leid für andere tun? Und was ist, wenn ich meine eigenen Sorgen und Ängste selbst kaum aushalte?
Jesus konnte seinen Weg der Heilung und Befreiung, den Weg des Kampfes gegen alles Todbringende in der Welt nur gehen, weil er sich von Erfahrungen der Vergangenheit hat bestärken lassen. Erfahrungen waren das, die nicht in die ängstliche Enge und nicht in die fundamentalistische Oberflächlichkeit geführt haben, sondern in die Weite (siehe Mose) und in die Tiefe (siehe Elija). Genau das ist es, was wir auch in diesen Tagen so sehr brauchen!
Alexander Bergel
13. März
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Predigt am 1. Fastensonntag
zu Lk 4,1-13
Eines ist das Böse nie: abstrakt. Im Gegenteil. Meist zeigt es sich sehr konkret. Hat Namen und Gesicht. Kein Wunder also, dass das Böse in der Bibel als handelndes Gegenüber auftritt. Mal nennt man es Teufel, mal Satan oder Beelzebul. Mal begegnet es uns als Schlange, mal als Drache. Und überall lauert es. Sogar im Paradies. Und in der Wüste sowieso. Und natürlich überall dazwischen. Das Böse ist keine Märchenfigur. Die Frage, ob es den Teufel nun wirklich so gegeben hat oder gibt, ist nicht so sehr die Frage, ob da ein schwarzes, gar gehörntes Wesen sein Unwesen treibt, sondern ob das Böse Menschen ganz konkret ins Elend stürzt. Und wie man sich davor retten kann.
„Da führte ihn der Teufel hinauf und zeigte ihm in einem Augenblick alle Reiche des Erdkreises. Und er sagte zu ihm: All die Macht und Herrlichkeit dieser Reiche will ich dir geben, denn sie sind mir überlassen, und ich gebe sie, wem ich will. Wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest, wird dir alles gehören.“ Jesus sitzt in der Wüste. Nach der großen Gotteserfahrung bei seiner Taufe am Jordan muss er erst einmal alleine sein. Und sich dem stellen, was ihn berührt hat: „Ich soll Gottes Sohn sein?“ Immerhin hatte ihm die Stimme aus der Höhe (oder kam sie aus seinem Inneren?), immerhin hatte ihm diese Stimme das gesagt. Jesus geht dem auf den Grund. Stellt sich den Grundfragen des Lebens. Und erlebt das Böse. Hautnah. Jesus spürt die Versuchung zur Macht. Zum Besitzen-Wollen. Zum-Haben-Wollen. Zum Wie-Gott-Sein-Wollen.
Ist es das, was wir gerade in der Ukraine erleben? Kaltblütig einen Krieg zu planen, um seinen Herrschaftsbereich zu erweitern? Um den Gedanken der Demokratie vor der eigenen Haustür zum Teufel zu jagen? Um allen zu zeigen, wie unbesiegbar man ist? Präsident Putin ist nicht der Satan. Aber er sitzt an seinem langen weißen Tisch, perfiderweise also an einem Tisch in der Farbe der Unschuld, und schiebt die Mächtigen dieser Erde genauso vor sich her wie die Soldaten auf dem Schachbrett seines Angriffskrieges. Das größte Land der Erde – es soll noch größer werden. Koste es, was es wolle! Menschen sind auf der Flucht. Werden wahnsinnig vor Angst. Und sterben. Was bringt die Machthaber dieser Welt immer wieder dazu, Millionen von Menschen ins Elend stürzen? Ihnen das Leben nehmen? Ganze Regionen für Jahre und Jahrzehnte unbewohnbar zu machen?
Es wäre leichtfertig, die Welt ganz schlicht in Gut und Böse einzuteilen. Noch leichtfertiger wäre es zu sagen: Wir sind die Guten, die anderen sind die Bösen! Ist es nicht vielmehr so, dass das schleichende Gift von Neid und Hochmut, von Arroganz und Überheblichkeit, von Narzissmus und Selbstüberschätzung wohl jeder schon mal in Händen gehalten hat? Die vielen kleinen und großen Ungerechtigkeiten, Verletzungen und Machtdemonstrationen lassen vermuten, dass es so ist, oder? Keiner kann sich davon frei machen. Deswegen sitzt ja auch Jesus nicht im Paradiesgarten, sondern in der Wüste.
Er, der mehr und mehr entdeckt, wer er wirklich ist. Er, der mit einem Auftrag konfrontiert wird, der seinesgleichen sucht: Er soll das Wesen Gottes verkörpern. Er soll der Liebe Gottes Hand und Fuß verleihen. Gottes Herz mitten in einer Welt sein, die von Krise zu Krise schlittert, von Unheil zu Unheil wankt und ständig am Rande des Abgrunds steht. Jesus soll anders sein. Anders umgehen mit Macht. Anders umgehen mit den Vorstellungen von Gott. Anders umgehen mit dem eigenen Ego. Jesus stellt sich alldem. Er lässt sich nicht von seinem Weg abbringen. Einem Weg, den er selbst erst noch finden muss. Jesus verdrängt die Abgründe nicht, die auch er in sich spürt. Er stellt sich ihnen. Und trifft dann eine Entscheidung. Und diese Entscheidung heißt: Ich kann und ich muss und ich werde selbst handeln. Ich habe es in der Hand!
Gestern stand in der Zeitung zu lesen, dass an einigen Häusern in Haste Schmierereien aufgetaucht sind. Weiße Kreuze. Und manch kryptische Zeichen. In diesen Häusern leben Menschen mit russischen oder russlanddeutschen Wurzeln. Der Verdacht liegt nahe, dass da Menschen stigmatisiert und in Haft genommen werden sollen für das Unheil, das von russischem Boden ausgeht. Aber dieses Unheil geht nicht von einem ganzen Volk aus. Und so sehr es auch Menschen dort gibt, die das Handeln Putins begrüßen, so sehr diese Sicht sogar bis in unsere Gesellschaft reicht, weil beispielsweise in den Schulen Kinder sowohl mit russischen wie auch mit ukrainischen Wurzeln sitzen und nicht wissen, wohin mit ihrer Aggression, so sehr dieses Gift mehr und mehr alles zu durchseuchen versucht, so sehr gibt es auch in Russland Menschen, die sich wehren, die trotz Androhung härtester Strafen aufstehen und das Unrecht, das Böse beim Namen nennen. Die vernichtende Macht des Bösen bedarf entschiedener Menschen. Die aufstehen. Und handeln.
Jesus hat sich dem Bösen entgegengestellt. Er hat in seinem Wirken immer und immer wieder Menschen aufgerichtet, geheilt, gestärkt. Und sie ermutigt, dem Bösen zu widerstehen. Am Ende hat ihn das ans Kreuz gebracht. Und das Böse hatte gewonnen. Aber dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte, vermutlich nicht mal Jesus selbst: Es wurde Ostern. Die Macht des Bösen, die Macht des Todes – sie war gebrochen. Unfassbar! Seit Ostern wissen wir also: Die Liebe ist niemals schmerzfrei zu haben. Aber wir wissen seither auch, was die Liebe alles bewirken kann. Nicht die süßlich-verkitschte, sondern eine Liebe, die durchs Feuer gegangen ist!
In dieser Linie lese und deute ich, was Oksana Lyniv, die berühmte ukrainische Dirigentin, vor einigen Tagen über die ukrainische Nationalhymne gesagt hat: „In unserer Hymne gibt es eine Textzeile, die in etwa sagt: ‚Die Sonne wird aufgehen, und unsere Feinde werden wie Tau vom Sonnenlicht verschwinden.‘ Das hat mich immer fasziniert, dass wir sie nicht mit Gewalt bekämpfen, sondern das Böse verschwindet, weil es nicht so viel Kraft hat wie die Sonne.“ Wie schön, wenn das wahr würde!
Alexander Bergel
6. März
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Predigt am 8. Sonntag im Jahreskreis
zu Sir 27,4-7 und Lk 6,39-45
Es ist Krieg. Mitten in Europa. Ein Potentat überfällt den Nachbarn und schiebt ihm die Schuld in die Schuhe. Was muss er auch so provozieren? Zynischer geht es kaum. Hier ist nicht der Ort, um die politische Lage zu analysieren. Oder nach Gründen zu forschen. Oder um die Person des russischen Präsidenten einem Psychocheck zu unterziehen. Auch wenn sich ein Satz aus der Lesung durchaus anböte als Antwort auf die schon einige Jahre zurückliegende Charakterisierung Putins durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, Putin sei nun wirklich ein „lupenreiner Demokrat“. Im Buch Jesus Sirach steht zu lesen: „Im Sieb bleibt, wenn man es schüttelt, der Abfall zurück, so entdeckt man den Unrat eines Menschen in seinem Denken. Lobe keinen Menschen, ehe du nachgedacht hast.“
Machtzerfressene Menschen gehen über Leichen. In diesen Tagen ist es der „lupenreine Demokrat“. Und man fragt sich immer wieder: Warum? Was läuft schief im Leben der Mächtigen, was läuft schief im Miteinander der Staaten und Völker, dass die Sehnsucht der Menschen nach Frieden so sehr mit Füßen getreten wird? Wann hört Kain endlich auf, seinen Bruder Abel zu erschlagen? Wann lernen die Menschen endlich, wie Tod bringend die Wassermassen der Ignoranz sind, die schon zu Noahs Zeiten alles überflutet haben? Wann hören die Menschen endlich auf, an diesen hohen Türmen zu bauen, wie in Babel schon einer errichtet, aber nie vollendet wurde? Wann hören die Menschen auf, an Türmen zu bauen, die nur eine Botschaft haben: „Ich zeig euch schon, wie mächtig ich bin!“? Diesen Machtdemonstrationen folgt nämlich – damals wie heute – nur eines: Es gibt keine gemeinsame Sprache mehr. Jeder dreht sich um die eigene Achse. Lebt in seiner eigenen Welt. Und die steht am Abgrund.
„Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen?“ Jesus hat nicht die weltpolitische Lage im Blick, wenn er dies sagt, sondern ganz konkrete Menschen, denen er den Spiegel vorhält. Wer in diesen Spiegel blickt, erkennt darin die eigene Maßlosigkeit. Eine Maßlosigkeit, die darin besteht, den Splitter bei anderen sofort, den Balken im eigenen Auge jedoch nicht zu erkennen. Wenn ich den aber ignoriere, wird meine Sehfähigkeit auf Dauer eingeschränkt sein. Und alles, was ich zu sehen glaube, wird mehr und mehr zum Trugbild. „Kann ein Blinder einen Blinden führen?“ Nein. Keiner kann das. Weder Menschen noch Staaten. Vielleicht hatte Jesus neben dem einzelnen doch auch die politische Lage im Blick. Die Weltmacht Rom hatte den Zenit ihres Einflusses überschritten. Erste Zerfallserscheinungen wurden sichtbar. Die Folge: immer mehr Gewalt. Immer mehr Willkür. Immer mehr Hass. Und immer weniger Verständigung.
„Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor, und der böse Mensch bringt aus dem bösen das Böse hervor.“ In diesen Tagen hören wir viel: Kriegspropaganda und seriöse Nachrichten. Wir sehen Bilder von Panzerkolonnen, Bombeneinschlägen, fliehenden Menschen und weinenden Kindern. Kiew ist zwar weit weg – aber diese Bilder, sie erreichen unser Herz, erschüttern, machen Angst. Und hinterfragen uns in unserer gut eingerichteten Demokratie. Spätestens jetzt aber wird auch deutlich, wie zynisch die Rede von der „Meinungsdiktatur Deutschland“ auf den Corona-Demonstrationen der letzten Monate war und ist.
Wohin führt der Weg? Uns in dieser Stunde erst einmal hier zusammen. Gebete verändern zwar nicht die Welt, hat einmal jemand gesagt. Aber Gebete verändern Menschen. Und Menschen verändern die Welt. Wir können uns hier gegenseitig stärken. Allein dadurch, dass wir zusammen sind. Wir können öffentlich auftreten und uns mit den Menschen in der Ukraine solidarisieren. Wir können da, wo wir stehen, Wege des Friedens wagen. Auch wenn alles dagegen spricht. Wir können überlegen, welche Worte wir wählen. Wir können vorsichtiger werden mit unserem Urteil. Und vielleicht auch dankbarer für die Freiheit, in der wir leben. Dadurch wird kein einziger Panzer weniger rollen. Aber so mancher Panzer unseres Herzens wird vielleicht durchlässiger. Und wenn es stimmt, dass Gebete Menschen verändern – wer weiß, wo das am Ende hinführt …
Alexander Bergel
27. Februar
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Predigt am 7. Sonntag im Jahreskreis
zu Lk 6,27-38
Wer verstehen will, wie Jesus tickt, der muss die Bergpredigt lesen. Oder die Feldrede, wie sie bei Lukas heißt. In diesen Wochen tun wir das und hören so von seiner Sicht auf die Welt. Wer dachte, die Schmerzgrenze wäre bereits erreicht gewesen, der sieht sich heute mit weiteren Forderungen zur Lebensgestaltung konfrontiert. „Liebt eure Feinde. Tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen. Betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd.“ So und nicht anders beantwortet Jesus die Frage nach dem Umgang mit Hass und Gewalt.
Das ist doch unmenschlich, oder? Vielleicht denken Sie das gerade. Wer lässt sich denn so was gefallen? Wer hält es aus, erniedrigt zu werden? Und vor allem: Was nützt es? Der Kreislauf der Gewalt – ja, für einen Augenblick mag er durchbrochen sein. Aber das war es dann auch. Jesus konnte vielleicht so leben. Und das Kreuz zeigt uns: Er hat es wirklich getan. Bis zum Schluss hat er nicht zurückgeschlagen. Aber ich? Ich will mich nicht kleinkriegen lassen. Ich will den arroganten, überheblichen, dummen, machtzerfressenen Aggressoren dieser Welt nicht das Feld überlassen. Ich will mich wehren. Und wenn schon nicht für mich, dann für meine Kinder, meine Familie, für meine Kollegen, für Menschen, die mir vertrauen. Nein – einfach so dastehen? Das kann ich nicht.
Einfach so dastehen – das sollen wir auch gar nicht. Denn: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen.“ Jesus fordert uns nicht auf, einfach stehen zu bleiben und abzuwarten. Er will uns in Bewegung halten. Zum Nachdenken bringen: Was erwarte ich eigentlich von anderen? Und bin ich denen gegenüber auch so? Sich dem einmal zu stellen, das wird kein Spaziergang, sicher nicht. Aber wer weiß, was alles möglich wird. Was alles möglich wird, wenn ich mich bewege. Wenn ich nicht mit dem Standpunkt verheiratet bleibe, den ich halt immer schon hatte. Wenn ich trotz allem nach einem Ausweg suche. „Ach ja“, möchten vermutlich viele von uns entgegnen, „du hast ja Recht, Jesus – aber so einfach, wie du dir das vorstellst, ist das nicht!“ Nein, einfach ist das auch nicht. Die letzten 2000 Jahre haben das sehr deutlich gezeigt. Und so sitzt er tief: der Stachel Jesu. Und erinnert uns an einen Menschen, der so gelebt hat. Es hat ihn ans Kreuz gebracht. Und manchen um den Verstand. Wieder anderen aber hat genau das Mut gemacht. Mut gemacht, diesen Weg Jesu zu versuchen. Was wohl passiert, wenn sich das rumspricht?
Alexander Bergel
20. Februar
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Predigt am 6. Sonntag im Jahreskreis
zu Lk 6,17.20-26
Wie so oft: Jesus provoziert. Bohrt und verstört. Rüttelt den auf, der sich bequem eingerichtet hat. Den Reichen. Den Satten. Den Fröhlichen. Und der? Ja, was tut der, der sich so schön und bequem eingerichtet hat? Weghören? Beschwichtigen? Oder doch handeln?
Weghören – geht schwer. Dann dürfte man eigentlich nicht wiederkommen. Beschwichtigen – das schon eher: „Natürlich hat Jesus recht: Geld ist nicht alles. Aber ich tu doch auch was Gutes damit!“ Ja, sicher – doch was ändert das an den Problemen der Welt – und an meinen Problemen? Wer ehrlich ist … Also doch handeln, wirklich handeln. Nur wie?
Vielleicht, indem ich mal so tue, als ob es möglich wäre, anders zu leben. Als ob das, was bisher das Entscheidende für mich war, nicht mehr oben steht. Wer die Welt verändern will, der darf nicht warten, dass es irgendjemand tut. Irgendeiner, der es besser kann. Oder mehr Einfluss hat. Oder andere Möglichkeiten.
Jesus hat damals einfach angefangen. Obwohl er fast keine Möglichkeiten hatte. Geringen Einfluss. Und am Ende so gut wie keine Unterstützer. Er hat die Prioritäten anders gesetzt. Dem, der keine Perspektive hatte, zugehört. Die, die nicht wusste, wie sie wieder ins Leben finden sollte, angesteckt mit seinem Vertrauen. Den, der voll war bis oben hin mit seinem Macht- und Einflusskrempel, die Augen geöffnet.
Das war immer schon schwer. Aber die, die sich drauf eingelassen haben, haben erlebt, wie frei das macht, Altes hinter sich zu lassen. Das wäre Möglichkeit eins. Einfacher ist natürlich Möglichkeit zwei. Lothar Zenetti beschreibt sie so:
Wir sitzen
in einer wirklich
überaus schönen Kirche,
wohlgekleidet,
wohlgenährt und von
Wohlbehagen erfüllt.
Von der Kanzel verlautet,
dass Armut
selig macht.
Es war
eine wirklich
schöne Predigt.
Alexander Bergel
13. Februar
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Predigt am 5. Sonntag im Jahreskreis
zu Lk 5,1-11
Er weiß genau, wie es geht: beobachten, analysieren, Lösung anbieten. Und dann: Die Lösung überzeugt, der Mensch ist fasziniert, er lässt alles stehen und liegen – und geht mit. So läuft das, wenn man mit Jesus zu tun hat. Oder mit Verbrechern. Aber der Reihe nach.
Jesus sieht die Männer am See. Sie tun, was sie immer tun – doch recht erfolglos: Die Netze sind leer. Was aber wünscht sich ein Fischer? Richtig: volle Netze! Jesus weiß das. Und er weiß auch: Wenn er die Herzen dieser Leute gewinnen will, muss er in ihre Welt eintauchen. Also bittet er den Simon: „Lass mich in dein Boot!“ Gesagt, getan. Jesus sitzt mit Simon, der noch nicht Petrus heißt, in einem Boot. Sie fahren weg vom Ufer – und dann legt Jesus los.
Er spricht vom Reich Gottes, von einer Welt, in der alles gut wird. Simon und seine Freunde hören zu, was der Fremde sagt. Als er eigentlich schon fertig ist, geschieht das Entscheidende. Jesus spricht nicht mehr allgemein zu irgendwem, sondern ganz konkret zu einem, dem etwas fehlt: Erfolg nämlich. Jesus sagt zu Simon: „Wirf die Netze aus!“ Und der tut es – obwohl die Aussichten gering sind. Aber von wegen – nach kurzer Zeit: voll bis oben hin!
Und Simon? Der ist selbst voll bis oben hin – voller Begeisterung, so voll, dass er nur noch eines will: diesem Jesus folgen. Diesem bis dahin Fremden, der sich auf ihn eingelassen hat. Der wusste, was er brauchte. Der ihm eine Fülle geschenkt hat, von der er nicht zu träumen wagte. Simon, der bald Petrus heißen wird, geht mit. Und wird selbst so einer werden, dem es gelingt, Menschen zu begeistern. Er wird zum Menschenfischer.
Was sich hier anhört, als wäre es in ein paar Stunden geschehen, ist der klassische Weg der Berufung, der Weg des Hörens, der Weg des Suchens, was für das eigene Leben wichtig und richtig ist. So ruft Jesus Menschen in seine Nachfolge. Menschen, die den Glauben an das Gute noch nicht aufgegeben haben. Menschen, die alles auf eine Karte setzen. Menschen, die in Freiheit ihren Weg suchen und finden.
So macht Jesus das. Aber ebenso handeln auch Manipulierer, Menschenverachter, Verbrecher. Die Methoden sind dieselben. Das Ziel ein anderes. Wer Jesus folgt, wird nie in der Enge landen. Nie in Abhängigkeit. Nie im Kadavergehorsam. Nie in Unterdrückung. Nie in Ausbeutung. Nie in Angst. Und doch gibt es genau das auch im Christentum – und zwar nicht nur in Sekten und obskuren christlichen Splittergruppen, nein: mitten in unserer Kirche.
Wenn Menschen mich manipulieren, indem sie meine Schwäche ausnutzen, dann darf ich ziemlich sicher sein, dass es ihnen nicht um mich geht, sondern um etwas ganz Anderes. Jesus hat oft gefragt: „Was soll ich dir tun?“ Und der Kranke, der Verwundete, der Suchende, der Einsame, der Arme, der Gefangene, der Ausgestoßene, der Verirrte konnte sich dem stellen. Und konnte heil werden in Jesu Gegenwart. Und stark. Und groß. Und beschenkt. Und gesegnet. Das ist der Weg Jesu. Ein Weg, der in die Weite führt. Und in die Freiheit. Wer in seinem Namen unterwegs ist, sollte das nie vergessen.
Alexander Bergel
6. Feburar
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Predigt am 4. Sonntag im Jahreskreis
zu 1 Kor 12,31-13, 13 und Lk 4,21-30
Musste das wirklich sein? Warum dieser Ton? Es hatte doch so gut angefangen: „Alle stimmten ihm zu. Sie staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen.“ Jesus, der Sohn Josefs, der, den alle kannten, schon seit Kindertagen, er hatte sie gepackt. Er hätte alles mit ihnen machen, hätte sie begeistern können für seine Sache. Aber was passiert? Nicht die Leute greifen Jesus an, nicht sie lehnen ihn ab, weil er einer der ihren ist – nein, Jesus selbst schneidet dieses Thema an. Und gibt die Sache schon verloren, bevor sie überhaupt beginnen konnte: „Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.“ Ein schwerer Marketing-Fehler Jesu? Oder Strategie?
Man muss es sich wohl so vorstellen: Lange Jahre hatte Jesus in Nazareth gelebt. War groß geworden in seiner Familie, Teil einer Sippe, eingebunden in Nachbarschaft und Synagoge. Er hatte alles mitgemacht und mitbekommen in dieser kleinen, überschaubaren Welt. Diese Welt aber musste er hinter sich lassen. Denn er spürte: Ich verändere mich. Die Luft zum Atmen wird mir zu dünn. Jesus hatte von Johannes dem Täufer gehört. Und als er dem begegnet, öffnet sich der Himmel. Nun ist es ganz klar: Mit ihm ist etwas Besonderes los. „Du bist mein geliebter Sohn!“, hört er eine Stimme sagen. Gottes Stimme.
Aber dabei bleibt es nicht. Jesus geht in die Wüste, stellt sich seiner Leere und Verletzlichkeit. Und wie so oft, wenn Menschen schwach sind, kommt das Böse ins Spiel. „Willst du mir dienen?“, fragt ihn der Teufel. Jesus bleibt stark – und das Böse verschwindet. Immerhin eine Zeit lang. So entdeckt Jesus immer mehr, wer er ist – und wofür er lebt. Mit diesem Wissen kehrt er zurück nach Nazareth. Nur – ein Zuhause ist es ihm nicht mehr. Er passt nicht mehr dorthin. Und das kostet ihn fast das Leben: „Sie brachten ihn an den Abhang des Berges und wollten ihn hinabstürzen.“
Wer einmal die Weite erlebt hat, wer das Leben in seiner Fülle kennt, wer es mit Gott, mit Tod und Teufel zu tun bekommen hat – der kann keine faulen Kompromisse mehr eingehen. Auch Jesus nicht. Und deshalb macht er von Anfang an klar: „Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet. Ich bestärke euch nicht in dem, was ihr immer schon getan habt. Zu wem ich spreche, der wird sich verändern müssen. Und das heißt: die Feinde lieben, auf Gewalt verzichten, Gott an die erste Stelle setzen, Reichtum an die letzte, träumen wie ein Kind, Hohn und Spott ertragen für den Glauben, sein Leben hingeben. Und eines noch: Wenn du mir folgst, wirst du dich – ganz von selbst – darum bemühen, echt zu sein. Kein Wunschbild. Keine Kopie.“
In der vergangenen Woche haben 125 Menschen, die ehrenamtlich oder hauptberuflich in der Kirche arbeiten, den Weg in die Öffentlichkeit gewagt und sich als homosexuell geoutet. Eine ältere Dame fragte mich, warum sich denn auch Priester daran beteiligt hätten, die doch zölibatär leben würden. „Ist das denn dann so wichtig?“ Ich glaube schon. Man muss sicher nicht mit allen und schon gar nicht immer und überall über seine Sexualität sprechen. Aber wer spürt: Eigentlich will mich die Kirche nicht so, wie ich bin, eigentlich wollen die nur meine Arbeitskraft – wer das spürt, und – auch davon berichten viele, die sich geoutet haben – wer permanent Angst haben muss, entdeckt, zur Rede gestellt oder entlassen und zum Teufel gejagt zu werden, weil er oder sie nicht der kirchlichen Norm entspricht – der wird irgendwann entweder zerbrechen oder aber den Schritt in die Freiheit wagen.
Der Weg Jesu – der führt immer in die Freiheit. Er, der sich befreit hat aus der Enge der Erwartungen, aus dem kleinbürgerlichen „Wir wissen, wo du her kommst“ und dem „Wir wissen, was gut für dich ist“ – er setzt ein klares Vorzeichen vor alles, was er tut und wofür er einsteht. Und dieses Vorzeichen heißt: Liebe. Im Vergleich zu ihr ist alles andere zweitrangig. Oder um es mit den Worten des Paulus zu sagen:
„Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte, wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib opferte, um mich zu rühmen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.“
Zurück nach Nazareth. Jesus kehrte heim in eine Dorfidylle, die keine ist. Und spürte – so kann es nicht bleiben. Er wollte Menschen, die sich ergreifen und verändern lassen. Er wollte echte Menschen. Keine Abziehbilder ihrer selbst. Das Outing der 125 Frauen und Männer in der letzten Woche hat viele Menschen, auch viele heterosexuelle, sehr nachdenklich gemacht. Vielleicht, weil es sie ermutigt, sich der Wahrheit des eigenen Lebens zu stellen und ehrlich zu fragen: Wer bin ich eigentlich wirklich?
Alexander Bergel
30. Januar
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Predigt am 3. Sonntag im Jahreskreis
zu Lk 4,14-21
Mitarbeiter der Wahrheit. Wer sich so nennt, muss sich seiner Sache ziemlich sicher sein. Mitarbeiter der Wahrheit – das ist der Wahlspruch, den sich Joseph Ratzinger anlässlich seiner Bischofsweihe gegeben hat. Und mit diesem Anspruch ist er dann sein Leben lang aufgetreten. Sehr oft und sehr genau wusste Ratzinger, der Erzbischof von München und Freising, der Kardinalpräfekt in Rom, der Stellvertreter Christi, mit erstaunlicher Sicherheit, was richtig ist und was nicht. Sein Urteil hat die Kirchengeschichte der letzten Jahrzehnte maßgeblich beeinflusst. Sein Wort entschied über Lebenswege. Bis in die jüngste Vergangenheit.
Und nun ist offenbar geworden: Der Mitarbeiter der Wahrheit nimmt es mit der Wahrheit selbst nicht immer so ganz genau. Dabei geht es nicht um eine kleine Notlüge. Es geht auch nicht darum, ob ein 94-Jähriger vielleicht nicht mehr so ganz detailliert wissen muss, was in welcher Sitzung vor vierzig Jahren geschehen ist. Nein, es geht ums Ganze. Nach der Veröffentlichung des Gutachtens zur Aufarbeitung des Missbrauchs im Erzbistum München und Freising ist klar geworden: Joseph Ratzinger, nunmehr der emeritierte Papst Benedikt, hat mit „überwiegender Wahrscheinlichkeit“, so die Gutachter, nicht die Wahrheit gesagt. Vielmehr finden sich in den schriftlichen Antworten des Papstes im Ruhestand abenteuerliche Winkelzüge, um beispielsweise einen Missbrauch nicht als solchen zu werten, da es ja „keine Berührungen gegeben“ habe und der beschuldigte Priester auch gerade „nicht im Dienst“ gewesen sei. Ich erspare uns weitere Details. Mit „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ nicht die Wahrheit gesagt – in einem Gutachten klingt das wie ein Schuldspruch, vor Gericht wäre es ein Freispruch aus Mangel an Beweisen.
In einer Predigt kurz vor jener Wahl, die Joseph Ratzinger zum Papst machen sollte, legt er jenes Wort aus, das uns gerade verkündet wurde: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ Ratzinger sagt dazu: „Christus begegnen heißt, der Barmherzigkeit Gottes begegnen. Der Auftrag Christi ist durch die priesterliche Salbung zu unserem Auftrag geworden. Wir sind aufgerufen, das Jahr der Barmherzigkeit des Herrn nicht nur mit Worten, sondern mit dem Leben und mit den wirksamen Zeichen der Sakramente zu verkünden.“ Richtig, genau dazu sind wir aufgerufen. Denn der, der es gesagt hat, hat sich ein Programm gegeben. Und damit allen, die ihm nachfolgen wollen: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht, damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“
Wann beginnt es endlich, dieses Gnadenjahr? Wann beginnt der Blick auf die, mit denen gnadenlos umgegangen wird – die Kleinen und Zerbrochenen, die genau das immer noch sind, obwohl der Missbrauch oft schon Jahrzehnte hinter ihnen liegt? Wann erfahren die Zerschlagenen endlich jene Freiheit, die sie brauchen, um wieder atmen zu können? Diese Freiheit könnte einen ungeheuren Schub erhalten, wenn Verantwortungsträger endlich mal nicht mehr sagen: „Wir hätten damals“ oder: „Wir haben versucht“ oder: „Wenn man dies oder jenes bedenkt“ – nein, wenn einer zugibt: „Ich habe versagt!“ Und daraus Konsequenzen zieht. Wann werden den blinden Hierarchen endlich die Augen aufgehen? Wann werden sie merken, dass sie – die Blinden – überhaupt nicht in der Lage sind, anderen zu zeigen, wo es lang geht? Wann werden die durch Strukturen des kollektiven Verdrängens gequälten Opfer ihre Ketten endlich hinter sich lassen können? Wann werden die Akteure merken, dass ihre Funktion des jahrhundertelangen Kerkermeister-Daseins vorbei ist und sie keine Macht mehr über die Herzen der Menschen haben? Wann werden wir spüren, welche befreiende Kraft die Frohe Botschaft Jesu haben kann, wenn sie den Menschen keine Vorschriften macht, sondern ihnen hilft, ihr Leben zu deuten, es als wertvoll zu erleben und Menschen, dem Vorbild Jesu entsprechend, Wege der Freiheit gehen können? Wann wird es endlich soweit kommen?
Joseph Ratzinger predigte 2005: „Christus begegnen heißt, der Barmherzigkeit Gottes begegnen. Der Auftrag Christi ist durch die priesterliche Salbung zu unserem Auftrag geworden. Wir sind aufgerufen, das Jahr der Barmherzigkeit des Herrn nicht nur mit Worten, sondern mit dem Leben und mit den wirksamen Zeichen der Sakramente zu verkünden.“ Ratzinger spricht von der „priesterlichen Salbung“, die den Auftrag beinhaltet, Gottes Barmherzigkeit nicht nur mit Worten, sondern mit dem Leben zu verkünden. Gemeint sind wir alle. Alle, die durch die Taufe zu Priestern, Königen und Propheten geworden sind. Es bedeutet für jeden, für jede von uns, sich immer neu die Frage zu stellen: Was kann ich tun? Das ist unbestritten.
Im Augenblick aber, das glaube ich ganz fest, im Augenblick muss vor allem eines oberste Priorität haben: All jene, die so vollmundig von der Gnade und den Vorzügen der „priesterlichen Salbung“ sprechen – und jene, die das sagen, meinen meist ausschließlich das amtliche Priestertum –, all jene, die so sprechen, müssen von ihrem hohen moralischen Ross heruntersteigen. Von einem moralischen Ross, das schon lange nur noch ein völlig heruntergekommener alter Klepper ist. Es wäre ein entscheidender Schritt. Ein Schritt, der den klein gehaltenen Menschen, konkret: der den von diesem an so vielen Stellen korrumpiertem hierarchischem Priestersystem klein gehaltenen Menschen hilft, wieder aufzuatmen und zu leben. Damit das gelingen kann, sind viele weitere echte Schritte der Umkehr notwendig. Denn nur, wenn die gegangen werden, können Menschen, die in der Kirche so viel Elend erlitten und Ignoranz erfahren haben, irgendwann vielleicht wirklich und endlich befreit sagen: „Ja, heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt! Auch an mir.“
Alexander Bergel
23. Januar
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Predigt im Rahmen des Ökumenischen Kanzeltauschs
zu Dan 7
Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen – vielleicht kennen Sie dieses Zitat. Es wird unserem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt zugesprochen, und man könnte ihm Recht geben, wenn man sich die Visionen aus dem Buch Daniel anschaut. Eigentlich war Daniel derjenige, der die Träume anderer deutete. Darin war er richtig gut. Man könnte sagen: Das war seine göttliche Gabe. Und obwohl er als Gefangener Nebukadnezars in Babylon lebte, war er dessen bevorzugter Traumdeuter. Das war schon ein wichtiger Job. Träume und Visionen hatten damals eine besondere Bedeutung. Wurden darin doch Aussagen über die Zukunft vermutet.
Nun aber träumt Daniel selbst. Was Daniel in seinem Traum sieht, ist schon ein wenig bizarr und irritierend, fast so als käme der Traum aus einem der gerade so beliebten Fantasyfilme, wie „Game of thrones“, „the witcher“ oder wie sie alle heißen. Daniel sieht in seinem Traum vier Wesen aus dem aufgewühlten Meer aufsteigen: Ein Löwe mit Adlerflügeln, ein Bär mit drei Rippen im Maul, ein Panther mit Flügeln und vier Köpfen, und eine undefinierbare Bestie mit Eisenzähnen und zehn Hörnern. Diesem wächst dann noch ein weiteres Horn, welches dann großspurig und anmaßend daher redet. Irgendwie gruselig.
Eigentlich war der standhafte Glaubensheld ja mit rätselhaften Träumen vertraut, aber was er hier selbst träumte, erschreckte und verunsicherte ihn. Mit dieser Szene, in der diese vier Lebewesen erscheinen, beginnen im Buch Daniel die Beschreibungen der Visionen des Daniels. Unser Predigttext schließt sich dieser Szene an.
Daniel 7, 9-14
Ich sah, dass Throne aufgestellt wurden und der Hochbetagte sich setzte. Seine Kleidung war weiß wie Schnee, und sein Kopfhaar war wie reine Wolle. Sein Thron bestand aus lodernden Flammen, und dessen Räder waren aus Feuer. Ein Strom aus Feuer floss von ihm weg. Tausendmal Tausend dienten ihm, eine unzählbare Menge stand vor ihm. Es wurde Gericht gehalten, und Bücher wurden geöffnet. Ich sah hin, weil das Horn so großspurig redete. Da sah ich, dass das Tier getötet wurde. Sein Körper wurde vernichtet und dem brennenden Feuer übergeben. Auch den übrigen Tieren wurde ihre Macht genommen. Denn die Länge ihres Lebens war auf die Stunde genau festgesetzt. In der nächtlichen Vision sah ich einen, der mit den Wolken des Himmels kam. Er sah aus wie ein Menschensohn. Er kam bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. Ihm wurden Macht, Ehre und Königsherrschaft gegeben. Die Menschen aller Völker, aller Nationen und aller Sprachen dienen ihm. Seine Macht ist eine ewige Macht, sein Königreich wird nicht zugrunde gehen.
Nun kommt in Daniels Traum ein Bild vor, welches wir kennen: Ein alter Mann auf einem Thron, in Weiß gekleidet und mit weißem Haar. So ein Bild haben nicht nur Kinder von Gott im Sinn, sondern auch viele Erwachsene. Und welches, wie man hier sieht, schon in uralten Mythen zu finden ist. Aber das, was Daniel hier sieht, ist nicht das Aussehen Gottes, sondern sein Wesen. Der Hochbetagte, das bedeutet Weisheit, Ewigkeit, Stärke und Macht. Und der Hochbetagte steht hier nicht für den Gott der Babylonier oder irgendeinen Gott, er steht für den Gott der Israeliten, für Daniels Gott, für Jahwe.
Und Gott ist es, der sich in der Vision des Daniel den vier Bestien entgegenstellt, und es zeigt sich, die übermächtig erscheinenden Kreaturen sind in Gottes Augen doch nichts weiter als harmlose Plüschtiere. Sie werden vernichtet, und ihnen wird die Macht genommen. Jahwe offenbart sich hier dem Daniel in seiner ganzen Größe und Macht. Die Wesen, halb Mensch, halb Tier, symbolisieren mächtige Reiche. Und diese Reiche kommen und gehen, Nationen stehen auf und sie fallen: Babylonier, Perser, Seleukiden, Griechen, Römer und alles was danach kommt. Gott bleibt und jeder, ganz gleich wie groß und mächtig er ist, muss eines Tages Rechenschaft vor ihm ablegen. Die Macht der vermeidlich übermächtigen Herrscher und Nationen hat keinen Bestand.
Und dann ändert sich plötzlich die Perspektive in Daniels Traum und wird auf etwas anders gerichtet. Der Menschensohn erscheint. Es gibt einen Machtwechsel. Nicht mehr die despotischen Bestien regieren, sondern ein neuer Machthaber – einer, der von Gott kommt. Und sein Königreich, wird nicht zugrunde gehen. Seine Macht ist grenzenlos.
Als Jesus nach seiner Gefangennahme von den hohen Priestern gefragt wurde, ob er der Christus sei, verwies er auf genau diesen Text aus Daniel 7,13. „Von nun an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen“ (vgl. Mt 26,64). Jesus, der Menschensohn. Mit der Beschreibung der Machtübergabe an den Menschensohn endet im Buch Daniel der aramäische Teil. Was nun folgt, wurde in hebräischer Sprache verfasst.
Daniel 7, 21-27
Ich sah dieses Horn gegen die Heiligen kämpfen. Es überwältige sie. Dann kam der Hochbetagte und übertrug den Heiligen des Höchsten das Gericht. Es kam die Stunde, in der die Heiligen das Königreich erhielten. Der, der dastand, sagte: Das vierte Tier steht für das vierte Königreich auf der Erde. Es wird ganz anders sein als die anderen Königreiche. Es wird die Erde fressen, sie mit Füßen treten und sie zermalmen. Die zehn Hörner bedeuten: Aus diesem Königreich werden zehn Könige hervorgehen. Nach ihnen wird ein anderer König kommen. Er wird ganz anders sein als die vorherigen, und er wird drei Könige stürzen.Er wird über den Höchsten lästern und sich gegen die Heiligen des Höchsten wenden. Er hat vor, Festzeiten und das Gesetz Gottes zu ändern. Für dreieinhalb Zeiten werden die Heiligen in seine Gewalt gegeben. Dann wird Gericht gehalten werden. Dem König wird seine Macht weggenommen, er wird endgültig zerstört und vernichtet. Das heilige Volk des Höchsten erhält Herrlichkeit, Herrschaft und Macht über die Königreiche unter dem Himmel. Sein Königreich ist ein ewiges Königreich, ihm werden alle dienen und gehorchen.
Der Menschensohn, der gerade noch mit Macht und Ewigkeit ausgestattet wurde, kommt im zweiten Teil des Textes nicht mehr vor. Hier sind es die Heiligen des Höchsten, denen das Gericht übertragen wird. Diese werden aber vom vierten Tier, das heißt vom vierten Königreich und dessen Nachkommen, schwer in Mitleidenschaft gezogen, und ihr Glaube wird auf eine schwere Probe gestellt werden. Am Ende aber rückt auch hier Gott alles zurecht, und das Volk Gottes bekommt die Macht.
In den apokalyptischen Träumen lässt Gott Daniel an seinen Plänen teilhaben. Apokalypse, das Wort bedeutet: Enthüllung. Gott enthüllt seinen Plan, seine Absicht. Und Gottes Absicht ist es, einen neuen Himmel und eine neue Erde zu schaffen mit Hilfe des Menschensohnes und mit Hilfe seines heiligen Volkes. Das Buch Daniel ist ein Trostbuch. Ein Trostbuch für Gläubige inmitten schwerer Zeiten, in Zeiten der Anfechtung, in Zeiten der Unterdrückung, in Zeiten, in denen Glaube zu schwinden scheint. Das Buch stellt die menschlichen Reiche der Herrschaft Gottes gegenüber und verdeutlicht: Erst das Reich Gottes bringt Gerechtigkeit und Heil, und das Reich Gottes wird kommen.
Jesus sagt es etwas anders: „Das Reich Gottes ist schon mitten unter uns. Es beginnt klein, aber es wächst“ (vgl. Mk 4,26-34). Ja, das Buch Daniel ist ein Trostbuch. Und wir wissen, wer getröstet wird – getröstet ist –, der kann sich aus Erstarrung lösen, bekommt neuen Lebensmut und Lebenskraft. Das Wort „Trost“ kommt im Deutschen von „treu“. Es bedeutet so viel wie „innere Festigkeit erlangen“. Wenn man diesen inneren Halt hat, dann kann man die Zukunft in den Blick nehmen.
Vielleicht ist das Buch Daniel nicht nur ein Trost- sondern auch ein Motivationsbuch, denn die Gewissheit, dass letztendlich nicht irgendein menschliches System, Geld oder Gewalt das letzte Wort haben, sondern der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit kann Antrieb sein, sich für die Zukunft dieser Welt leidenschaftlich einzusetzen.
Ich möchte das Zitat von Helmut Schmidt etwas umformulieren: Wer Visionen hat, von einer gerechten, friedlichen und solidarischen Welt, von einer Welt, die uns Jesus Christus verheißen und vorgelebt hat, der braucht keinen Arzt, sondern Menschen, die den gleichen Traum haben.
Gisela Schmiegelt
23. Januar
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Predigt im Rahmen des Ökumenischen Kanzeltauschs
zu Dan 1
Vor vielen Jahren habe ich mal eine ganz große Dummheit begangen. Als Student habe ich einmal 2 Monate in Indonesien verbringen dürfen. Ein wunderbares, riesiges Inselreich mit über 270 Mio. Einwohnern, von denen fast 90% Muslime sind. Neben ihnen gibt es als kleine Minderheiten Buddhisten, Hindus sowie katholische und evangelische Christen. Ich wollte während meines Studiums gerne nach Indonesien, um zu erfahren, wie das ist: Als Christ in einem Land zu leben, in dem man als kleine Minderheit gegenüber einer Mehrheit existiert, die im besten Fall freundlich bis gleichgültig gegenüber einem gesinnt ist, im schlimmsten Fall feindlich gesinnt. Ich weiß, ich hätte auch mit einem Preußen-Münster-Schal zur Bremer Brücke gehen können, ab das wusste ich damals noch nicht.
Wie das als kleine christliche Minderheit in Indonesien ist, das konnte ich u.a. einmal lernen, als ich mit einigen Studierenden der kleinen theologischen Hochschule, in der ich Gaststudent war, irgendwo in den Straßen unterwegs war und über die Minarette der Stadt der Ruf zum Gebet erklang. Ich war so doof, den Singsang des Muezzins etwas nachzusingen. Sofort gaben mir die Studenten, dich mich begleiteten, heftig zu verstehen, dass ich das lassen sollte. Ich sehe noch die Augen einer Studentin, die mich dabei ansah. Und ich sehe noch den Ärger und die Angst in ihren Augen. Es war nicht nur allgemein dem Land und den Leuten respektlos gegenüber, sowas zu machen. Ich hätte meine Mitstudierenden auch durchaus in Schwierigkeiten bringen können. Aus Fehlern lernt, und ich lernte ein wenig, was es heißt, eine Minderheit zu sein, die vorsichtig leben muss.
Wir leben als Christinnen und Christen in Deutschland in einer historischen Situation. In wenigen Jahren, wahrscheinlich im Jahr 2025, da werden Christen in Deutschland zum ersten Mal seit vielleicht 1200 Jahren ganz offiziell zu einer Minderheit. Katholiken, Evangelische, Orthodoxe, Freikirchler – alle zusammen werden in gut 4 Jahren weniger als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland ausmachen. Da Osnabrück so ein wenig ein Deutschland in Miniaturformat ist, dürfte das also auch für uns hier an der Hase und Nette zutreffen.
Und jetzt kommt ein Werbeblock für das biblische Buch Daniel und für die Bibel insgesamt. Fast die ganze Bibel ist geschrieben aus der Erfahrung heraus, eine kleine Minderheit zu sein, die im gesellschaftlichen Miteinander wenig bis gar nichts zu melden hat. Das Erste Testament mit den Erfahrungen des jüdischen Volkes genauso wie das Zweite Testament mit den Erfahrungen der frühen Kirche. Als Kirche in Deutschland und in Osnabrück werden wir in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Bibel ganz neu entdecken und hoffentlich neu wertschätzen können.
Und ein Musterbeispiel für diese Perspektive von unten ist das Buch Daniel. Im 1. Kapitel wird beschrieben, was es heißt, einen totalen Traditionsabbruch zu erleben: Die Heimat wird erobert. Die wichtigsten Elemente des Gottesdienstes werden weggenommen. Und mit Daniel und seinen Freunden passiert das, was Großmächte wie die Babylonier damals meist gemacht haben: Sie ziehen aus dem eroberten Land die Elite ab, die politische, die religiöse und die wirtschaftliche Elite. Teilweise um von ihren Fähigkeiten zu profitieren und sie als professionelle Arbeitssklaven auszubeuten, teilweise um sie zu assimilieren, ihnen eine neue, in diesem Fall babylonische Identität zu geben.
Daniel ist ein Mensch, der im alten Leben ganz oben war, Teil der Elite war – der dann alles verliert – und der sich nun in einer Situation wiederfindet, in der er nur dann ein paar der vielen verlorenen Privilegien wiedergewinnen kann, wenn er sich von dem, was ihm vorher hoch und heilig war, verabschiedet. In seinem alten Leben, da war der Kern des Glaubens von Daniel der Tempel mit dem Gottesdienst. Aber das ist jetzt alles vorbei. Der Tempel ist entweiht, der Gottesdienst ist aus, und Daniel ist weit weg im Exil.
Was waren wir alle miteinander perplex, als vor bald zwei Jahren es überall hieß: Alles dicht, auch die Kirchen, nix mehr mit Gottesdiensten. Und haben wir nicht alle auch mehr oder weniger große Verlegenheit gespürt: Ja, wenn Gottesdienst in der Kirche nicht mehr ist – was ist denn dann, was macht man denn so als Christ? Wenn die Tempel und die Kirchengebäude verloren gehen – dann geht damit immer ein Großteil der Glaubensidentität verloren. Ein Schock, der sich durch große Teile der Bibel zieht. Ein Schock, den Kirchengemeinden kennen, die sich von Kirchengebäuden verabschieden müssen. Glaube hängt oft genug an Orten und Steinen. Wenn Glaubensorte verloren gehen, dann wandert der Glaube zu anderen Dingen oder Orten. Zum Beispiel in die Küche. Wie der Glaube gelebt wird, greifbar wird und geschmeckt wird, das spielt sich bis heute im Judentum zu großen Teilen in der Küche ab: Das Essen muss rein, koscher sein. Auch der Islam kennt seine Speiseregeln.
Bei Daniel sieht man den Konflikt, in den er am Hof des babylonischen Königs kommt: Koscheres Essen ist für ihn nicht nur eine Geschmacksfrage, sondern eine Glaubensfrage. Den Tempel hat er nicht mehr, aber das Essen wird für ihn zum Ort des Gottesdienstes. Wenn er Gemüse isst, dann kann er sicher sein, koscher zu essen. Für uns ist das Essen leider eher egal. Das Essen ist für uns eher Teil unserer kulturellen und politischen Identität. Ob wir Currywurst essen oder vegetarisch leben, das ist für uns schon eine wichtige Frage der eigenen Identität – aber steht und fällt für uns der Glaube an der Pommesbude? Wenn das nicht so ist – womit steht und fällt für uns denn der christliche Glaube? Sind wir mit unserem Latein und unserem Glauben am Ende, wenn das Geld alle ist und die Kirchengebäude zugemacht werden?
Heute morgen hab ich einen Coronatest gemacht. War zum Glück negativ. Kennen wir ja inzwischen alle zur Genüge, das Testen. Ich hab mich schon öfter gefragt: Wofür stehen eigentlich das C und das T auf dem Test? Erst diese Woche hab ich mal nachgeschaut. Das C steht für Control, das ist der Kontrollstreifen, der immer sichtbar werden soll. Und das T steht für Test: Wenn der sichtbar wird, ist der Test positiv. Wie das eigentlich für den christlichen Glauben wäre, ob man da nicht auch so einen Test für haben könnte? Ein Test, an dem man für sich selbst merken kann: Ja, jetzt wird der Balken beim C sichtbar, jetzt weiß ich wieder, dass ich ein Christ bin. Ein Test, wo es für die Umgebung sichtbar wird.
In einer Gesellschaft, in der fast alle Christen sind, stellen sich solche Fragen nicht. Eine riesige Frage, die sich uns immer stärker stellen wird, ist die Frage: Welchen Unterschied macht es eigentlich, ein Christ, eine Christin zu sein? Woran merken meine nichtchristlichen Nachbarn, mein Arbeitskollege, meine Mitschülerin, dass ich Christ bin? Oder sollen sie es besser nicht merken? In den kommenden Jahrzehnten werden wir Daniel und andere Bibelbücher hoffentlich neu entdecken. Und wir werden hoffentlich den Kern einer christlichen Identität neu entdecken und leben, den wir schon im Buch Daniel und schon hier im 1. Kapitel wiederfinden. Nämlich die Feindesliebe. Die absolute Weigerung, im Gegenüber, auch dem schwierigen, dem furchtbaren und sogar gefährlichen Gegenüber nur einen Feind zu sehen.
Das Danielbuch beginnt damit, dass es ganz nebenbei schon im zweiten Satz bemerkt, dass es der Herr, Gott selbst. war, der den König von Juda und den Tempelschatz in die Hände der Babylonier gegeben hat. Dass Gott auch in den gottlosen und furchtbaren Babyloniern wirken kann – dass stellt den Glauben erstmal auf den Kopf. Dann schauen wir mit Daniel hinter die Kulissen eines Feindbildes: Wir sehen und verstehen plötzlich die Angst des babylonischen Aufsehers, der sich vor seinem eigenen König fürchtet.
Und ganz zum Schluss des 1. Kapitels wird der Name des persischen Königs Kyros genannt, dem Daniel später noch dienen wird. Die Zeit der Babylonier wird zu Ende gehen, und die Perser werden das Zepter übernehmen. Ihr König Kyros wird den Juden in Babylon wieder die Rückkehr nach Jerusalem erlauben und im Ersten Testament der einzige sein – ein heidnischer König –, der mit dem Titel des Messias, des gesalbten Erlösers bedacht wird. Was für einen Unterschied macht es, ein Christ zu sein? Diese Frage wird uns hoffentlich mehr und mehr beschäftigen. Die Feindesliebe wäre schon mal ein guter Anfang. Und ein gutes Ende. Und damit ein guter Grund ein paar Flaschen aufzumachen und gemeinsam zu feiern.
Jan-Henry Wanink
Evangelisch-reformierte Gemeinde
16. Januar
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Predigt an Erscheinung des Herrn
zu Mt 2,1-12
Manchmal möchte man nur noch das Weite suchen. Möchte weg. Alles stehen und liegen lassen. Und irgendwo ganz neu anfangen. Wer kennt es nicht, dieses Gefühl? Diesen Drang: Weg von dem, was immer schon so war oder einfach nur noch mühsam ist. Oder aussichtslos. Verkorkst. Nicht mehr zu schaffen. Denn eigentlich ist alles gesagt. Eigentlich ist alles getan. Eigentlich ist alles versucht. Für manchen ist der Drang, wegzulaufen, unendlich groß. Egal wohin.
Manchmal aber, da gibt es – neben allem, was gescheitert ist, neben allen aussichtlosen Versuchen, eine positive Wende hinzubekommen, neben allem, was so schwer und unlösbar scheint – manchmal, da gibt es nicht zuerst den Drang wegzulaufen, sondern die Sehnsucht, zu neuen Ufern aufzubrechen. Neue Welten zu entdecken. Die Perspektive zu wechseln. Mit anderen Augen auf das zu blicken, was man immer schon getan hat. Nicht das, was war, ist dann entscheidend, sondern das, was kommt.
Welche Gründe hatten wohl die Weisen aus dem Morgenland, sich auf den Weg zu machen? Sie waren Sternkundige. Vermutlich Priester, also Gott-Sucher und Gottes-Künder. Weise Männer. Reich an Erfahrung. Hatten sie all das satt? Wollten sie es hinter sich lassen? Woanders Antworten finden, die sie zuhause nicht bekamen? Was waren das für Menschen? Waren sie resigniert? Am Ende mit ihrem Latein? Ausgebrannt?
Oder war das gar nicht ihr Thema? Waren Sie – ganz im Gegenteil – voller Tatendrang, offen für Neues, voller Sehnsucht danach, nicht alles hinter sich zu lassen, sondern mit dieser Erfahrung im Gepäck, mit all dem, was sie ausmacht, mit allem, was sie erlebt und erlitten hatten, etwas Neuem zu begegnen?
einen stern
vor augen
die angst
im nacken
sehnsucht
im herzen
es gibt
viele gründe
warum menschen
das weite suchen
aber wohin du
auch gehst
einer ist
schon da
der dich
erwartet
Wer sich auf die Suche nach Gott macht, nimmt sich selbst immer mit. Weglaufen geht nicht. Das Schwere gehört genauso zu mir wie das Leichte. Das Verkorkste genauso wie das Klare. Die verwirrenden Gefühle der Unsicherheit genauso wie der plötzliche Durchblick. Wenn nur die Sehnsucht da ist! Die Sehnsucht danach, ganz zu sein. Zu diesem Ganz-Sein gehören alle Facetten des Lebens. Manchmal muss man Gewohntes hinter sich lassen, um das zu entdecken. Manchmal kommen Menschen von außen, die mir das zeigen. Immer aber muss das Herz in Bewegung bleiben.
Dass dies keine graue Theorie ist, sondern erfahrene Wirklichkeit, davon kündet das heutige Fest. Ein Stern weist den Weg. Herzen sind in Bewegung und führen in die Weite. Und – das ist wohl das Entscheidende – egal wohin du auch gehst: Einer ist immer schon da und nimmt dich in Empfang. Einer ist immer schon da, der den Stern leuchten lässt in deine dunkle Nacht hinein. Er ist sogar schon da, wenn du noch überlegst: Wohin geht meine Reise eigentlich?
Alexander Bergel
8. Januar
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Predigt am 2. Sonntag nach Weihnachten
zu Joh 1,1-18
Keiner weiß, wie Gott ist. Keiner wird auch jemals Worte finden, um ihn wirklich zu beschreiben. Und doch versuchen es Menschen immer wieder. Ja, sie müssen es sogar tun. Denn wie soll ich mich jemandem nähern, von dem ich nicht mal eine Ahnung habe, wer er sein könnte?
Johannes, der Evangelist, versucht es auch. Er nähert sich dem Wesen Gottes mit dem griechischen Wort Logos. Logos bedeutet Weisheit, Wort, Geist, Sinn. Logos ist der Inbegriff aller positiven geistigen Kräfte. In Jesus von Nazareth, so die Botschaft des Johannes, hat diese geballte Kraft Gottes menschliche Gestalt angenommen: Das Wort, der Logos, ist Fleisch geworden.
Am Menschen Jesus von Nazareth sehen wir, wie Gott ist, wie wir uns ihn vorstellen können. In ihm ist Gott den Menschen nahegekommen, ist Gott sichtbar, berührbar und angreifbar geworden. Denn genau das hat Jesus getan: Er hat Menschen berührt und umarmt. Und das haben die, die mit ihm in Berührung gekommen sind, als ein Berührtwerden von Gott erlebt. Diese Erfahrung hat sie geheilt, versöhnt, wieder ganz werden lassen, ihnen die verlorene Menschenwürde zurückgegeben.
Wer im Glauben unterwegs ist, kann sich seiner Sache niemals ganz sicher sein. Wer im Glauben unterwegs ist, der kann aber auch nicht anders, als immer wieder Ausschau zu halten nach Zeichen für dieses große Gottesgeheimnis. Und die Erfahrung der vielen Gott-Sucher zeigt: Diese Zeichen lassen sich finden. Die Menschheitsgeschichte ist voll davon.
Damals in Betlehem, da blieb es nicht beim Zeichen. Und das Wort nicht beim Wort allein. Damals in Betlehem ging Gott einen entscheidenden Schritt weiter. Sein Wort bekam Hand und Fuß. Diese Hand ist es, die er uns auch heute noch entgegenstreckt. Greifen Sie zu! Denn Gottes Wort – es gilt!
Alexander Bergel
2. Januar
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Predigt zum Jahreswechsel
zu Lk 2,16-21
„Alle, die es hörten, staunten über das, was ihnen von den Hirten erzählt wurde.“ Und dazu hatten sie auch allen Grund! Es war wirklich eine unglaubliche Botschaft. Nie zuvor hatte jemand so etwas gehört. Geschweige denn damit gerechnet! Sicher, man kannte die alte Prophezeiung. Aber dass all das Wirklichkeit werden würde – so wirklich und ganz konkret? Kaum zu glauben.
Seit jener Nacht damals in Betlehem stehen Menschen staunend vor diesem großen Geheimnis. Der Messias, der Retter, ja Gott selbst tritt ein in diese Welt. Ergreift Partei für die Armen und Schwachen. Will den Menschen so nahe kommen, dass sie ein für alle Mal begreifen, worin der tiefste Sinn des Lebens besteht. Nämlich darin, einfach sein zu dürfen. Und geliebt zu werden. So einfach ist das eigentlich. Und doch so schwer. Denn was ist daraus geworden?
„Jesus hat das Reich Gottes verkündet. Gekommen ist die Kirche.“ So bringt es Anfang des letzten Jahrhunderts ein französischer Theologe auf den Punkt. Ein spannender Satz. Man kann ihn so lesen, dass in der Kirche alles verwirklicht ist, was Jesus wollte. Männer und Frauen in seiner Nachfolge leben wie er. Eine Gemeinschaft, in der es um Gott geht, um die Liebe und um ein Leben, in dem sich nicht alles um die eigene Achse dreht.
„Jesus hat das Reich Gottes verkündet. Gekommen ist die Kirche.“ Man kann diesen Satz auch ganz anders hören. Jesus hat zwar Menschen um sich geschart, die so zu leben versuchen wie er. Aber er hat keine Institution gründen wollen. Denn das Problem jedweder Institution ist, dass sie irgendwann starr wird, ja starr werden muss. Jede Institution braucht eine Ordnung. Braucht Gesetze. Und immer gibt es dann Leute – ja, sie muss es sogar geben –, die sagen, wo es lang geht. Und damit sind nicht nur Probleme vorprogrammiert, sondern oft genug auch Abgründe.
Wer heute mit Menschen über die Kirche ins Gespräch kommt, der findet wenige, die noch staunen über die ungeheure Kraft der Botschaft Jesu. Vielmehr begegnet man immer mehr Menschen, die die Kirche, vor allem die katholische, als einen Ort schlimmster Verbrechen wahrnehmen. Und damit haben sie ja sogar Recht. Und wie viele Menschen rechnen noch wirklich damit, dass sich Entscheidendes ändert? Oder dass sie auf Antworten stoßen, die eine wirkliche Relevanz haben?
Vor einiger Zeit habe ich mit einer Frau telefoniert, die mir ihre Gründe genannt hat, warum sie aus der Kirche ausgetreten ist. Um den Missbrauch ging es. Darum, dass sie in entscheidenden Situationen keine Unterstützung bei uns gefunden hat und dass alles immer für selbstverständlich genommen wird – gerade wenn Frauen etwas tun. „Ich wünsche Ihnen, dass noch viel mehr Menschen gehen, damit die Kirche endlich aufwacht!“
Menschen gehen. Und kommen nicht wieder. Weil sie enttäuscht sind. Oder verletzt. Andere, weil sie merken, nicht zuletzt am Ende des zweiten Corona-Jahres mit all seinen Einschränkungen: „Ich komm ganz gut ohne aus.“ Man muss kein großer Mathematiker sein, um zu ahnen, wie das in fünf oder zehn Jahren bei uns aussieht. „Ich wünsche Ihnen, dass noch viel mehr Menschen gehen, damit die Kirche endlich aufwacht!“
Was bräuchten wir denn, um aufzuwachen? Anders gefragt: Was sollen, was können wir überhaupt tun? Ich höre diese Frage schon. Und ich habe sie auch selbst. Denn versuchen wir hier vor Ort nicht, so zu leben, dass Menschen eine Ahnung davon bekommen können, wie Jesus sich das vorgestellt hat? Versuchen wir nicht alles und immer noch mehr, um Menschen nahe zu sein? In Krisensituationen oder bei der Begleitung von Kindern und Jugendlichen? Am Taufbrunnen und am Grab? Ja, all das geschieht. Und viele stecken ihr ganzes Herzblut dort hinein, teilweise bis zur Erschöpfung. Aber reicht das? Oder machen wir uns da etwas vor?
Die Kirche ist in einer ihrer tiefsten Krisen, die sie je erlebt hat. Der Bischof – auch einer von jenen Menschen, die eine glaubhafte und menschliche Kirche nicht nur fordern, sondern auch zu leben versuchen –, Bischof Franz-Josef hat als Überschrift der Silvesterpredigt im vergangenen Jahr einen Satz Jesu gewählt, den dieser über seine Stadt Jerusalem gesagt hat: „Kein Stein wird auf dem anderen bleiben!“ Was für ein Bild! Und – vor allem – was für eine Realität! In Jerusalem blieb wirklich kein Stein auf dem anderen. Der Tempel wurde zerstört. Und mit ihm alles, was in Israel jemals wichtig war.
Nach so vielen Krisen und Skandalen allein des letzten Jahrzehnts kennen wir jenes Gefühl ganz gut. Das Gefühl, dass kein Stein dieser Kirche auf dem anderen bleiben wird. Die Corona-Pandemie hat es uns ja gezeigt: Alles geht noch radikaler, noch schneller weiter – und auch zu Ende. Was aber brauchen wir? Was brauchen wir, nicht um die Kirche zu retten, sondern um die Idee dieses Jesus von Nazareth nicht in Vergessenheit geraten zu lassen? Was können wir tun, damit wir nicht wie in einem großen Freilichtmuseum die guten alten Zeiten bestaunen, sondern helfen können, dass neue Kraft und neue Energie sich Bahn bricht? Gerade in Zeiten wie diesen, in denen auch unsere Gesellschaft, ja die ganze Welt so zerstritten und gespalten ist wie schon lange nicht mehr.
Ich weiß: So viele Fragen auf einmal, das ist zermürbend. Aber wir kommen nicht darum herum. Wir müssen darüber reden. Und diskutieren. Und neue Wege finden. Wir müssen schauen: Was brauchen die Menschen in unserer Stadt, in unserer Nachbarschaft? Was können wir tun – wir in der Pfarrei Christus König, wir an den Orten, an denen wir leben. Wir mit unserem Glauben und mit unseren Möglichkeiten.
Vielleicht müssen wir ganz anders denken. Völlig verrückte Sachen tun. Und auch manches hinter uns lassen. Lassen Sie uns diese Wege suchen. Und ausprobieren. Vielleicht spricht es sich rum. Und macht neugierig. Und animiert zum Mitmachen. Und vielleicht führt das dazu, dass der ein oder die andere anfängt zu staunen. Und sich wundert, was glaubende Menschen auch heute noch bewegen können. Und zwar nicht in einem Museum. Nein, mitten im wirklichen Leben!
Alexander Bergel
31. Dezember
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Predigt am Weihnachtsfest
zu Lk 2,1-15
Erst ist er mir gar nicht so aufgefallen – dieser Satz, hingesprayt von irgendwem auf einen der vielen Stromkästen zwischen Haste und Dodesheide. Je öfter ich aber daran vorbei gefahren bin, desto mehr habe ich mich gefragt: Wer hat das wohl geschrieben? Und hofft der Schreiber, hofft die Schreiberin wirklich, dass einer kommt und tut, was da steht? Irgendwann fiel mir auf, dass neben diesem Satz ein Tiershow-Plakat hängt. Überschrift: „Der will nur spielen!“ Das Bild bringt mich zum Schmunzeln. Der Satz aber, der in Riesenbuchstaben daneben steht, hat ein völlig anderes Thema: „Hilf mir!“
„Der will nur spielen!“ und „Hilf mir!“ – das passt so gar nicht zusammen. Aber es steht da. Und damit, liebe Schwestern, liebe Brüder, sind wir mittendrin. Mittendrin in dem, was wir heute feiern: Weihnachten. An Weihnachten kommt nämlich alles auf den Tisch. Nicht nur Ente oder Rouladen. An Weihnachten kommt vor allem das auf den Tisch, was tief in mir vergraben ist. Und oft genug überhaupt nicht zusammenpasst. An Weihnachten kommt auf den Tisch, wovor ich Angst habe. Oder davonlaufe. Weihnachten erwischt mich an meinem schwächsten Punkt. Da, wo ich klein und verletzlich bin. Und genau das soll es auch. Aber nicht, um auf meiner Verletzlichkeit herumzureiten. Nicht, um mir zu zeigen, was alles nicht klappt oder wo ich es nicht gepackt habe. Nein, Weihnachten erwischt mich an meinem schwächsten Punkt, um mir eine neue Perspektive zu zeigen. Und diese Perspektive heißt: Du hast eine Zukunft!
Der, der uns das sagt, der, der zusammenbringt, was alles nicht zusammenpasst, der, der die Welt erschaffen und dann gesehen hat, was aus ihr geworden ist – der hat einen höchst riskanten Schritt gewagt. Er ist Mensch geworden. Und damit Teil dieser verrückten Welt. Warum macht er das? Gute Frage. Offensichtlich ist Gott der Überzeugung: Es gibt keinen anderen Weg. Keine andere Möglichkeit als die, Teil dieser Welt zu werden, klein und verletzlich zu sein, schwach und ohnmächtig. Gott wird Mensch. Der Unsterbliche wird sterben. Der Allmächtige lernt die Ohnmacht kennen – aber nicht aus sicherer Distanz. Der will nicht nur spielen, nein, er geht wirklich aufs Ganze. Und stellt sich der millionenfachen Bitte: „Hilf mir!“
Sehr schön, mag da so mancher entgegnen. Gott will das Mensch-Sein also nicht nur spielen, sondern geht voll in dieser Rolle auf und hört den Hilfeschrei der vielen Bedrängten. Wirklich ein schöner Gedanke! Aber – was bringt uns das? Hat sich seither irgendetwas verändert? Sind die Mächtigen barmherziger, ist die Welt weniger gewaltbereit oder der Mensch an sich gar liebevoller geworden? Heilen die vielen Wunden schneller, weil der Gottessohn sie selbst getragen hat? Hat sich mein Leben irgendwie zum Vorteil gewandelt, nur weil es da jemanden gab, der von der Liebe gesprochen und die Menschen seiner Zeit diese Liebe hat spüren lassen? Das kleine Kind aus Betlehem – es wurde schon früh verfolgt, seine Eltern mussten fliehen und am Ende, da war Jesus tot. Wie so viele vor ihm und danach. Ist das alles vielleicht doch nur ein göttliches Spiel, aber eher so eine Art Versteckspiel? Wie oft bleibt der Schrei „Hilf mir!“ am Ende doch unerhört?
Weihnachten kommt alles auf den Tisch. Und genau deshalb, liebe Schwestern, liebe Brüder, genau deshalb ist dieses Fest auch keines, das sich zum Vertrösten eignet. Die Welt – sie ist wie sie ist. Doch wenn ich glauben kann, dass in dieser Welt ein Mensch gelebt hat, durch dessen Worte und Taten Gott Partei ergriffen hat, Partei für alle, die am Rande stehen oder neben sich, für alle, deren Leben die Hölle ist, für alle, die auf Befreiung warten – wenn ich das glauben kann, und wenn ich es wirklich für möglich halte, dass die Spur dieses Jesus von Nazareth bis heute reicht, dann könnte ich doch auch versuchen, in diesem, in seinem Sinn zu handeln. Und ich könnte mich auf die Suche machen. Auf die Suche danach, wo er mir Kraft gegeben hat. Wo ich den Eindruck hatte: Der will nicht nur spielen, nein, der meint es wirklich ernst! Mit mir. Mit meinem Leben. Mit der Welt. Und vielleicht – ganz vielleicht – entdecke ich Momente, in denen mein Hilferuf nicht unerhört geblieben ist. Wo ich gemerkt habe: Dieser Gott ist kein Märchen. Er ist da. Genau dort, wo ich bin. Wenn das an Weihnachten auch auf den Tisch käme, wenn das gar zum Grund meines Lebens werden könnte – was wäre das wohl für ein Fest?!
Alexander Bergel
24. Dezember
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Predigt am 4. Adventssonntag
zu Lk 1,39-45
Und Maria
blieb etwa
drei Monate
bei ihr,
dann kehrte sie
nach Hause zurück.
Drei Monate
bleibt sie
bei Elisabeth,
so heißt es.
Drei Monate
waren nötig,
um zu fragen,
aufzuarbeiten,
zu klären,
zu hoffen,
zu beten.
Drei Monate,
die Maria
vielleicht als Schutzraum
gebraucht hat,
bevor sie umkehren
und heimkehren konnte.
Drei Monate
nehmen sie sich Zeit
füreinander,
für sich
und für Gott.
So beginnt
die Weihnachtsgeschichte:
zwei Frauen
mit völlig
unmöglichen Schwangerschaften,
zu alt die eine,
zu jung die andere.
Zwei einfache Frauen,
die nicht einmal befugt waren,
den Tempel zu betreten,
reden aus Gottes Geist.
Ihre Begegnung rührt sie
in der Tiefe an
und verwandelt sie so,
dass sie am Ende singen –
ein Lied der Hoffnung:
Magnificat –
meine Seele preist
die Größe des Herrn!
Advent heißt:
Unmögliches wagen.
Und damit rechnen,
dass Gott Großes wirkt.
Nicht nur damals.
Wäre das nicht
ein Grund zum Singen?
Kanon:
Magnificat
(GL 390)
Alexander Bergel
19. Dezember
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Predigt am 3. Adventssonntag
zu Lk 3,10-18
Was sollen wir also tun? Wie machen wir es richtig, das mit dem Guten Leben? Was heißt das eigentlich für mich, Christin zu sein? Wann tue ich genug? Wann tun wir genug? Müssten wir nicht eigentlich noch kurz die Welt retten, ist es nicht unsere Aufgabe, als Christ*innen die Frohe Botschaft zu leben, zu „tun“? Mehr darüber zu sprechen? Bin ich genug, könnte ich nicht noch mehr – machen, helfen, geben? Verkünden?
Johannes spricht von dem, der kommen wird, mit Feuerflammen und Heiligem Geist und – Er wird Gerechtigkeit bringen. Verheißungsvoll. Aber wir, was tun wir inzwischen? Wie machen wir es denn nun richtig, das mit dem Guten Leben, als Christin? Die Frage, die Johannes diese „Scharen“ stellen, hat sich seit damals nicht geändert. Die Situation ist auch nicht bedeutend besser geworden: Gier, Missbrauch, Erpressung. Nichts Neues unter der Sonne. Ein bisschen zum Verzweifeln. Realität. Aber nicht die ganze, oder?
Was sollen wir also tun? Zu den Zöllnern sagt Johannes: Nicht mehr verlangen als offiziell festgesetzt. Zu den Soldaten: Nicht misshandeln, nicht erpressen. Mein erster Impuls, als ich den Text las: Was für Klischees sind das eigentlich? Unterstellt der denen jetzt einfach schon mal, dass sie das alles sowieso tun? Aah, die Zöllner wieder, klar. Und hör mir auf mit den Soldaten. Die sind ja sowieso immer … Ich würde behaupten, jede*r von uns hat solche Sätze auch schon mal gesagt oder gedacht: Ja, die Lehrer. Die Landwirte. Die Jugend. Die Beamten. Die Anderen. Ich …
Wenn ich die Forderungen noch mal anders betrachte, denke ich: Na ja, eigentlich sind das Grundsätze. Eigentlich sollte man von Soldaten oder von wem auch immer einfach mal direkt erwarten, dass er oder sie niemanden erpresst. Eigentlich sagt Johannes zu den Zöllnern und Soldaten: Macht euren Job gut. Behandelt die Menschen gerecht. Heute könnte das heißen: Achtet die Würde der Menschen. Und gebt euch mit dem zufrieden, was ihr zum Leben braucht. Johannes verlangt nicht einmal Unmögliches: Nur wer zwei Gewänder hat, soll eines abgeben. Also nur, wer auch die Möglichkeit hat, ohne selbst zu frieren. Also geht es hier nicht um Wundertaten und lebensaufopfernde Aktionen: Im Grunde, zusammengefasst: Ums Menschlichsein. Als ersten Schritt.
An Johannes haben die Menschen auch riesige Erwartungen. Ist er wohl der Christus? Krass. Und Johannes? Er wurde gar nicht gefragt. Er macht einfach. Ob Johannes wohl auch manchmal zweifelt – tue ich genug, hat das Sinn? Jedenfalls erzählt er erst einmal. Vom Wesentlichen. Hat diese Ahnung, diese Hoffnung, die ihn weitermachen lässt. Sagt: Es wird Einer kommen, der bringt Gerechtigkeit. Und Leute – ich taufe auch nur mit Wasser. Ich bin auch nur ein Mensch, so wie ihr. Darum geht es sogar auch an Weihnachten: Um einen, der Mensch wird. Ums Mensch-Sein. Gute Aussichten, finde ich. Ein guter Anfang.
Katharina Westphal
12. Dezember
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Predigt am 3. Adventssonntag
zu Lk 3,10-18
„Was sollen wir tun?“ Immerhin fragen sie. Die Leute, die zu ihm kommen, merken: So kann es nicht weitergehen. Aber wohin die Reise geht, das wissen sie nicht. Daher die Frage an den Täufer: „Was sollen wir tun?“ Seine Antwort: „Nicht nur an sich denken. Nicht übers Ohr hauen. Nicht misshandeln.“ Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Wer sich damals auf den Weg gemacht hat, um dem Täufer zu begegnen, ging mit der Erkenntnis nach Hause: Wenn die Welt sich ändern soll, dann muss ich damit anfangen.
Auch wenn Johannes schwer verdauliche Worte wählt wie das von der Spreu, die man vom Weizen trennen muss, so wenig hat er doch die Absicht, alle in Bausch und Bogen zu verdammen. Im Gegenteil. Sein Rat: „Wenn du die Welt ändern willst, dann fang bei dir an. Dreh dich nicht immer nur um die eigene Achse. Hör auf, andere übers Ohr zu hauen. Manipuliere, missbrauche dein Gegenüber nicht für eigene Zwecke. Sondern wechsle die Perspektive. Wenn du das tust, wenn du es wagst, die Welt mit den Augen derer zu betrachten, die dir fremd sind oder unangenehm oder lästig, dann wird diese Sicht deinen Blick weiten.“
Darum geht es seither. Immer und immer wieder. Die eigene Sicht der Dinge auf den Prüfstand zu stellen. Sich von anderen herausfordern, ins Nachdenken bringen zu lassen. Und zu entdecken, dass ich in meiner so schön eingerichteten Welt vielleicht doch den ein oder anderen blinden Fleck habe, der es verhindert, dass etwas Neues wachsen kann.
„Ich taufe auch nur mit Wasser“, meint Johannes auf die Frage, ob er nicht vielleicht selbst Christus sei, der Erlöser, der Retter. „Nein, ich bin es nicht!“ Auch wir müssen das nicht sein. Wir sind keine Retter, keine Erlöser, keine Allmächtigen, die alle Probleme lösen könnten. Weder die eigenen noch die der anderen. Aber wir könnten Wege bahnen. Türen öffnen. Und Herzen. Damit eine Spur von Erlösung und Heilung in diese Welt kommt. Vielleicht ist das alles – wie so oft – nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Mühsam, sicher. Aber ein Anfang.
Alexander Bergel
12. Dezember
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Predigt am 2. Adventssonntag
zu Bar 5,1-9 und Lk 3,1-6
So vieles ist krumm. Und uneben. Verkorkst. In sich verdreht. Voller Hass. Gefangen in Angst und Not. Viele fragen: Wie soll das bloß alles weitergehen? Wie soll es weitergehen mit der Welt, der großen und meiner kleinen? Wie soll es weitergehen, wenn Menschen keine Perspektive mehr haben? Wenn die Mächtigen nur noch um die Macht feilschen? Wenn die sozial Abgehängten abgehängt bleiben? Wenn die Schwachen keine Fürsprecher mehr finden? Wenn Gott zur Randfigur wird? Was soll werden, wenn wir immer höhere Mauern bauen? Wenn die Abgründe in der Kirche so tiefe, so unüberwindbare sind? Die zwischen rechts und links, die zwischen oben und unten. Was soll werden, wenn das Klima unaufhaltsam ein anderes wird – und zwar nicht nur das in der Gesellschaft? Geht die Welt zugrunde?
Vielleicht müsste sie das. Zugrunde gehen. Nicht im destruktiven Hass, nicht voller Zerstörungswut, nicht in tiefer Resignation. Nein, das nicht. Aber vielleicht müsste die Welt, vielleicht müssten wir im tiefsten Sinn des Wortes zugrunde gehen. Der Sache, unserem Leben auf den Grund gehen. Ganz tief in uns hinein hören. Und fragen: Was ist der wirkliche Grund meines Lebens? Was trägt mich? Was gibt mir Hoffnung? Ja, Mensch, vielleicht müsstest du das wirklich einmal tun! Hab keine Angst vor dem, was dich dort erwartet! Du wirst dir selbst begegnen. So wie du bist. Und vielleicht deinem Gott. Und wenn du diese Schritte in die Abgründe deines Lebens hinein gegangen, wenn du dann am tiefsten Grund deines Lebens angekommen bist – dann sei sicher: Du tauchst anders wieder auf. Vielleicht wird es dir dann so ergehen, wie der Täufer es für das Ende eines solchen Weges prophezeit: „Alle Menschen werden das Heil Gottes schauen.“
Hoffnungsworte wie diese haben schon einmal einem ganzen Volk, das zugrunde gegangen war, neue Kraft geschenkt. Haben eine Dynamik freigesetzt, die alles verändert hat: „Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit, die Gott dir für immer verleiht.“ Wir brauchen sie auch heute, solche Worte. In all den Kriegen, in all dem Elend dieser Welt, in meinen verkorksten Beziehungen, in meiner Unsicherheit, ob das alles überhaupt noch Sinn macht, in meiner Überforderung, irgendwie noch klar zu kommen. Und dann – ja dann brauchen wir Menschen, die handeln. Die Wege frei machen und Berge erklimmen. Die im Dunklen das Licht sehen. Im Abbruch den Neubeginn. Menschen, die es wagen. Und einfach losgehen.
Alexander Bergel
5. Dezember
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Predigt am 32. Sonntag im Jahreskreis
zu 1 Kön 17,10-16 und Mk 12, 38-44
„Der Mehltopf wird nicht leer werden und der Ölkrug nicht versiegen bis zu dem Tag, an dem der Herr wieder Regen auf den Erdboden sendet.“ Er braucht dringend Hilfe, ist er doch auf dem Weg nach Sarepta in Phönizien in der Wüste fast verhungert und verdurstet. Ausgerechnet eine Witwe bittet er nun um ein wenig Wasser und einen Bissen Brot. Sie, durch keine Witwenpension abgesichert, ganz auf sich allein gestellt, hat ihren Sohn zu versorgen, kämpft den täglichen Kampf ums Überleben, sieht sich am Ende. Und sagt schonungslos ehrlich: „Ich habe nichts mehr vorrätig als eine Handvoll Mehl im Topf und ein wenig Öl im Krug. Ich will für mich und meinen Sohn etwas zubereiten. Das wollen wir noch essen und dann sterben.“ Es erscheint aussichtslos.
Die meisten Menschen kennen Dürre-Situationen, die aussichtslos erscheinen: Trauer, Angst, Mutlosigkeit, Verzweiflung. Sie können materielle, gesundheitliche oder psychische Gründe haben. „Nichts mehr vorrätig als eine Handvoll Mehl und ein wenig Öl …“ An diesem Satz sind wir bei der Vorbereitung des heutigen Gottesdienstes zuerst hängen geblieben. Er passt so direkt zu der momentanen Situation der Menschen auf Kuba und somit auch unserer Schwestern und Brüder in unserer Partnergemeinde.
Bedingt durch Pandemie, Inflation, soziale Planwirtschaft und das weiter bestehende Embargo der USA ist die Versorgungslage auf Kuba seit ca. einem Jahr einfach katastrophal. Dazu kam der explosionsartige Anstieg der Coronainfektionen im Sommer. Beides führte zu für Kuba außergewöhnlichen Massenprotesten im Juli. Es besteht ein akuter Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten und jeglichen anderen Produkten – es gibt fast nichts. Selbst in den Devisenläden gibt es kaum noch etwas. Und was man auf dem Schwarzmarkt findet, übersteigt die Kaufkraft einfacher Kubaner bei weitem. So kostet Speiseöl auf der Straße das Sechsfache des Ladenpreises. Bisher erschwingliche Grundnahrungsmittel wie Reis und Bohnen sind unbezahlbar geworden, Zahnpasta wird z.B. für umgerechnet 10 € gehandelt.
Wenn es etwas zu kaufen gibt, muss man dafür stundenlang anstehen – Marathon-Warteschlangen von fünf, sechs Stunden, die sich über mehrere Straßenzüge erstrecken. Am Ende kann es sein, dass man doch mit leeren Händen nach Hause geht. Die Not hat einen neuen Beruf hervorgebracht: Coleros, Schlangensteher. Engagiert von Menschen, die sich das leisten können, übernehmen sie das Anstehen oder kaufen selbst ein, um es anschließend auf dem Schwarzmarkt für ein Vielfaches anzubieten.
Fast nie beklagen sich die Mitglieder des Freundeskreises Osnabrück, mit denen wir in gutem Kontakt stehen. In den letzten Monaten bestätigen sie uns aber die enorme Belastung ihres Alltags, erzählen von ihren Ängsten und Sorgen um die Familien und die bedürftigen Menschen in der Gemeinde. Besonders Isolation und Einsamkeit macht den Menschen schwer zu schaffen. Gemeindeleben fand coronabedingt praktisch nicht statt. Der Stadtteil rund um die Kirche San Judas y San Nicolas wurde mehrmals wegen hoher Inzidenzwerte abgesperrt. Die Lage erscheint ziemlich aussichtslos.
Elija sagt zu der Witwe: Fürchte dich nicht! Und auf seine Verheißung hin, dass sie keinen Mangel leiden werde, nimmt sie die Herausforderung, die eigentlich eine Zumutung ist, an: Bringt zuerst Elija etwas zu essen und kümmert sich dann um sich und ihren Sohn. Ohne Diskussion. Ob sie eine Ahnung, eine Hoffnung verspürt, dass sie dem Gott, von dem Elija spricht, vertrauen kann? Oder gibt sie einfach selbstverständlich von dem wenigen, dass ihr bleibt? Das tut ebenfalls die Witwe im Evangelium: Sie gibt das wenige, was sie hat, heißt es dort, ihren ganzen Lebensunterhalt.
Und das erleben wir auch als Grundhaltung vieler Menschen in unserer Partnergemeinde. Sie sagen: Es gibt nicht viel, aber das wenige, das wir haben, teilen wir miteinander. So werden z.B für Neugeborene oder für Familien in Not Sachspenden gesammelt, Kleidung umgenäht oder erstellt, nicht nur für Gemeindemitglieder. Die Menschen versuchen sich nicht aus den Augen zu verlieren, organisieren Hilfe, wo eben es geht.
Durch die Pandemie können sie die wichtigen Dinge des Lebens nur noch schwer „teilen“. Nicht das Wort, nicht die Zeit, nicht die Hilfe. Die Versorgung bedürftiger Senioren und Seniorinnen im Rahmen unseres gemeinsamen Projektes scheitert zurzeit nicht an den finanziellen Ressourcen, die sind Dank der großen Spendenbereitschaft hier aus der Gemeinde gegeben. Jedoch ist es fast ausgeschlossen, vor Ort die notwendigen Hilfsgüter zu bekommen: kein Klopapier, keine Seife, kein Öl, keine Bohnen, von Medikamenten ganz zu schweigen.
Was können wir teilen? Konkret gibt es zurzeit eine einzige Möglichkeit der praktischen Hilfe. Wir bestellen online in einem Supermarkt in Havanna Lebensmittel und Hygieneartikel. Diese werden an die Gemeinde geliefert und von dort aus verteilt. Wir teilen das Wort! Seit zwei Jahren sind die Freundeskreise auf beiden Seiten durch eine Whatsapp-Gruppe verbunden. Kein Sonntag vergeht ohne Segensgrüße. Gebete, Texte, Geburtstagsglückwünsche, Aktuelles aus den Gemeinden, aber auch Freud und Leid auf persönlicher Ebene werden hier ausgetauscht.
Die Witwe macht die Erfahrung, dass ihr Vertrauen in das Gotteswort sie rettet, ihr durch die Krise hilft: Der Mehltopf wird nicht leer werden, und der Ölkrug nicht versiegen bis zu dem Tag, aAn dem der Herr wieder Regen auf die Erde sendet. Wenn ich selbst eine Dürre-Situation erlebe, hilft es mir, auf Gott zu vertrauen. Gegen allen äußeren Schein, so hoffe ich, wird er mir aufhelfen.
Unsere Mitchristen auf Kuba beeindrucken uns immer wieder durch ihren lebendigen, tiefen Glauben und ihr fast unerschütterliches Gottvertrauen. In der vergangenen Woche haben sie ihr Patronatsfest gefeiert. Sie durften es, denn die Infektionszahlen sind seit Mitte September zurückgegangen, und fast alle Erwachsenen im Land sind geimpft. Mehr denn je werden die kubanischen Christen an diesem Tag den Heiligen Judas Taddäus, den Schutzpatron für die schwierigsten, fast unmöglichen Fälle um Beistand, Kraft und Hilfe in der Krise gebeten haben. Teilen wir das Gebet und die Hoffnung mit ihnen.
Jutta Erpenbeck
7. November
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Predigt am 31. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 12,28b-34
Den Nächsten lieben? Gründe, dem auszuweichen, gibt es eine ganze Menge: Der ist aber auch anstrengend. Die weiß immer alles besser. Und überhaupt: Soll der doch den ersten Schritt machen! „Wer etwas will, sucht Wege. Wer etwas nicht will, sucht Gründe.“ Vielleicht sollte man doch noch mal genauer hinschauen … Wo wir gerade beim Hinschauen sind: Sich selbst zu lieben, die zweite Forderung Jesu – das ist manchmal noch viel schwerer. Und das nicht nur beim morgendlichen Blick in den Spiegel, wo sich mir gelegentlich schon die Frage stellt: Wer oder was schaut mich da eigentlich an?
Der Blick ins eigene Leben, der Blick auf das, was alles nicht so ist, wie es sein könnten: zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, zu klug, zu naiv und was es sonst noch so alles gibt, was bei anderen viel besser, viel ausgewogener, viel souveräner und kompetenter wirkt, weil die nämlich alle erfolgreich sind oder die perfekte Familie haben oder die schönere Wohnung, die besseren Kontakte oder oder oder – der Blick ins eigene Leben, der ist für viele ziemlich frustrierend.
Wenn Sie dieses Gefühl auch ganz gut kennen, könnten Sie sich in den kommenden Tagen vielleicht mal mit der Frage beschäftigen: Warum ist das eigentlich so? Was hindert mich daran, mich selbst zu lieben, mich so anzunehmen, wie ich bin? Immerhin hat Gott mich so gemacht! Auch hier gilt: „Wer etwas will, sucht Wege. Wer etwas nicht will, sucht Gründe.“ Jesus hat dazu einige Wegweiser aufgestellt. Lassen Sie die Gründe links liegen. Suchen Sie Wege. Für den Nächsten. Und für sich. Vielleicht lächelt Sie ihr Spiegelbild dann ja auch mal wieder an …
Alexander Bergel
31. Oktober
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Predigt am 29. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 10,35-45
Manche Dinge ändern sich nie. „Lass in deiner Herrlichkeit einen von uns rechts
und den andern links neben dir sitzen!“ Typisch Mann, ist vielleicht die oder andere Frau geneigt zu denken: Hauptsache die besten Plätze, Hauptsache an den Schalthebeln der Macht sitzen, Hauptsache der Bestimmer sein.
Vielleicht ist es nicht nur ein Männerthema. Ein Thema, das sich durch die Geschichte der Menschheit zieht, ist es allemal. Dabei hatte Jesus denen, die mit ihm unterwegs waren, deutlich gemacht: Bei mir herrschen andere Spielregeln!
Theoretisch kennen wir die auch. Wissen genau, dass die Plätze in Jesu Nähe keine bequemen Sitzmöbel sind, sondern – ganz im Gegenteil – Schleudersitze in die Wirklichkeit. Jesus ist ohne die Mühsal des Alltags, ohne den Blick für den Schwachen, ohne wundgescheuerte Knie nicht zu haben. Alle, die ihm folgen, müssen das wissen.
Also nicht neu. Aber immer wieder eine Herausforderung. Groß wird im Reich des Nazareners der, der sich klein zu machen traut. Größe durch Dienen – das ist die Richtung Jesu. Aber was heißt das?
Größe durch Dienen könnte bedeuten: nicht immer das letzte Wort haben zu müssen. Größe durch Dienen heißt: zu überprüfen, wie ich mit Menschen umgehe. Größe durch Dienen meint: nicht immer alles selbst bestimmen zu müssen. Größe durch Dienen bedeutet: um Entschuldigung bitten zu können. Größe durch Dienen verlangt von mir eine Standortprüfung: Wer bist du eigentlich? Und wem hast du was zu verdanken?
Größe durch Dienen. Vergnügungssteuerpflichtig ist das selten. Aber es ist möglich. Vielleicht müsste man es doch mal wieder versuchen.
Alexander Bergel
17. Oktober
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Predigt am 30. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 10,46b-52
Blinde Flecken gibt es viele. In unserem ganz persönlichen Leben, in unserer Gesellschaft und auch in unserer Kirche. Machtmissbrauch, Ausgrenzung in all ihren Formen, Unbarmherzigkeit. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Der blinde Bartimäus spürt die blinden Flecken am eigenen Leib. Und er muss mit ihnen umgehen. Schnell merkt er, dass er dabei Hilfe von außen braucht. Sich alleine aus dem Schlamassel seines Daseins zu befreien, ist ihm nicht mehr möglich. So fleht er voller Demut Jesus um sein Erbarmen an. Er wirft sogar den Mantel weg, legt also schutzlos alles offen, was einem wirklichen Neuanfang im Wege stehen könnte. Und er spürt, dass dieser Neuanfang im Kern damit zu tun hat, sich auf Jesus auszurichten. Letztlich ist Bartimäus‘ Glaube der Schlüssel zu einem neuen Dasein, sein Glaube hilft ihm, die blinden Flecken zu überwinden und wieder ein Sehender zu werden.
Wenn ich dieses Evangelium lese, geht mir durch den Kopf, was wäre, wenn unserer Kirche mit all ihren blinden Flecken öfter eine solche Haltung voller Demut, Offenheit und Glauben gelänge? Wäre dann nicht viel gewonnen? Dann könnte sie glaubwürdig auf die andere Seite der Bartimäus-Geschichte wechseln und wie Jesus Blinde sehend machen. Und das nicht von oben herab, sondern das Gegenüber ernstnehmend: Jesus wendet sich dem Blinden zu, ohne ihm gleich das Patentrezept für sein Leben überzustülpen. Stattdessen fragt er behutsam: Was willst du, dass ich dir tue?
Der Umgang mit blinden Flecken braucht einen langen Atem. Das zeigen alle Bemühungen um Aufarbeitung und Neuorientierung. Das zeigt auch der synodale Weg der deutschen Kirche. Doch wenn wir zu neuem Sehen kommen wollen, führt kein Weg daran vorbei, sich den blinden Flecken zu stellen. Sich in aller Radikalität wie Bartimäus mutig ganz neu auf Jesus auszurichten. Und wie Jesus dem Menschen radikal zugewandt zu handeln.
Ganz unten, hier vor Ort nämlich, fängt dieser Weg an. Und zwar mit uns allen: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich!
Simone Kassenbrock
24. Oktober
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Predigt am 24. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 8,27-35
Am Kreuz kommst Du nicht vorbei. Jesus sagt das sehr deutlich. Doch wer will so was hören? Wer will schon hören, dass der Weg des Meisters kein strahlender Siegeszug ist, sondern ein Weg des Scheiterns? Petrus jedenfalls nicht. Deshalb bekommt der auch gehörig eins auf die Mütze: „Geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“ Dabei hatte er doch gerade sein großes Glaubensbekenntnis gesprochen: „Du bist der Messias!“ Er hatte alles aufgegeben, alles hinter sich gelassen, um ihm ganz nahe zu sein. Ja, das hatte Petrus wirklich getan. Und ja, er hatte vermutlich wirklich aus tiefstem Herzen seinen Glauben bekundet, seine Liebe auch – und seine Bereitschaft, Jesus zu folgen. Aber die Wahrheit, die ganze, die wirkliche Wahrheit – hatte er die begriffen? Nein. Denn als Jesus ihm die vor Augen hält, versucht er, die Dinge anders zu regeln. Eine Wahrheit sollte es werden, die nicht wehtut. Das kann er ruhig versuchen, der Erste der Apostel. Aber Jesus – der ist dann raus.
Raus, aber aus anderen Gründen, sind heute viele Menschen. Menschen, die die Botschaft Jesu vielleicht noch als alternatives Lebensmodell ansehen oder sogar nach wie vor Kraft aus ihr schöpfen. Das Interesse an der Kirche jedoch, das nimmt ab. Und zwar enorm. Immer weniger Menschen möchten Teil einer Institution sein, die so viele Fehler gemacht hat, die aber dennoch so oft immer noch auf dem hohen moralischen Ross sitzt und sehr genau weiß, was richtig ist und was nicht. So gehen immer mehr Menschen andere Wege. Und kehren nicht zurück. Doch dann und wann begegnen mir gar nicht so selten Männer und Frauen, Junge und Alte, die den Kontakt suchen. Weil sie spüren: Das, was da läuft, das, wovon die sprechen, besser noch: der, von dem sie sprechen, von Jesus und seinem Weg – das hat ihnen geholfen. Neue Perspektiven eröffnet. Oder schlicht und ergreifend gut getan. Immer wieder begegne ich solchen Menschen. Bei einer Taufe oder einer Beerdigung. Bei Elterngesprächen. Oder beim Combi.
Und dann gibt es erstaunlicherweise auch noch Leute, die sagen: „Ich möchte in der Kirche arbeiten.“ Menschen wie Katharina Westphal, unsere neue Pastoralassistentin. Du hättest durchaus auch was Vernünftiges machen können, Katharina. Aber Dein Weg hat Dich in die Kirche geführt. Es wäre sicher spannend zu erfahren, was Dich motiviert, wer Dir auf diesem Weg begegnet ist und was Dich an dem Mann aus Nazareth so fasziniert, dass Du gesagt hast: Dem folge ich nach. Du wirst Dich um die Jugend kümmern, in der Firmung, der Schule und in anderen Bereichen dabei sein – und vielen Menschen begegnen. Menschen, die dich vielleicht fragen werden: „Sag mal, Du bist doch eigentlich ganz normal – warum machst Du das?“ Ich bin gespannt auf Deine Antworten!
Uns allen bleibt die Frage Jesu: „Willst du mir wirklich folgen? Mit all den Risiken und Nebenwirkungen? Bist Du Dir bewusst, dass mein Weg nicht der des geringsten Widerstands ist, nicht der Weg der locker-flockigen Fortbewegung, sondern ein Weg, der dem Leben mit all seinen Schattenseiten nicht ausweicht? Bist Du Dir dessen bewusst? Bedenke aber, es ist ein Weg, der in allen Schatten auch das Licht der Hoffnung entdeckt und im Scheitern nicht verzweifelt, sondern trotzdem weiter sucht und sucht und sucht und auf dem Du immer wieder staunen kannst, wie – trotz allem – nie nur Untergang und Verzweiflung die Oberhand behalten, sondern das Schöne, das Tragende und das Erfüllende.“ Wer sich darauf einlässt, der wird dadurch nicht automatisch zu einem besseren Menschen, der wird auch nicht auf alles eine Antwort haben. So wie die Petrus-Kirche sie so oft meinte, haben zu müssen. Nein, wer sich darauf einlässt, für den bedeutet dieses Wagnis ein großes lebenslanges Abenteuer. Vielleicht müsste man es doch noch mal versuchen.
Alexander Bergel
12. September
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Predigt am 22. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 7,1-8.14-15.21-23
In den Spiegel zu schauen, ist nicht immer schön. Vor allem, wenn ein anderer uns den vorhält. Jesus tut das mitunter. Heute auch wieder. Vielleicht denken Sie gerade: Mich kann er damit eigentlich nicht meinen. Denn so festgefahren, so eng bin ich gar nicht. Diese ganzen Regeln und Gesetze der frommen Pharisäer – mein Thema ist das nicht. Damit wären Sie auf der sicheren Seite. Glückwunsch! Sie könnten aber auch mal so tun, als ob die Beschäftigung mit Vorschriften aus längst vergangenen Tagen doch etwas mit Ihnen zu tun hat. Nur theoretisch.
Dann kommen allerdings Fragen auf den Tisch. Fragen wie diese: Warum kann ich mich so schwer ändern? Meine Meinung? Meine Sicht der Dinge? Warum fällt es mir so schwer, Fehler einzugestehen oder gar um Entschuldigung zu bitten? Warum bin ich oft so unbeweglich? Vielleicht merken Sie: Ja, darüber könnte ich schon mal nachdenken. Vielleicht sind Sie aber doch eher der Meinung: Nein, nein – auch das ist nicht mein Thema. So ein Hardliner bin ich nun wirklich nicht. Umso besser!
Dann fragen wir weiter: Was wäre denn wohl, wenn alles Äußere, alles, was mir Halt gibt, wegfällt? Wenn kein Job, keine Funktion, keine Fassade mehr da ist? Was, wenn ich nur noch auf mich selbst geworfen bin? Wenn nichts und niemand mir mehr Sicherheit gibt? Was passiert, wenn ich dann in den Spiegel schaue? Was sehe ich da? Blicke ich in das Gesicht eines Menschen, der mit sich im Reinen ist?
Nun sind wir im Kern angekommen. Denn wenn Jesus all die Äußerlichkeiten aufzählt, die immer nur Mittel zum Zweck sein können, dann sagt er doch vor allem eines: Wenn du leben willst, Mensch, wirklich leben, dann finde heraus, was das für dich bedeutet! Du brauchst nicht perfekt zu sein. Oder moralisch unbezwingbar. Oder superfromm. All das brauchst du nicht. Erwarte das aber auch nicht von den anderen! Blicke mit einem wohlwollenden Blick in die Welt. Auf dich. Und all die Menschen um dich herum. Auf die, die du magst. Und auf all jene, die dir fremd sind. Oder suspekt. Oder lästig.
Und noch eins: Rechne damit, dass Gott dich überraschen kann. Er, der dir ein Herz geschenkt hat. Ein Herz, das so oft zu- und vollgestellt ist mit allem Möglichen: mit Ängsten und Verwundungen, mit Abhängigkeiten und so viel Kleinkrämerei. Lass es los. Und trau dich, Mensch zu sein. Ohne Fassade. Ohne Maske. Ohne Netz und doppelten Boden.
Ja, all das könnte einem der Blick in den Spiegel Jesu zeigen. Und frei machen. Zumindest theoretisch. Aber vielleicht auch ganz praktisch. Man müsste es mal versuchen …
Alexander Bergel
29. August
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Predigt am 18. Sonntag im Jahreskreis
zu Joh 6,24-35
„Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid.“ Man mag es den Leuten irgendwie nicht übelnehmen. Wer geht auch nicht gerne dorthin, wo es was umsonst gibt? Aber dann kam er wieder, der Hunger. Und die Brote waren weg. Also aufs Neue: „Jesus, gib uns zu essen!“ Nur – der ist auch weg. Denn das, was er eigentlich wollte, hatten sie nicht verstanden. Lang ist das her. Aber es passiert jeden Tag. Ein junger Mann beschreibt es so:
Ich schaue auf die Uhr. Es ist 12.30 Uhr – Mittagszeit. Instinktiv zieht es mich in Richtung Kühlschrank, obwohl ich weder Hunger noch Appetit verspüre. „Man isst um diese Zeit!“ ermuntere ich mich und öffne die Kühlschranktür. „Was gibt es heute zu essen?“ frage ich mich selbst und greife zum Käse. „Käsebrot“, beschließe ich. „Das geht schnell, und ich muss nachher nicht großartig spülen.“
Schneide eine Ecke vom Käse ab und beiße gierig hinein. „Scheinbar habe ich doch Hunger!“ Das Brot aus dem Brotkorb ist hart und trocken. „Klar, ich war ja in den letzten Tagen viel unterwegs und habe oft auswärts gegessen.“ Ich versuche trotzdem, eine Scheibe abzuschneiden. Einen Moment lang überlege ich, ob ich mich zum Essen an den Tisch setzen soll. „Wozu denn eigentlich? Ist doch eh keiner da, mit dem ich reden könnte!“
Plötzlich wird mir der Sinn meiner Worte bewusst. Betroffen setze ich mich auf den Stuhl, kaue langsam auf dem harten Brot herum und stiere vor mich hin. Ruhig ist es! Zu ruhig. Ich ertrage die Stille nicht. Mein Mittagessen will gar nicht schmecken. „Es gibt nichts Schlimmeres, als alleine zu essen!“ Denke ich und schalte den Fernseher ein, der neben meinem Esstisch steht (zitiert nach: Werkbrief für die Landjugend, Liturgische Arbeitshilfen IV, München 2000).
Hunger im Jahr 2021. So beschreibt es ein junger Mann. Oder eine alte Frau? Hunger. Plus die Sehnsucht nach einem, der ihn stillt. Womit? Ja – womit bloß? „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern. Und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.“ Ob das wohl stimmt?
Alexander Bergel
1. August
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Predigt am 17. Sonntag im Jahreskreis
zu Joh 6,1-15
Eine wunderbare Geschichte. Ganz klar. Sogar im wahrsten Sinne des Wortes: Jesus bekommt eine ganze Menschenmenge satt – wunderbarer geht es kaum! Das bringt den Verstand an seine Grenzen und macht das Herz unruhig. Also müssen Deutungen her. Mindestens zwei sind schon vorhanden – nicht mehr ganz neu, aber erprobt:
Erstens: Gott gibt im Überfluss. Jesus will ein Zeichen tun, um Gottes Reich erfahrbar werden zu lassen. Jesus stillt den Hunger. Den Hunger nach Brot, den Hunger nach Liebe, den Hunger nach Leben. So viel zur Theorie. Aber Sie könnten einwenden: Schön, dass der Gottessohn das alles tut. Doch wo tut er es bei mir? Was macht er aus meinen fünf Broten und zwei Fischen? Ich würde vermutlich mehr Fragen provozieren als Antworten geben.
Daher ist Möglichkeit zwei verlockend: Ich fordere Sie auf: Machen Sie es wie der kleine Junge: „Wenn jeder gibt, was er hat, dann werden alle satt!“ Der Kern dieser Botschaft wäre dann: Jesus war ein guter Organisator. Dass er durch ergreifende Reden die Herzen der Menschen zu berühren weiß, ist bekannt. Dann wird er es ja wohl auch schaffen, die Taschen der Leute zu öffnen, so dass durch die Vorräte aller auch wirklich alle satt werden.
Beide Möglichkeiten greifen mir zu kurz. (Obwohl ich glaube, dass beides zur Geschichte gehört.) Daher lade ich Sie ein, sich dieser vertrauten Erzählung einmal ganz persönlich zu nähern. Nehmen Sie sich einige Minuten Zeit. Hier und jetzt. Kommen Sie mit Gott ins Gespräch. Nur Sie und er. Niemand stört. Hören Sie auf das, was er Ihnen heute sagen will! Wenn Sie gerade nicht so genau wissen, worüber Sie mit ihm sprechen sollen, helfen Ihnen vielleicht diese drei Fragen:
Wonach habe ich wirklich Hunger?
Hat Gott es schon mal geschafft, mich satt zu kriegen?
Erlebe ich die Kommunion als eine seiner Antworten auf meinen Hunger?
Sie haben Recht – das geht ganz schön ans Eingemachte! Aber dafür sind wir doch auch hier, oder?
Alexander Bergel
25. Juli
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Predigt am 16. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 6,30-34
„In jener Zeit versammelten sich die Apostel, die Jesus ausgesandt hatte, wieder bei ihm und berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten.“ Was werden sie ihm wohl berichtet haben, die Zwölf? Konnten sie erzählen vom Leben der Menschen, denen sie begegnet sind? Waren ihnen die Sorgen der Leute zu Herzen gegangen? Haben sie die strahlenden Augen junger Eltern, die schwieligen Hände der Alten, die Wunden der Kranken angerührt? Wir wissen es nicht. Aber dazu hatte er sie ausgesandt, dieser Jesus. Sagt er ja selbst von sich: „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich!“
Jesus sieht in den Vielen, die ihm begegnen, keine zu missionierende Masse, kein Heer von Nummern. Im Gegenteil: Er wendet sich immer wieder einzelnen zu. Berührt sie. Nennt sie beim Namen. Lässt sich von ihrem Leid, ihrem Glück bewegen. Jesus sucht ihre Nähe. Und das erwartet er offensichtlich auch von denen, die in seine Fußstapfen treten. Damals waren es die Zwölf. Heute sind wir es. Auch wir haben uns anrühren lassen von dem Mann aus Nazareth. Sonst wären wir nicht hier. Auch uns hat er beim Namen gerufen. Auch uns will er zärtlich begegnen. Auch mit uns will er weinen. Auch mit uns will er sich freuen. Auch uns will er den Weg zeigen zu einem erfüllten Leben. Aber auch uns braucht er, um all das zu tun. Denn er hat keine Hände als die unseren.
Wer sich von Jesus, von seiner Liebe zu den Menschen ergreifen lässt, der wird nicht drumherum kommen, im Nächsten das Gesicht Jesu zu erkennen. Was aber streckt hinter diesem Gesicht? Immer ein Mensch. Ein Mensch mit seiner Geschichte. Mit seinen Liebenswürdigkeiten und Skurrilitäten. Ein Mensch mit Launen und Bösartigkeiten. Ein Mensch mit Herzenswärme und Gefühlskälte. Ein Mensch mit Stärken und Schwächen. Immer aber ein liebenswürdiger Mensch. Wie weit blicken wir jedoch unter die Oberfläche? Machen wir uns die Mühe, hinter der Fassade den wirklichen Nachbarn, die wirkliche Kollegin, den Bekannten, die Freundin, machen wir uns die Mühe, hinter all dem Äußerlichen den wirklichen Menschen zu erkennen?
Alexander Bergel
18. Juli
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Predigt am 15. Sonntag im Jahreskreis
zu Am 7,12-15 und Mk 6,7-13
Irgendetwas musste passiert sein. „Geh, Seher, flüchte ins Land Juda! Iss dort dein Brot, und tritt dort als Prophet auf! In Bet-El darfst du nicht mehr als Prophet reden.“ Hatte er es tatsächlich gewagt, die Ordnung zu stören: das fein austarierte Gleichgewicht von „Das machen wir hier aber so!“ und „Jeder ist seines Glückes Schmied!“?
Sollte er wirklich die Mächtigen hinterfragt haben? Fühlten die sich gar in die Enge getrieben? Von so einem? „Amos antwortete Amazja: Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler, sondern ein Viehzüchter, und ich ziehe Maulbeerfeigen.“ Aha – so einer war das. Ein Fachmann im Kultivieren von Maulbeefeigen. Soso …
Er hätte es gemütlicher haben können. Gut versteckt hinter seinen Maulbeefeigenbäumen.Aber irgendetwas war passiert. Und so machte er sich auf, zog uruhig hin und her. Sah vieles und sprach die Dinge an, die ihn störten. Woher er den Mut dazu bekam? „Der Herr hat mich von meiner Herde weggeholt und zu mir gesagt: Geh und rede als Prophet zu meinem Volk Israel!“ Deshalb also ging er los. Amos, der Prophet. Ohne Schulabschluss, ohne Rhetorikausbildung, ohne Netz und doppelten Boden.
Er ging und eckte an. Er ging und machte den Mächtigen die Hölle heiß. Ging und legte den Finger in die Wunde. Ging und litt an der Welt, wie sie war. Ging und hatte eine Ahnung, wie die Welt werden könnte. Ging und wurde verjagt. Ging und kam wieder. Ging und kam bald um den Verstand. Ging und kam immer mehr zu sich selbst. Ging und brachte Gott immer mehr dorthin, wo er hin gehört: mitten in die Welt – damit sie endlich anfängt, eine heile Welt zu werden.
So fing es an – damals mit Amos, dem Maulbeerfeigenzüchter, von dem Gott glaubte, er gebe einen ganz guten Propheten ab. So fing es an. Und so ging es weiter: 700 Jahre später mit Jesus und den Zwölfen, die nicht mehr alleine los mussten, sondern zu zweit. Um Kranke zu heilen, Dämonen auszutreiben und andere Dinge zu tun, von denen jeder vernünftige Mensch sagen würde: Wie soll das gehen? Wieder sind 2000 Jahre vergangen. Amos ist längst Geschichte, die Apostel stehen gemütlich auf ihren Sockeln – aber die Welt wartet immer noch auf Menschen, die nicht nur reden, sondern handeln. Was meinen Sie: Könnten wir das sein?
Alexander Bergel
11. Juli
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Predigt am 12. Sonntag im Jahreskreis
zu Ijob 38,1.8-11 und Mk 4,35-41
Ob sie wohl untergeht? Die Frage ist nicht neu. In den letzten Monaten wurde sie noch öfter, noch offensiver gestellt. Und immer mehr Menschen sagen unumwunden: Ja, das wird sie. Sie wird untergehen, die Kirche. Und dann ist endlich Schluss. Schluss mit all dem, was man schon längst hätte über Bord werfen sollen! – Wie konnte es nur so weit kommen? Wer hat denn so lange so intensiv geschlafen, dass man nicht bemerkt hat, wie sehr das Schiff der Kirche vor dem Kentern steht? Hätte man nicht, müsste man nicht, sollte man nicht?
Damals auf dem See Genezareth, da ging es nicht um eine große Organisation mit Macht und Einfluss. Jesus war mit seinen Jüngern unterwegs. Von einem Ufer zum anderen. Er hatte vom Reich Gottes gesprochen. Davon, wo es zu finden ist – im Kleinen, im Zarten, im Verletzlichen. Er hatte vom Senfkorn gesprochen, aus dem ein großer Baum wird. Von Geduld und Ausdauer. Und vom Warten können. Nun aber waren sie auf dem Weg in eine andere Welt. Andere Menschen, andere Sitten, aber dieselben Probleme, dieselben Fragen: Wie können Menschen heil werden und heil sein? Und wie ist Gott in all dem zu finden?
Es sind Fragen, deren Beantwortung sich wohl jeder wünscht. Aber es gibt keine einfachen Antworten. Für niemanden. Und der Weg dorthin ist selten ein Spaziergang. Wer mit Jesus unterwegs ist, darf nicht mit einem leichten Leben rechnen. Jesus sieht die Not. Jesus wendet sich dem Bedürftigen zu. Fragt ihn, was er braucht. Und ist in diesem einen Augenblick ganz für ihn da. Aber die Welt, die ist, wie sie ist, ändert er nicht mit einem Fingerschnippen. Oder doch? „Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein.“ Die Jünger damals waren außer sich: „Was ist das für ein Mensch, wenn ihm sogar der Sturm gehorcht?“
Ja, das ist die Frage: Was ist das für ein Mensch? Offensichtlich einer, dem man gerne sein Vertrauen schenkt. Einer, der Ruhe in die Sache bringt. Einer, der das Ziel fest im Blick hat. So haben Menschen Jesus nämlich erlebt. Aber er ist kein Zauberer. Keiner, der mir jede Unbequemlichkeit erspart. Und niemand, der mein Leben lebt. Das bleibt das Sperrige an ihm. Und das führt tief in das Geheimnis Gottes. Er, der alles kann, tut oft nichts. Er, der die Welt erschaffen hat, sieht zu, wie sie wieder untergeht. Er, der den Menschen so sehr liebt, wie es immer heißt, lässt ihn sterben. Nicht nur alt und lebenssatt, sondern oft genug auch jung und gezeichnet vom Kampf ums Überleben. Was will Gott denn nun? Warum stillt er manche Stürme, andere hingegen lässt er weiter toben?
Wie auch immer sich das damals am See Genezareth abgespielt haben mag – die Jünger haben in Jesus beides erlebt: den, der nichts tut, und den, der eingreift. Als sich die, die es aufgeschrieben haben, an diese Erfahrung erinnert haben, hatten sie bereits viele weitere Erfahrungen gemacht. Jahrzehnte waren seither vergangen. Die Gemeinschaft der Jesus-Jünger war zu einer festen Größe geworden. Zu einer verfolgten Gemeinschaft. Und zu einer Gemeinschaft, in der unterschiedliche Sichtweisen und Meinungen herrschten. Da ging es zwischendurch ganz schön zur Sache, die Wellen schlugen hoch. Von außen drohte Gefahr, und innen drohten Konflikte alles zu zerreißen.
Und Jesus, was war mit dem? Man wartete auf seine Wiederkunft. Darauf, dass er den Stürmen klare Ansagen machte. Aber das tat er einfach nicht. Und dennoch, dennoch gab es all die Menschen, die nicht verzweifelt sind. Menschen, die zwar mit der Undurchschaubarkeit Gottes rangen, die sich sorgten um das Boot ihres Lebens und das Boot der Gemeinschaft, das Boot der Kirche also, um das „Schiff, das sich Gemeinde nennt“, und die sich fragten, wo genau Jesus denn darin zu finden sei. Diese Menschen gab es. Und es gibt sie auch heute noch. Menschen, die selbst das Steuer in die Hand nehmen, die das Wasser wieder rauspumpen, die den Kurs variieren und nach neuen Wegen suchen. Es gab sie, diese Menschen. Damals in Israel. Und durch die Jahrhunderte hindurch. Und es gibt sie auch heute noch. Menschen, die vertrauen, dass Jesus mit im Boot sitzt. Egal, was kommt. Und die dem Boot, dem Schiff, das sich Gemeinde nennt, nicht beim Sinken zusehen, sondern an Bord bleiben. Weil sie ahnen – das rettende Ufer erwartet uns.
Dieses Ufer und der Weg dorthin, das wird zwar nicht das Paradies sein. Aber etwas vom Reich Gottes wird sich dort finden lassen. So wie Jesus es gesagt und gezeigt hat. So wie Menschen es immer wieder gesucht und auch gefunden haben. Innerhalb und auch außerhalb der Kirche. Und sie sind fündig geworden. Haben Gottes Gegenwart gespürt. Und entdeckt. Und daran mitgearbeitet, dass die Welt eine bessere wird. Wenn dies das Erkennungsmerkmal der Kirche bleibt oder wieder wird – dann wird sie auch nicht untergehen.
Alexander Bergel
20. Juni
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Predigt am 11. Sonntag im Jahreskreis
zu Ez 17,22-24 und Mk 4,26-34
Ein ganzes Volk sitzt im Exil. Das Leben, wie man es kannte – vorbei. Der Tempel, Gottes Wohnstatt mitten unter den Menschen – ausgeplündert und zerstört. Politik, Handel, Kultur – nichts davon war übriggeblieben. Doch dann, siebzig Jahre waren vergangen – damals wie heute eine unendlich lange Zeit –, macht Israel die Erfahrung: Gott rettet. „Ich nehme ein Stück vom hohen Wipfel der Zeder und pflanze es ein. Einen zarten Zweig aus den obersten Ästen breche ich ab, ich pflanze ihn auf einen hoch aufragenden Berg.“
Ein zarter Zweig ist es. Aus der Spitze. Man mag darin ein Bild sehen für die Führungsetage, die ausgetauscht werden muss, damit ein neuer Anfang möglich wird. In Ordnung. Man kann darin aber auch jene Menschen erkennen, die sich nicht unterkriegen lassen. Menschen, die sich durch allen Schmutz und Dreck hindurch ausstrecken nach dem ganz Anderen, nach Gott. Und die so zu Kündern einer neuen Wirklichkeit werden. Zu Prophetinnen und Propheten.
In Zeiten tiefster Not – im Babylonischen Exil, da, wo nichts mehr so war wie vorher –, in dieser extremen Ausnahmesituation ist ein ganzes Volk neu zu Verstand und neu zu Kräften gekommen. Vielleicht, weil die Menschen sich Fragen gestellt haben: Was trägt unser Leben, dann, wenn alles ins Wanken gerät? Wie lebe ich meinen Glauben, wenn es auf mich ankommt und mir der Tempelkult nicht organisatorisch unter die Arme greift? Wie kann ein neues Verhältnis wachsen zwischen den Berufsreligiösen und dem Volk? Diese Fragen haben Räume eröffnet. Und in diesen Räumen ging der Same Gottes auf. Der Same, von dem auch Jesus spricht.
Ich habe immer mehr den Eindruck, dass auch unsere Kirche auf dem Weg ins Exil ist. Oder schon mittendrin. Alte Sicherheiten tragen nicht mehr. Die Zahlen gehen rapide nach unten. Immer mehr Abgründiges tritt zu Tage. Wir können davor nicht weglaufen. Diese Zeit als Chance zu sehen, fällt vielen schwer. Die einen wollen, dass alles so bleibt und verschließen die Augen. Die anderen lassen all das hinter sich und gehen. Aber die dazwischen, die gibt es auch. Die, die weiterhin Ausschau halten nach Gottes Spuren. Auch im Chaos. Auch im Abbruch. Auch im Niedergang.
Man kann Gott auch außerhalb der verfassten Kirchen finden. Sicher. Vielleicht sogar viel einfacher, weil nicht so viel Gerümpel im Weg steht. Aber ich will mir nicht ausreden lassen, dass es auch innerhalb der Kirche möglich ist, Gott zu begegnen. Denn dafür und zu nichts anderem ist sie da! Sie ist dazu da, Räume zu schaffen, in denen Gotteserfahrungen möglich werden. Räume, in denen Menschen einander beistehen. Und immer tiefer erkennen, worin der Sinn des Lebens bestehen könnte. Israel musste ins Exil. Hat vieles hinter sich gelassen. Und so zu neuer Kraft gefunden. Denn der Kern, der ging auch im Exil nicht verloren. Wie das wohl bei der Kirche ausgeht?
Alexander Bergel
13. Juni
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Predigt an Fronleichnam
zu Lk 9,11b-17
„In jener Zeit redete Jesus zum Volk vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung bedurften.“ Wenn man danach fragen würde, wer Jesus eigentlich war und was sein Lebensinhalt gewesen ist, dann reicht eigentlich genau dies: Er sprach vom Reich Gottes und machte alle gesund, die der Heilung bedurften. Alle, die diesem Jesus folgen, müssen das wissen. Und nur wer so lebt und handelt, folgt dem Mann aus Nazareth wirklich.
Szenenwechsel. Am vergangenen Freitag tritt der Erzbischof von München und Freising vor die Kameras und erläutert, was kurz zuvor wie ein Donnerschlag nicht nur durch die katholische Kirche, sondern wohl durch die ganze Republik ging: Marx hat dem Papst seinen Rücktritt angeboten. Er wolle damit Verantwortung übernehmen. Für alle Schuld, die er auf sich geladen habe. Und für die Schuld, die im System Kirche über Jahrzehnte geschehen sei – durch Missbrauch oder dessen Vertuschung. „Für mich ist wichtig“, so Kardinal Marx bei der Pressekonferenz, „dass im Raum der Kirche, in der Institution Kirche Menschen Unheil erfahren haben. Nicht Heil, sondern Unheil! Die Betroffenen erwarten zu Recht auch, dass Zeichen gesetzt werden von Übernahme von Verantwortung.“
Dass Menschen Unheil erfahren haben. Nicht Heil, sondern Unheil! Wie pervers, wie perfide ist genau das: Menschen, die auf Jesus schauen, die fasziniert sind von ihm, von seiner heilenden, aufrichtenden, Mut machenden Botschaft, erhoffen sich eine Ahnung, eine Spur davon an einem Ort, der von sich sagt, Ort des Heils zu sein, Zufluchtsort, Aufbruchsort. Für viele ist dieser Ort, ist die Kirche jedoch zur Hölle geworden. Die Mächte der Unterwelt, wie sie an anderer Stelle im Evangelium pathetisch beschworen werden, welche die Kirche nicht überwältigen werden, diese Mächte der Unterwelt sind längst im Innern der Kirche angekommen. Ja, sie zerfressen das immer fragiler werdende Haus der Kirche so sehr, dass – wie es unser Bischof Franz-Josef Bode formuliert – „kein Stein auf dem andern“ bleiben wird. Und nun?
Damals, am Anfang, gab es noch nicht viele Steine, die zu festgefügten religiösen Institutionen geworden waren. Und die, die es gab, der Tempel in Jerusalem beispielsweise, jene Stein gewordenen Vision der erfahrbaren Nähe Gottes, dieser Tempel mit all seinen Verflechtungen in Wirtschaft und Politik ist auf diese Weise seines Kerns beraubt worden. Wie Jesus das fand, ist sehr klar geworden, als er den Tempel auf- und ausgeräumt hat. Alles, was zum Selbstzweck geworden ist, taugt nicht mehr als Erfahrungsort für einen Gott, der die Herzen der Menschen berührt, der sie begleitet, durch welche Wüste auch immer, der Zeichen seiner Nähe sendet, der Heilung schenkt und neues Leben.
Jesus hat das klar benannt. Und dann etwas Neues geschaffen. Allerdings keine festgefügte Institution. Dass es heute eine solche braucht, damit das, wofür sie steht, überhaupt wirken kann in einer Gesellschaft, die viel komplexer ist als das Zusammenleben zur Zeit Jesu, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Das Problem ist daher auch nicht die Institution an sich. Das Problem ist, dass sich die Institution Kirche immer mehr von dem entfernt hat, was an ihrem Beginn noch wichtig war. Entscheidend wird daher sein, ob wir zu dem zurückkehren, ob wir wiederentdecken, ob wir konsequent weiterleben, was Jesus uns vorgelebt und wofür er auch gestorben ist.
Sein Auftrag, damals wie heute: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Mit anderen Worten: Geht meinen Weg weiter! Meinen Weg, der selten ein Spaziergang war. Hört auf die Not der Schwachen. Und handelt! Schaut auf das, wo Menschen arm und unterdrückt sind. Und handelt! Blickt in die Herzen der Suchenden. Und handelt! Sprecht von mir. Feiert Feste, die alle Sinne berühren und über das Grau des Alltags hinaus auf die Wunder des Lebens verweisen. Sucht nach meinen Spuren mitten unter euch. Steckt andere an mit eurer Begeisterung, mit eurer Kraft, mit eurem Mut. Gebt all jenen zu essen, die Hunger haben. Hunger nach Liebe und Hunger nach Brot.
Können wir all dem gerecht werden? Ich glaube schon. Doch wie kommt man dahin? Das ist die Frage aller Fragen. Nicht nur in diesen Zeiten. Kommen wir darüber ins Gespräch! Hier und heute und immer wieder. Halten wir Ausschau danach, was die Menschen um uns herum brauchen könnten. Damit sie geheilt werden. Und aufgerichtet. Und gestärkt. Damit sie neue Perspektiven entdecken. Neugierig werden. Und vielleicht sogar selbst mitmachen wollen. Weil sie fasziniert sind von dem, was wir tun. Und wenn es dann auch nur fünf Brote und zwei Fische sind – eine kleine Tagesration also –, wenn es auch noch so wenig ist, was wir bringen können: Bringen wir es mit! Manchmal braucht es ein Wunder, damit alle satt werden. Und heil. Und gestärkt. Immer aber bedarf es einiger Menschen, die einfach anfangen. Sich nicht unterkriegen lassen. Die Hoffnung nicht aufgeben. Und weitermachen. Wir könnten doch solche Menschen sein, oder?
Alexander Bergel
6. Juni
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Predigt am Dreifaltigkeitssonntag
Mit dem Predigen ist das ja so eine Sache. Idealerweise ist es nicht zu lang, nicht zu theologisch und nah am Leben. Das Dreifaltigkeitsfest ist der ideale Tag, um bei diesem Vorsatz grandios zu scheitern: nicht zu lang, nicht zu theologisch, nah am Leben. Denn an keinem Tag im Jahr scheint sie größer: die Kluft zwischen der Theologie und dem Leben. Aber an keinem anderen Tag ist es dringlicher, diese Kluft überwinden zu helfen. Heute werden wir nämlich mit einer entscheidenden Frage konfrontiert: „Christ, was glaubst du eigentlich?“
Wenn es überhaupt noch jemanden interessiert, was wir so glauben, dann gibt sich ein fragendes Gegenüber vermutlich nicht zufrieden mit der schlichten Antwort: „An Gott.“ „Ja, schön“, wird ein solch Fragender dann weiterbohren, „schön, du glaubst an Gott. Und du nennst ihn Vater. Aber wie ist das dann mit Jesus, den du seinen Sohn nennst? Und wie ist das mit der Nummer drei, dem Heiligen Geist? Den gibt’s doch auch noch, oder?“ „Stimmt“, wird der leicht verschüchterte Christ dann vielleicht zugeben – und gleichzeitig hoffen, dass der anstrengende Nachfrager nicht noch mehr wissen will. Aber das will er. „Drei Personen. Drei Namen. Drei Götter. Glaubst du also an drei Götter?“ „Nein!“, wird der Christ sich beeilen zu antworten. „Ein Gott ist es in drei Personen. Die Dreifaltigkeit eben. Wie das aber genau ist, kann ich dir nicht sagen. Es ist halt so.“
Mit einer solchen Antwort aber wird sich der interessiert Fragende, der vielleicht einer anderen Religion angehört oder ein Nichtglaubender ist, nicht zufrieden geben. Vielleicht wird der Gefragte diesen Zeitgenossen dann an die Fachleute verweisen. An Professoren und Priester oder ähnliche Leute. Die müssten das doch wissen. Und diese Leute stehen dann am Dreifaltigkeitssonntag vor der Gemeinde und blicken in fragende Gesichter: „Wie ist es denn nun mit der Dreifaltigkeit?“ Dann heißt es, Worte zu finden, die nicht nur richtig sind, sondern solche, die die Zuhörer berühren. Worte, die helfen zu glauben. Und damit sind wir beim Kern aller Rede von Gott.
Die Lehre von der göttlichen Dreifaltigkeit hat sich nämlich niemand einfach ausgedacht. Im Gegenteil. Sie hat mit Erfahrungen zu tun. Mit Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben. Die Bibel spricht vom Schöpfer-Gott, der sein Volk durch Wüsten und Gefahren begleitet und den Jesus als Vater angesprochen hat. Menschen sind Jesus begegnet und haben in ihm das Gesicht Gottes erkannt. Menschen erfahren sich als durchdrungen vom Lebens-Atem Gottes, dem Heiligen Geist. Mindestens auf dreifache Weise also teilt Gott sich dem Menschen mit. Er zeigt und schenkt sich so, wie er ist. Und so, wie Menschen ihn erfahren, ist er auch: Als Vater bleibt Gott der transzendente Ursprung, der immer ganz Andere, der nicht zu fassen ist, nicht einmal in Bildern. Als Sohn überwindet er die große Distanz zwischen Gott und Mensch, indem er selbst einer wird. Als Geist nimmt er unser Herz und unsere Augen und öffnet sie für die Wirklichkeit der Liebe Gottes, die er selbst ist. Spätestens hier wird also deutlich: Der Glaube an den dreifaltigen Gott ist kein spezielles Sondergebiet für religiös Hochbegabte. Nein: Er ist der Versuch, das zusammen zu bringen, was Menschen erlebt haben. Also auch: wie wir Gott erleben.
Wie aber erleben Sie Gott? Wer ist Gott für Sie? Ein Blick auf die eigene Art zu beten, kann dabei helfen. Der eine setzt eher auf den Vater. Schließlich ist er ja der Urgrund allen Seins, der Schöpfer, der Begründer auch unserer Existenz. Wunderbare Bilder findet das Alte Testament für diesen Gott. Ein Gott begegnet uns dort, der in Feuer und Wolke, Sturm und zärtlichem Windhauch die Nähe seines Volkes sucht. Bilder, die unser Denken stark beeinflussen. Ein anderer nähert sich im Gebet lieber dem Sohn. Jesus, der als Mensch unter uns Menschen gelebt hat. Der zu uns gesprochen hat, der Menschen berührt und geheilt hat. Ein Gott mit Hand und Fuß, zum Anfassen sozusagen. Wieder andere haben eine Vorliebe für den Heiligen Geist. Jenen Geist, der Gottes Liebe in Person ist, der alles durchdringt. Der in uns ist und in der Welt wirkt. Und der auch mal gerne alles auf den Kopf stellt.
Wie auch immer ich mich entscheide – und das kann mal so und mal so sein: Es sagt auch viel über mich aus. Über meine Art zu leben und zu glauben. Und genau darum geht es erstaunlicherweise auch: um mich selbst, um uns! Der Blick auf den drei-einen Gott lässt erkennen, auf welch vielfältige Weise Gott sich dem Menschen gezeigt hat – und wie er es immer noch tut. Wer will, kann das natürlich alles philosophisch und theologisch bis ins Kleinste auseinandernehmen und zu erklären versuchen. Und in der Tat: Es ist spannend, was Theologen und Philosophen aller Zeiten für Gedankengänge hatten und haben. Manchmal bis einem schwindelig wird. Wer Gott aber „verstehen“ will – so man ihn denn jemals verstehen kann –, der muss ihm begegnen. Meist geschieht das mitten im Leben. Bücher und gelehrte Kommentare reichen mir da nicht aus. Wenn Sie also wirklich mal jemand fragt, wer Gott ist, dann sagen Sie ihm, wie Sie ihn erleben. Das geht ganz ohne Studium. Und kommt mitten aus dem Leben. Aus Ihrem nämlich.
Alexander Bergel
30. Mai
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Predigt an Christi Himmelfahrt
Es war früher vorbei als gedacht. Ganz plötzlich. Dabei sah es überhaupt nicht danach aus. Und doch: Die kleine Osterkerze, die seit der Osternacht auf meinem Esstisch stand, hat am letzten Sonntag ihren Geist aufgegeben. Schade eigentlich, denn bis Pfingsten, dem Ende der österlichen Fünfzigtage-Zeit, hätte sie noch durchhalten sollen. Sicher, es gibt drängendere Probleme. Und ein wirkliches Problem ist das auch gar nicht. Aber vielleicht ja ein Bild. Ein Bild für das, was Glaubenden im Laufe ihres Lebens begegnet. Und ein Bild für das, was wir in der Kirche momentan so alles erleben und aushalten müssen. Aber der Reihe nach.
Auf dieser Kerze ist oder war meine Lieblingsostergeschichte zu sehen: Der Auferstandene begegnet Maria Magdalena. Die österliche Szene schlechthin! Maria, die Jesus ihr ganzes Herz geschenkt hat, erkennt ihn nicht wieder. Erst als Jesus sie beim Namen nennt: Maria!, erst als er aus dem Abstrakten heraus und ins Persönliche hinein tritt, erst dann erkennt sie ihn. Offensichtlich geht eine Beziehung zu Jesus nur, wenn ich ihn jenseits der Formeln und Dogmen suche. Nur wenn ich mich nicht auf das Auswendiggelernte verlasse, nur wenn ich mutig genug bin zu fragen, zu zweifeln und wirklich ein Suchender, eine Suchende bleiben oder immer mehr werde, ohne Netz und doppelten Boden, nur dann, oder vielleicht besser: vor allem dann stehen die Chancen gut, diesem Gott wirklich zu begegnen, ihm ins Herz zu schauen.
Genauso fing es damals an. Im Garten. Am ersten Tag der Woche. Und seither versuchen Menschen, Männer und Frauen, diesem Jesus zu folgen. Ihm zu vertrauen. Ihm und seiner Botschaft. Ihm und der Kraft seiner Auferstehung. In diesen Österlichen Tagen erinnert uns die leuchtende Osterkerze an jenes Feuer des Anfangs. Doch was, wenn es erlischt? Was, wenn all das, was dagegen spricht, wenn all die Skandale, all das Schwere, all das Dunkle, das auch durch Menschen in der Nachfolge Jesu in diese Welt gekommen ist, was, wenn all das die Flamme nicht nur flackern lässt, sondern zum Erlöschen bringt?
Meine Osterkerze war plötzlich aus. Und zwar in dem Moment, als auf dem Bild nur noch Maria Magdalena übrig war. Von Jesus sind nur noch ein Teil des Oberkörpers zu sehen, Arme und Beine, Hände und Füße samt Wundmalen. Mehr nicht. Und der Blick Maria Magdalenas geht ins Leere. Auch das eine Erfahrung, die viele, vermutlich sogar alle Jüngerinnen und Jünger Jesu nicht nur einmal in ihrem Leben machen: Ich versuche ihm nahe zu sein, ihn anzuschauen, ihn zu entdecken – aber da ist nur Leere. Kein Angesprochen-Sein, keine tiefe Erfüllung, keine Begeisterung, vielleicht nicht mal mehr die Sehnsucht danach. Was soll man denn da noch machen?
Ja, was soll man da noch machen? Vielleicht ist das eine jener Fragen, die ganz gut zu Christi Himmelfahrt passen. An diesem Tag, dem 40. seit Ostern, kann keiner mehr davor weglaufen: Es geht nicht alles weiter wie bisher. Kein buisness as usual. Im Gegenteil! Der Auferstandene ist nicht ins Leben zurückgekehrt wie damals Lazarus. Auferstehung bedeutet vielmehr, über all das hinaus, was wir kennen und verstehen, am Leben zu sein. Bei und in Gott aufgehoben zu sein. Ein für alle Mal. Und es bedeutet für alle, die diese Verwandlung noch vor sich haben, die Spuren des Auferstandenen in dieser Welt zu entdecken. Auch wenn viele sagen: Die gibt es gar nicht, solche Spuren. Auch wenn es sich oft genug so anfühlt, als wären das alles nur schön ausgedachte Geschichten, denn irgendwas braucht der Mensch ja, um sich daran festzuhalten. Auch wenn die Nachfolge dieses Mannes aus Nazareth die Welt offenbar nur schwer zu verändern vermag. Und am Ende, so sagen es manche, die es wirklich versucht haben, am Ende fühlt man sich doch oft genau wie diese Kerze: ausgebrannt, das Licht ist erloschen.
Ich hebe diese Kerze auf. Sie erinnert mich daran, dass auch das Leben als Christin, das Leben als Christ ein mühsames ist. Sie erinnert mich an die Momente, in denen ich mich manchmal leer und ausgebrannt fühle. Aber sie hilft mir auch, nicht dabei stehen zu bleiben. Denn dann schaue ich noch einmal auf Maria Magdalena. Ihr Blick führt nämlich auch jetzt nicht ins Leere. Auch wenn es danach aussieht. Maria weiß: Eben noch war er da, der Auferstandene, und er war keine fixe Idee, keine Wahnvorstellung und auch keine eingeredete Überlebensstrategie. Nein, Jesus war wirklich da. Und er bleibt es. Wer von dieser Hoffnung erfüllt ist, der wird nicht aufhören, nach seinen Zeichen in der Welt zu suchen. Und der wird nicht müde, sich an das Feuer des Anfangs zu erinnern. Jede, jeder von uns hatte es einmal in sich, diese Feuer des Anfangs. Und mitunter lodert es doch auch, oder? Zumindest aber die Glut, die müsste noch da sein. Und wenn nicht? Dann wird es vielleicht einen geben, der sie neu entfacht, die Glut. Wie sich das anfühlt? Wir sprechen uns wieder – zu Pfingsten!
Alexander Bergel
13. Mai
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Predigt am 4. Ostersonntag
zu Joh 10,11-18
Manche möchten nur noch weg. Weil sie es nicht mehr aushalten. Weil sie das, was ihnen wichtig ist, mit Füßen getreten sehen. Weil sie es nicht mehr ertragen können, ausgeschlossen zu sein. Da sie das falsche Geschlecht haben. Oder homosexuell sind. Da sie keine glatte Biografie vorzuweisen haben. Oder bestimmte Wortmeldungen aus dem Mittelalter nicht mit ihrem Leben in Verbindung bringen können. Deshalb ziehen sich immer mehr Menschen zurück. Zurück aus der Gemeinschaft derer, die sich um Jesus von Nazareth versammeln. Was aber ist das für eine Gemeinschaft? Manche würden sagen: Diese Gemeinschaft ist zur Institution geworden, der es nur noch um das Verwalten dessen geht, was man aus der Vergangenheit bewahren muss – egal, ob diese Ideen und Sätze dem modernen Menschen noch etwas sagen, egal ob sie ihm beim Leben und beim Sterben helfen können oder nicht.
„… weil ihm an den Schafen nichts liegt.“ Was der Autor des Johannesevangeliums über den bezahlten Knecht schreibt, genau das würden manche über jene sagen, die oft so genau wissen, was richtig ist und was falsch. Über jene, die nach Akten- und Gesetzeslage entscheiden, dabei aber den Einzelnen, die Einzelne mit ihrem konkreten Leben ausblenden – weil ihnen einfach „an den Schafen nichts liegt“. Ist es das? Ist es diese Gedanken-, gar Gefühllosigkeit, die an so vielen Stellen vorherrschend zu sein scheint? Sodass es gar nicht mehr darum geht, was Menschen berührt, was sie heilt, was sie ernst nimmt ohne Vorleistung? Oft wirkt es so. Und genau das ist es, was Menschen verletzt. Was sie zerstreut. Was sie andere Wege gehen lässt. Was ihnen schlimmstenfalls das Gespräch, das Leben mit Gott immer schwerer, vielleicht sogar unmöglich macht.
Ja, das ist die Erfahrung, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Dabei könnte, dabei müsste, dabei sollte es doch so anders sein! Das Bild vom Guten Hirten, oft belächelt, gerne verzweckt, immer wieder auch missbraucht, dieses Bild muss uns doch unruhig sein, muss uns doch unruhig werden lassen. Dieses Bild taugt nicht so sehr dafür, dass es den einen Oberhirten und ein paar Hirten im mittleren Weidemanagement zum obersten Prinzip erklärt. Der verengte Blick auf diese amtlich bestellten Hirten verstellt das, worum es eigentlich geht: um den Blick nach rechts und nach links, um die liebevolle, wohlwollende Aufmerksamkeit, um das Suchen von Spuren eines menschenfreundlichen Gottes. Sicher, es braucht auch die Verantwortungs-trägerinnen und Verantwortungsträger an der Spitze. Sonst zerfällt und vereinzelt eine Gemeinschaft. Aber vor allem bedarf es derer, die sich nicht davon abbringen lassen, in all dem Unvollkommenen dieser Welt, in all den Kämpfen und Auseinandersetzungen, in all den Verletzungen und Wunden, in all dem Verkorksten und Zerstörten immer zuerst den Menschen zu sehen. Es braucht jene, denen an den Schafen etwas liegt. Egal woher sie kommen. Egal was sie können. Egal wie sie glauben. Egal wie sie fühlen.
Der echte gute Hirte, Jesus aus Nazareth, der Mensch unter Menschen, der Sohn eines Gottes, dessen Name bedeutet: Ich bin da, wo du bist! – dieser gute Hirte hat alles auf eine Karte gesetzt. Hat dem Menschenverachtenden den Kampf angesagt. Von der Liebe nicht nur gesprochen, sondern sie Wirklichkeit werden lassen – selbst um den Preis des eigenen Lebens. Alle, die in seiner Spur unterwegs sind, müssen das wissen. Und eigentlich wissen sie es auch. Ja, auch wir, die wir noch hier sind. Die immer wieder kommen. Weil wir die Sache Jesu noch nicht aufgegeben haben. Weil wir in der Kirche noch mehr Möglichkeiten und Hoffnungsräume erkennen als Abgründe und rückwärtsgewandte Ideologien. Auch wir wissen das. Doch was bedeutet das für unser Handeln?
Alexander Bergel
24. April
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Predigt zu Ostern
Wie erklären Sie einer 17-jährigen Atheistin, was die Vision Jesu war – auf einem Bein stehend? Können Sie das? Oder müssen sie erst üben, auf einem Bein zu stehen? Zugegeben, diese Frage erwischt Sie vermutlich etwas unvorbereitet. Vielleicht fragen Sie sich auch gerade: Warum sollte ich das überhaupt tun? Ich kenne gar keine 17-jährige Atheistin. Und Jesu Vision – na ja, wie soll man sagen, irgendwie schwierig … Sicher, er hat es versucht, wirklich versucht. Manches hat auch funktioniert. Gut sogar. Menschen haben Heilung erlebt. Ausgestoßene Gemeinschaft. Und Gefangene Freiheit. Aber hat sich das durchgesetzt? So richtig? Seine engsten Vertrauten damals – waren die überzeugt davon? Und – vielleicht noch wichtiger: Überzeugt es uns? Berechtigte Frage.
Also werden wir konkret: Was genau bedeutet es mir, diesem Jesus zu folgen? Ihm, der gestorben und am dritten Tage auferstanden ist, wie es so schön heißt. Ja, was bedeutet das, liebe Schwestern und Brüder – auferstanden von den Toten? Was bedeutet es mir? Welche Kraft ziehe ich – ich ganz persönlich – aus diesem ungeheuren Ereignis? Was bewegt es in mir? Und was bewege ich dadurch? Hat Ostern, hat die Auferstehung Jesu wirklich etwas mit meiner Erfahrung zu tun? Prägen die Melodien, die Worte, die Geschichten mein Leben so sehr, dass ich es spüren kann – und meine Umgebung am besten gleich mit?
Fragen über Fragen. Wie so oft. Aber sie lohnen sich. Denn wer sich diesen Fragen stellt – am besten ohne allzu schnelle Antwort –, der wird erleben, welche Kraft in ihnen steckt. Und wenn Sie sich dann noch trauen, diese Fragen lieb zu gewinnen, und sich auf die Suche machen, auf die Suche danach, wo der Auferstandene Ihnen begegnet ist – wenn Sie diese Schritte wagen, diese österlichen Schritte, dann können Sie vielleicht immer noch nicht sehr lange auf einem Bein stehen. Aber Sie könnten einer 17-jährigen Atheistin erklären, was die Vision Jesu war. Mehr noch: Wie Sie selbst Teil dieser Vision geworden sind. Und warum Sie – trotz allem – immer wieder Ostern feiern.
Alexander Bergel
3. April.
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Predigt am 5. Fastensonntag
zu Joh 12,20-33
Sprechen Sie Klingonisch? Vermutlich nicht. Einige von Ihnen fragen sich vielleicht gerade, was das überhaupt sein soll: Klingonisch. Klingonisch ist eine konstruierte Sprache, die im Auftrag einer Filmgesellschaft Anfang der 80er-Jahre für die Klingonen, eine außerirdische Spezies in den Star-Trek-Filmen, geschaffen wurde. Ein ganz eigenes Sprachenuniversum, das man sogar lernen kann. Als Hobby sicher eine interessante Sache. Es macht eingefleischten Fans großen Spaß und ist in der fiktiven Welt etwas, womit man sich ein Leben lang beschäftigen kann. Keiner käme jedoch auf die Idee, Klingonisch zu einer weiteren Amtssprache in der EU oder im Deutschen Bundestag zu machen. Denn Klingonisch ist eine Fiktion. Mehr nicht. Und damit sind wir bei der katholischen Kirche im Jahr 2021 angekommen.
Was wir allein in den letzten Tagen erlebt haben, lässt einen – im harmlosesten Fall – verwundert die Augen reiben. Da erreicht uns ein Brief aus Rom, der – wie schon so häufig – huldvollst dazu aufruft, homosexuell liebenden Menschen mit Takt und Mitgefühl zu begegnen, denn sie sind ja schließlich Menschen. Das, was aber zu ihnen gehört, nämlich Menschen desselben Geschlechts zu lieben, das ist nicht so in Ordnung. Jedenfalls dann nicht, wenn sie unter partnerschaftlicher Liebe das verstehen, was die meisten Menschen unter partnerschaftlicher Liebe verstehen. Das widerspreche nämlich – und da müsse man bitte Verständnis haben, da könne die Kirche einfach nicht anders handeln –, das widerspreche dem Schöpferwillen Gottes, den man in Rom nun einmal exklusiv und bis ins Detail kennt. Daher könne man eine solche Verbindung auch nicht segnen. Gott segne nämlich nicht die Sünde. Ist das denn so schwer zu verstehen?
Ein paar Tage später erleben wir, und damit dringen wir noch tiefer ein in das Paralleluniversum katholische Kirche, ein paar Tage später erleben wir in Köln die Veröffentlichung des lang erwarteten, von Kardinal Woelki in Auftrag gegebenen Gutachtens zur Untersuchung der Strukturen der Vertuschung sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln. Es werden Namen benannt. Endlich. Es werden Rücktritte angeboten. Selbstverständlich. Es werden Interviews gegeben, nach denen ich aber einmal mehr den Eindruck habe, dass deren Sprache – juristisch ausgewogen, jedes Wort bedacht – große Chancen hätte, eine neue Unterart des Klingonischen zu werden. Warum? Weil hier so getan wird, als ob man mit verschwurbelten Formulierungen und dem Hinweis auf vieles, was doch auch richtig gelaufen sei, zu den Menschen vordringen könne. Das Gegenteil ist der Fall. Was sich manche Kirchenfürsten in ihrem Paralleluniversum zurechtbasteln, hat mit der Realität vieler Menschen rein gar nichts mehr zu tun. Das Tragische daran ist: Die Fans des Klingonischen wissen in der Regel, dass sie sich zum Spaß in eine Parallelwelt begeben haben. Die amtlichen Vertreter des katholisch Klingonischen scheinen ihre Parallelwelt für die Realität zu halten.
Wir müssen uns nichts vormachen: Ein Paralleluniversum hat in der realen Welt keine Überlebenschance. Natürlich muss man nicht allem, was in der Welt geschieht, zustimmen. Zu sehr gibt es Ungerechtigkeiten, Ausbeutung, Fanatismus, eine Wirtschaft, die tötet, und auch so manches, von dem man zu recht sagen kann: Das ist plumper Zeitgeist, der sich nach kurzer Dominanz wieder legt. Es muss – ganz sicher – immer auch Aufgabe der Kirche sein, Alternativen aufzuzeigen. Aber die müssen sich doch messen lassen am Leben Jesu. An seiner Botschaft. An seiner klaren Art, sich an die Seite der Menschen zu stellen. Vorbehaltlos. Ohne Diskussion. An die Seite derer, die von Mächtigen malträtiert, von den religiösen Eliten ausgeschlossen und von den moralisch Hochbegabten verachtet werden. Da, und nur da, finde ich, ist dann auch der Platz der Kirche.
Kirche muss neugierig machen auf diesen Jesus von Nazareth. Kirche muss Menschen helfen, den Weg zu ihm zu finden. So wie es Philippus und Andreas gemacht haben, damals mit den griechischen Pilgern in Jerusalem. Die hatten wohl irgendwie von Jesus gehört. Von seiner Art, Menschen zu berühren. Von seiner Kraft und seinen neuen Ideen. Sie hatten die Hoffnung, dass dieser Jesus auch sie berühren, stärken, vielleicht sogar heilen könnte. Zumindest aber erhofften sie sich von ihm Antworten auf ihre Fragen. Also nahmen sie Kontakt zu Philippus auf. Den kannten sie. Der verstand ihre Sprache. Und er sprach sie auch. Griechisch war das, nicht Klingonisch. Philippus wiederum fragt Andreas um Rat, der Jesus auch kennt, ihm vielleicht ein wenig näher steht. Und dann gehen sie gemeinsam zu ihm. Und nehmen die Fragenden mit.
So kommen Menschen zu Jesus. Ohne Einlasskontrolle. Ohne Überprüfung, ob man bestimmten Kriterien entspricht. Ohne Belehrung. Ohne gönnerische Geste. Jesus lässt alle zu sich, die sich das wünschen. Und dann spricht er zu ihnen. So wie die Menschen es brauchen. Damit sie ihren Weg finden. Damit sie Perspektiven entdecken. Damit sie Gott in ihrem Leben spüren. Damit die Welt ein Ort des Heiles wird. Und zwar nicht in einem Paralleluniversum. Sondern in der Welt, die ist, wie sie ist. Eigentlich ist das alles nichts Neues. Aber nach den Ereignissen der letzten Tage, Wochen und Monate, in denen wir erleben mussten, wieviel Klingonisch in Rom, in Köln und an manch anderen Orten gesprochen wurde, ist es an der Zeit, eines klar zu fordern: Überlasst das Klingonische den Star-Trek-Fans. Die Sprache der Jüngerinnen und Jünger Jesu ist eine andere.
Alexander Bergel
21. März
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Predigt am 3. Fastensonntag
zu Joh 2,13-25
Haben Sie Ihren Frühjahrsputz schon erledigt? Jesus ist grad mittendrin. Er war zum Paschafest nach Jerusalem gekommen. Zu jenem Fest also, das an die Befreiung Israels aus der Sklaverei erinnert. Beten wollte er. Seinem Gott nahe sein. Einem Gott, der aus dem Nichts heraus Unglaubliches wirken kann. Gerade noch hatte er es auf eindrucksvolle Weise erlebt. Kurz vorher nämlich tat Jesus sein erstes Zeichen: aus Wasser wurde Wein bei der Hochzeit zu Kana. Und nun? Hier in Jerusalem begegnet Jesus Menschen, die nicht mehr viel zu erwarten scheinen. Der ganze Tempel steht voller Gerümpel. Überall Geld, Tiere, Devotionalien. Kaufen, Machen, Anfassen – das ist die Devise. Wo aber bleibt da die Offenheit, sich beschenken zu lassen? Jesus durchfährt ein heiliger Zorn: „Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!“ Alles muss raus. Alles, was sich zwischen Gott und den Menschen drängt – weg damit. Ein Frühjahrsputz der ganz eigenen Art …
Die Zeit vor Ostern ist auch so eine Art Frühjahrsputz. Frühjahrsputz der Seele sozusagen. Doch Vorsicht: Wer sich das traut, stößt ziemlich sicher auf eine Frage: Was ist in meinem Inneren eigentlich los? Eher Markthalle oder eher Tempel? Also: Eher Lärm, Chaos und Durcheinander? Oder: Klarheit, Offenheit und Weite? Die Geschichte der Tempelreinigung könnte für uns zu einem heilenden Bild werden. Und zu einer Aufforderung: Mensch, wage es, in deine Abgründe hinab zu steigen. In dein Chaos. Blicke in deine dunklen Ecken. Schaffe eine klare Linie. Lass nicht zu, dass alles wichtiger wird als du selbst – und Gott. Wie aber kann das gehen?
Manchmal hilft beim Entrümpeln des eigenen Inneren der Weg über das Entrümpeln des Äußer-en. Ein Frühjahrsputz der Seele kann durchaus beim Entrümpeln der Wohnung beginnen. Viele haben es in diesen Corona-Zeiten bereits getan. Sie noch nicht? Dann schauen Sie sich mal um. Sind Sie zufrieden mit all dem, was Sie in Ihrer Wohnung so alles haben? Oder stehen Ihre vier Wände voll mit allem Möglichen, das Sie eigentlich gar nicht brauchen? Werfen Sie es weg – und Sie können wieder freier atmen. Versuchen Sie’s! Andere müssten vielleicht eher anfangen, ihre Zeit neu zu sortieren. Einfach war das noch nie. Aber momentan ist das eine noch größere Herausforderung. Für alle, die einsam zuhause sind und die quälend langsam vergehende Zeit erleiden genauso wie für alle, deren Leben sich nur noch am Laptop abspielt zwischen Homeschooling der Kinder, zu optimierenden Arbeitsabläufen, fehlenden Sozialkontakten und der Frage, wie bei alldem das Essen auf den Tisch kommt. Was könnte da helfen? Was muss sich ändern? Wieder andere müssten vielleicht ihre Beziehungen mal in aller Ruhe anschauen: Freunde, Bekannte, Kollegen. Und – so hart es klingen mag – vielleicht auch da ein bisschen sortieren und aufräumen. Oder neu investieren. Denn wie kann eine Freundschaft Zukunft haben, wenn ich sie nur noch irgendwie am Leben erhalte – weil sich keiner traut zu sagen, dass es eigentlich keine Freundschaft mehr ist?
Markthalle oder Tempel – das war die Frage Jesu. Und es ist unsere Frage! Jesus konnte nicht mit ansehen, wie der heilige Raum – der Ort also, an dem der Mensch Gott und sich selbst ganz nahe ist – zweckentfremdet wird. Am Ende nämlich, am Ende steht da zwar ein fester Bau – aber das Leben in ihm – das ist verschwunden. Alles läuft nur noch irgendwie so. Die Gottes-beziehung – läuft nach Plan, pünktlich am Sonntagmorgen für eine Stunde. Die Beziehung zu anderen – läuft nach Plan, ohne besonderen Reiz, muss ja. Die Beziehung zu mir selbst – Ach ja, man wird auch nicht jünger … Ja, so kann’s gehen. Muss es aber nicht. Noch – noch ist Zeit!
Alexander Bergel
7. März
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Predigt am 6. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 1,40-45
„Jesus hatte Mitleid mit ihm.“ Dieser kleine Satz sagt eigentlich schon alles. Jesus lässt die Welt nicht kalt. Ganz im Gegenteil. Immer wieder mischt er sich ein. Immer wieder bewegt er die Herzen von Menschen. Immer wieder wendet er sich ihnen zu. Immer wieder stellt er sich auf die Seite der Schwachen. Immer und immer wieder. Wer sich die Evangelien der letzten Sonntage anschaut, könnte meinen, Jesus habe sein Leben lang nur Kranke geheilt. Langsam kann man es schon nicht mehr hören: Nach der Heilung des psychisch Kranken, dann der Schwiegermutter des Petrus und vieler Leute, „die an allen möglichen Krankheiten litten“, nun die Heilung eines Aussätzigen.
„Wir haben es ja verstanden!“, möchte mancher da vielleicht einwenden. Aber haben wir das wirklich? Haben wir wirklich begriffen, nicht nur vom Kopf, sondern auch mit Herz und Bauch, dass Jesu Hartnäckigkeit Methode ist? Gott rückt dem Menschen immer wieder auf die Pelle. Er meint mich. Mit allem Kranken. Mit allem Gebrechen. Mit aller Angst. Mit aller Sorge. Ich merke, mir tut es gut, mich daran erinnern zu lassen. Nichts anderes tun gläubige Juden bis heute, wenn sie sich immer und immer wieder daran erinnern, wie sie Gott – oft in tiefster Not – erfahren haben.
Auch wir können uns im Licht dieses Glaubens auf die Suche machen nach Gott, nach seinen Spuren in unserem Leben. Neugierig geworden? Dann lesen Sie diese Geschichten doch einfach mal nach. Beginnen Sie Ihre Schatzsuche beispielsweise mit dem Markus-Evangelium. Versetzen Sie sich in das Leben der Menschen, denen Sie da begegnen: den Schwachen und Zukurzgekommenen, den Erfolgreichen, den Kranken, den Gesunden, den Komischen, den Verrückten – all denen, die da sind. Vielleicht blicken Sie dort ja wie in einen Spiegel! Und sind mitten drin – in einem großen Abenteuer …
Alexander Bergel
14. Februar
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Predigt am 5. Sonntag im Jahreskreis
zu Ijob 7,1-7
Warum? Immer wieder ist es diese eine Frage. Ijob, dessen Name für schier grenzenloses Leid steht, dieser Ijob klagt: „Monde voller Enttäuschung wurden mein Erbe, und Nächte voller Mühsal teilt man mir zu!“ Warum? Ja, warum, Gott, warum? Eine Antwort? Fehlanzeige. Immer wieder. Damals wie heute. Vielleicht hilft ein Blick auf Jesus weiter: „Die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt, und er heilte viele, die an allen möglichen Krankheiten litten.“ Menschen heilen – das tut er. Immer wieder. Jesus sieht in all dem das machtvolle Handeln Gottes. Und so ist für ihn ganz klar: „Lasst uns anderswohin gehen, damit ich dort predige. Denn dazu bin ich gekommen!“ Jesus gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Er geht zu den Menschen. Spricht mit ihnen. Und handelt. Jesus berührt die Leute. Mit Worten. Und Taten. Er lässt sie spüren: Gott ist da. In allem – und trotz allem.
Könnte das eine Richtung sein? Nach Gottes Spuren suchen: in allem – und trotz allem? Könnte eine Spur vielleicht sein, sich den eigenen Brüchen, den eigenen Grenzen zu stellen, nicht wegzulaufen und ehrlich, wirklich ehrlich zu fragen: Was sagt mir diese Grenzerfahrung? Konkret: Was geht mir an die Nieren? Wo fehlt mir die Luft zum Atmen? Was schlägt mir auf den Magen? Was beugt mich nieder? Was lässt mein Herz rasen? Was mich verstummen? Und weiter: Begegnet mir Gott vielleicht auch dort? Auch wenn er das Leid nicht weg nimmt? Ja, Sie haben Recht – in der Theorie hört sich das alles ganz schön an. Aber wenn ich dann so da sitze in meinem Elend … Und eines muss auch klar sein: Oft genug sind Krankheiten nur eines: völlig sinnlos!
Zu den wohl schlimmsten Erfahrungen eines Lebens gehört sicher die Diagnose einer lebensbedrohenden, vielleicht sogar tödlichen Krankheit. Von einem Augenblick auf den nächsten ist dann alles anders. Die Welt um einen herum fängt an, sich zu drehen. Man weiß gar nichts mehr. Und oft geht dann alles sehr schnell. OP, Warten auf den Befund, Unsicher-heiten zuhauf, wieder Warten, Angst. Die Nacht nach der Diagnose – die Hölle. Und eine Frage lässt nicht lange auf sich warten: Warum? Der rationale Teil sagt einem: Darauf gibt es keine Antwort. Aber das Herz – es will eine!
Solche Nächte – sie sind quälend lang. Menschen berichten aber auch, dass diese Nächte zu den intensivsten ihres ganzen Lebens geworden sind. Alles geht einem durch den Kopf. Alles Suchen und Fragen, alles Leid und Glück, die vielen Menschen, die einem etwas bedeuten, alle Schuld auch – und die Angst vor dem Tod. Einen kenne ich, der diese Erfahrung gemacht hat: „Als es dann langsam Morgen wurde, war ich plötzlich ruhig. Bis heute weiß ich nicht, warum. Ich konnte sagen – und zwar überhaupt nicht verschroben-frömmlerisch: Wie es kommt, so kommt es. Auf dich, mein Gott, vertraue ich, in deine Hände lege ich mein Leben. Es hört sich fromm an, sehr fromm“, gibt er zu, „und gerade deshalb“, so fährt er fort, „gerade deshalb würde ich das so nie sagen – wenn ich es nicht selbst erlebt hätte … Diese Krankheit hat mein Leben verändert. Das merke ich. Bis heute.
Dieser Mensch ist wieder gesund geworden. Manch anderer wird das nicht. Aber selbst dann bleibt Menschen dieser Gott. Ein Gott, der zuhört. Und auf geheimnisvolle Weise neue Wege zeigt. Immer wieder gibt es Menschen, die das so unterschreiben würden – selbst wenn sie wissen: Ich werde sterben. Die Frage nach Gott und dem Leid – sie bleibt eine, vielleicht sogar die Frage unseres Lebens. Nicht immer gibt es eine Antwort darauf. Oder vielleicht doch?
Alexander Bergel
7. Februar
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Predigt am Fest der Darstellung des Herrn
zu Lk 2,22-40
Ich tue es nicht gerne. Aber es muss sein. Am Mittwoch räume ich sie weg: meine Krippe. Und mit ihr das letzte Bisschen Weihnachtsgefühl. Wenn ich mich gerade dran gewöhnt habe, dass Weihnachten wirklich vorbei ist, dann feiern wir doch noch mal ein weihnachtliches Fest: das heutige nämlich, Darstellung des Herrn. Noch einmal weihnachtliche Lieder hören, noch einmal ein bisschen Gefühl, noch einmal der kleine süße Jesus. Doch stopp – ganz so süß ist das alles gar nicht. Was genau feiern wir eigentlich an diesem Tag? Wir feiern, dass sich die Sehnsucht zweier alter Menschen erfüllt: Simeon und Hanna. Ein Leben lang hatten sie darauf gewartet, den Messias zu sehen. Sie haben allen Ernstes ihrem Gott geglaubt. Geglaubt, dass er sich in ihrem Leben zeigt! Das muss man erst mal durchhalten. Ein ganzes Leben lang! Wie schwer fällt es mir manchmal, eine Krise durchzustehen. Oder schwere Momente. Momente, in denen ich mich frage: Ist der Weg, den ich gehe, der richtige? Ist der Gott, an den ich glaube, der echte? Ist das Leben, das ich führe, ein vernünftiges?
Weihnachten erinnert mich daran: Gott wagt einen neuen Anfang mit seiner Welt. Und mit mir. Er kommt in unsere Dunkelheiten. Er stellt sich an unsere Seite. Ja, er geht auf Tuchfühlung mit uns, um zu wissen, wie das Leben läuft. Um genau das nicht zu vergessen, ist das Jahr mit vielen weihnachtlichen Festen durchzogen: Am 25. März – neun Monate vor der Geburt Jesu – feiern wir, dass Gott den Menschen ernst nimmt. Er kommt nicht einfach so in diese Welt, überrumpelnd. Nein: Nur weil ein Mensch „Ja“ sagt – Maria nämlich –, nur weil sie mit Gott an einem Strang zieht, kann das Vorhaben „Erlösung der Welt“ beginnen. Am 24. Juni feiern wir die Geburt Johannes des Täufers, ein weiteres weihnachtliches Fest. Gott braucht Menschen, die auf ihn zeigen. Menschen, die darauf aufmerksam machen: „Guck mal da, da ist er, dein Gott.“ Ohne solche Menschen hätte ich ihn vielleicht nie gefunden … Am 2. Juli – der nächste weihnachtliche Vorbote: Maria Heimsuchung. Die schwangere Maria kann ihre Freude nicht für sich behalten. Sie geht übers Gebirge zu ihrer Verwandten Elisabeth. Ja, die Berg- und Talfahrt des Lebens beginnt. Und das ziemlich schnell nach der umwerfenden Gotteserfahrung, die Maria durch den Engel hatte. Da ist es gut, Menschen zu haben, zu denen man gehen kann. Menschen, die einen verstehen, weil sie Ähnliches erlebt haben. So wie Elisabeth, die Mutter Johannes des Täufers.
Und heute nun: Darstellung des Herrn, das letzte der weihnachtlichen Feste. Bevor er groß wird und der Welt seinen Gott verkündet, begibt Jesus sich als kleines Kind in den Tempel, in das Haus seines Vaters. Eine Geschichte nicht nur, aber auch für Enkel und Großeltern. Vor 40 Jahren ist mein Opa gestorben. An vieles von ihm kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an eines: Er saß oft am Fenster und schaute auf den Friedhof in Ostercappeln, der neben seinem Garten lag. Heute weiß ich, dass er oft betete. Und nachdachte, wie es wohl nach dem Tod wäre. Voller Sehnsucht wartete er darauf, Gott begegnen zu können. Für mich ist er wie der Simeon im Tempel: ein Leben lang bereit, suchend, voller Sehnsucht nach Leben.
Vielleicht lasse ich sie doch noch ein paar Tage länger stehen: meine Krippe. Denn sie erinnert mich an Vieles. Die Krippe erinnert mich daran: Gott braucht Dein „Ja“, um Deine Welt zu verändern. Gott begegnet Dir in Menschen, die auf der Berg- und Talfahrt ihres Lebens Ähnliches erlebt haben wie du. Gott wird erkennbar, wenn andere Dir zeigen, wo sie ihm begegnet sind. Und Gott erfüllt die Sehnsucht derer, die alles auf eine Karte setzen. Menschen wie Simeon oder Hanna oder mein Opa.
Alexander Bergel
2. Februar
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Predigt am 4. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 1,21-28
Unangenehm muss das gewesen sein, damals in der Synagoge. Dorthin hatte er sich verkrochen, dieser arme Irre. Und jetzt wittert er seine große Stunde. Der Mann, der von einem unreinen Geist besessen war, beginnt zu schreien: „Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen?“
2000 Jahre später. Sonntag Morgen ist es. Wer in der Kirche sitzt, erlebt: Alles läuft schön nach Plan. Alles in allem angenehm, ja fast gemütlich. Was, wenn jetzt jemand käme, der das alles kaputt macht? Würden wir sofort die Polizei rufen oder solch einen Menschen „nur“ durch kollektive Verachtung strafen?
Jesus in der Synagoge reagiert so: „Er befahl: ‚Schweig und verlass ihn!’ Der unreine Geist zerrte den Mann hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei.“ Wer hätte das gedacht: Jesus lässt sich herausfordern. Er lässt sich in Frage stellen. Jesus ignoriert den Kranken nicht. Ganz im Gegenteil: Er nimmt ihn ernst. Und er geht noch einen Schritt weiter: Jesus nennt die Krankheit dieses Menschen beim Namen: Er vertreibt den unreinen Geist – wie es in der Sprache der Bibel heißt.
Immer mal wieder begegnen auch mir solche Menschen. Menschen, die krank sind. Krank im Kopf. Krank im Herzen. Und fast immer fühle ich mich schlecht: Wie gehe ich mit ihren Aggressionen um? Wie reagiere ich auf ihre Vorwürfe? Wie kann ich überhaupt mit denen reden? Wie verhalte ich mich gegenüber Alkohol- und Drogenabhängigen?
Solche Menschen, sie stellen mich in Frage. Meine schöne geordnete Welt! Sie konfrontieren mich mit dem Leben, wie es eben auch ist: krank, arm und elend. Heraus-Fordernd sind sie, diese Menschen – und das in einem doppelten Sinn: Sie fordern mich heraus zu fragen: Was ist im Leben wirklich wichtig? Und sie zeigen mir: Mensch, auch dein Leben ist verletzlich. Auch du bist nicht nur stark.
Dass Jesus am Anfang seines öffentlichen Wirkens einen psychisch Kranken heilt, ist wohl kein Zufall. Seelisches Leiden, Besessenheit, Sucht – all das ist immer auch ein Anzeichen für die tiefe Sehnsucht nach Leben, nach Geborgenheit, nach Liebe – und letzten Endes auch nach Gott.
Obwohl wir Gott nie gesehen haben
– so der Theologe und Dichter Ernesto Cardenal –,
obwohl wir Gott nie gesehen haben,
sind wir wie die Zugvögel,
die – an einem fremden Ort geboren –,
doch eine geheimnisvolle Unruhe empfinden,
wenn der Winter naht,
eine Sehnsucht nach der frühlingshaften Heimat,
die sie nie gesehen haben
und zu der sie aufbrechen,
ohne zu wissen, wohin.
Vielleicht gehört das auch zu dem, was wir von den „Besessenen“ unserer Tage lernen können: Auf unsere Sehnsucht nach der frühlingshaften Heimat zu achten, die wir nie gesehen haben.
Traue ich mich das? Traue ich mich, meiner tiefsten Sehnsucht Raum zu geben? Nehme ich mich so, wie ich bin? Oder muss ich so sein, wie andere mich haben wollen? Kann ich mir eingestehen, schwach zu sein? Oder spiele ich immer den Starken? Jesus ist da ziemlich klar. Und wir?
Alexander Bergel
31. Januar
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Predigt am 3. Sonntag im Jahreskreis
zu Mk 1,14-20
Simon
Andreas
Jakobus
Johannes
Kommt her, folgt mir nach!
Alles liegen lassen. Und weg.
Herr Meyer
Frau Müller
Oma Inge
Kevin
Schon, aber
ich muss auf meine Stellung achten.
Schon, aber
meine Verlobte mag das nicht.
Schon, aber
dafür habe ich keine Zeit.
Schon, aber
ich riskiere zu viel.
Schon, aber
was werden die Leute sagen?
Schon, aber
meine Eltern sind anderer Meinung.
Schon, aber
ich müsste mich engagieren.
Schon, aber
ich bin schon so oft frustriert worden.
Schon, aber
man kann auch so ein guter Mensch sein.
Vielleicht nächste Woche.
Alexander Bergel
24. Januar
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Predigt am 2. Sonntag im Jahreskreis
zu 1 Sam 3,3b-10.19 und Joh 1,35-42
Diese Worte ändern alles. Egal ob mitten in der Nacht gesprochen oder zur zehnten Stunde, also nachmittags um 4. Der kleine Samuel im Tempel hört eine Stimme. Andreas und Petrus sehen einen Menschen. Der eine ist innerlich ganz zappelig und bleibt am Ball, um heraus zu finden, wer denn da ruft. Die anderen beiden gehen einfach los. Zu Jesus nach Hause. Dort die Frage: Was wollt ihr? Ja, manchmal muss man sich das wohl fragen. Was will ich eigentlich? Was will ich hier? Und was will ich von Gott? Doch – wie finde ich das heraus? Selbst im Glauben Geübte wissen nicht sofort Bescheid. Siehe Eli, der weise Mann im Tempel. Und auch die forschen Gott-Sucher müssen sich Zeit nehmen und Eindrücke sammeln. Siehe Andreas und Petrus.
Glauben braucht Zeit. Und Glauben braucht ein offenes Ohr. Glauben braucht die von manchen gefürchtete, von anderen ersehnte Stille. Glauben erfordert Mut. Und die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen. Wer glaubt, traut seiner Sehnsucht. Und hofft auf die Begegnung mit einem wunderbaren Gegenüber. Wer dieses Gegenüber kennenlernen, gar sein Leben mit ihm teilen will, der muss sich mit ihm auseinander setzen. Wer Gott erfahren will, sollte also die Bibel in seiner Nähe haben. Lesen. Einfach lesen. Immer wieder. Egal, ob ich verstehe, was da steht oder nicht. Immer wird es da ein Wort geben, das mich packt. Oder berührt. Oder Irritiert. Oder versöhnt. An Wunden rührt oder Heilung schenkt. Wer Gott erfahren will, der sollte auch keine Angst vor Menschen haben. Reden und schweigen. Da sein und hören. Unterstützen und ziehen lassen. Trösten, stärken – und lieben. Wer glaubt, erahnt bei all dem den menschen-freundlichen Gott.
Und der Alltag? Die eigene Hektik und die der anderen? Die vielen Sorgen? Die Kirche, die auch nicht mehr das ist, was sie mal war – oder noch nicht die ist, die sie sein könnte? Der Stress? Die Zwänge, die Argumente dagegen? Und überhaupt – wie soll das gehen? Keiner hat behauptet, Gott zu finden, gehe nebenbei, in der Wohlfühloase oder am besten mit Spiritualitätsdiplom. Nein, das nicht. Wenn du es versuchen willst, dann schaue nach, ob du dies hast: ein Herz, das sich nach Stille sehnt, und ein Ohr, das neugierig bleibt. Für’s erste wäre das schon eine ganze Menge. Und der Rest? Der geschieht nicht selten wie von selbst.
Alexander Bergel
17. Januar
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Predigt am Zweiten Sonntag nach Weihnachten
zu Joh 1,1-5.9-14
Keiner weiß, wie Gott ist. Keiner wird auch jemals Worte finden, um ihn wirklich zu beschreiben. Und doch versuchen es Menschen immer wieder. Ja, sie müssen es sogar tun. Denn wie soll ich mich jemandem nähern, von dem ich nicht mal eine Ahnung habe, wer er sein könnte?
Johannes, der Evangelist, versucht es auch. Er nähert sich dem Wesen Gottes mit dem griechischen Wort Logos. Logos bedeutet Weisheit, Wort, Geist, Sinn. Logos ist der Inbegriff aller positiven geistigen Kräfte. In Jesus von Nazareth, so die Botschaft des Johannes, hat diese geballte Kraft Gottes menschliche Gestalt angenommen: Das Wort, der Logos, ist Fleisch geworden.
Am Menschen Jesus von Nazareth sehen wir, wie Gott ist, wie wir uns ihn vorstellen können. In ihm ist Gott den Menschen nahegekommen, ist Gott sichtbar, berührbar und angreifbar geworden. Denn genau das hat Jesus getan: Er hat Menschen berührt und umarmt. Und das haben die, die mit ihm in Berührung gekommen sind, als ein Berührtwerden von Gott erlebt. Diese Erfahrung hat sie geheilt, versöhnt, wieder ganz werden lassen, ihnen die verlorene Menschenwürde zurückgegeben.
Wer im Glauben unterwegs ist, kann sich seiner Sache niemals ganz sicher sein. Wer im Glauben unterwegs ist, der kann aber auch nicht anders, als immer wieder Ausschau zu halten nach Zeichen für dieses große Gottesgeheimnis. Und die Erfahrung der vielen Gott-Sucher zeigt: Diese Zeichen lassen sich finden. Die Menschheitsgeschichte ist voll davon.
Damals in Betlehem, da blieb es nicht beim Zeichen. Und das Wort nicht beim Wort allein. Damals in Betlehem ging Gott einen entscheidenden Schritt weiter. Sein Wort bekam Hand und Fuß. Diese Hand ist es, die er uns auch heute noch entgegenstreckt. Greifen Sie zu! Denn Gottes Wort – es gilt!
Alexander Bergel
3. Januar
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Predigt zum Jahreswechsel
zu Lk 2,16-21
Was war das nur für ein Jahr. Unendlich viel ist geschehen! Von heute auf morgen hatte sich alles verändert. Erst kam da dieser Engel. Der Engel, der etwas Unglaubliches verkündete:
„Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären!“ Als sie es so langsam zu verstehen begann, Maria, die junge Frau aus Nazareth, da war er auch schon wieder weg, der Engel.
Wohin mit ihren Fragen, wohin mit ihrer Sorge, wohin mit ihrer Freude? Maria macht sich auf den Weg. Sie geht ins Gebirge zu Elisabeth, ihrer Verwandten. Die Berg- und Talfahrt des Lebens beginnt. Auf dem Gipfel angekommen – ein Gruß: „Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen!“ Auch hier wieder: Erstaunen. Maria, sie lässt sich berühren – und kann nicht mehr an sich halten: „Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.“ Jubel, Freude, tiefes Erleben: Gott ist da!
Aber dann: Heimwärts geht es – mit einer Frage im Gepäck: „Wie sag ich’s Josef – das mit dem Kind? Wird er mir glauben?“ Josef: Er zögert zwar. Er ringt mit sich. Vielleicht auch mit Gott, sicher mit seiner Frau. Aber: Er bleibt. „Gemeinsam schaffen wir das!“ So etwas mag er wohl gesagt haben. Endlich Ruhe und Sicherheit! Aber die währt nicht lange.
Wieder etwas Unerwartetes geschieht: „In jenen Tagen erging ein Befehl von Kaiser Augustus, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen.“ Also wieder unterwegs. Wieder keine Ruhe. Wieder keine Sicherheit. Wo doch das Kind bald kommen würde … Aber es nutzt nichts. Nach langem Ritt, nach mühsamem Weg: endlich eine Herberge – egal was für eine.
„Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit der Niederkunft. Und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen.“ Was wird das wohl für ein Kind werden? „Können wir ihm eine Zukunft bieten? Wir armen Leute? Wird Gott uns helfen?“ Immerhin hatte der Engel den Hirten Großes verheißen. „Heute ist euch der Retter geboren. Er ist der Messias, der Herr!“ Wieder große Worte – was wird wohl daraus werden? „Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach.“
Der Engel. Der mühsame Weg. Die Freude der Begegnung auf Augenhöhe. Die unvermutete Umarmung. Die lebensbedrohliche Politik. Das Wunder in armseliger Umgebung. Der offene Himmel. Das war Marias Weg durch ihren Advent bis nach Betlehem. Das ist und bleibt der Weg durch unseren Advent. Bis nach Betlehem. Bis zu dem Ort, an dem uns gesagt wird: Du hast eine Zukunft.
Auch nach diesem Jahr. Nach einem Jahr, in dem unendlich viel geschehen ist. In der großen und in unserer kleinen Welt. Ein Jahr, wie es wohl keiner von uns je zuvor erlebt hat. 365 Tage Leben und Sterben, Lachen und Weinen, Hoffnung und Trauer, Frieden und Krieg, 365 Tage Glück und Leid, Liebe und Hass, Fragen und Antworten, Glauben und Zweifel.
Vielleicht haben Sie es in den vergangen Tagen so gemacht wie Maria. Geschaut, was war. Nachgedacht. Losgelassen. Vielleicht haben Sie manches ganz neu in den Blick genommen. Vielleicht sind Ihnen manche Menschen noch fremder geworden. Andere aber plötzlich ganz nahe gekommen. Vielleicht ist Ihnen aufgegangen, wie Sie Gott schmerzlich vermissen. Oder wie Sie ihm ganz nahe gekommen sind. Vielleicht haben Sie mehr Fragen entdeckt, als dass sich Antworten finden ließen.
Was auch immer in Ihrem Leben los ist: Diese Tage sind voll von einem einzigen Versprechen: „Egal, was war – egal, was kommt. Ich gehe mit dir durch Dick und Dünn. Erinnere dich an die Wunder, die du schon erlebt hast. Und glaube mir, dass ich der Gott deines Lebens bleibe, komme, was kommt!“ Also: Augen auf im neuen Jahr! Das Wunder – es geht weiter.
Alexander Bergel
31. Dezember
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Predigt am Weihnachtsfest
zu Lk 2,1-15
Einen unpassenderen Zeitpunkt kann man sich kaum vorstellen. Immerhin ist sie schwanger. Doch es nutzt nichts. Sie müssen los. Protestieren? Keine Chance. Der Kaiser will es so. Also machen sie sich auf den Weg. Nach Betlehem. Und lassen sich eintragen. In Listen. – In diesen Tagen bleiben am besten alle zuhause. Einen unpassenderen Zeitpunkt könnte es auch dafür nicht geben. Immerhin ist Weihnachten. Protestieren? Nutzlos. Denn der Befehl kommt wiederum von ganz oben. Die Regierung hat es angeordnet. Viele halten sich auch daran. Und wer doch rausgeht – zum Beispiel hierher –, muss sich eintragen lassen. In Listen.
Was für verrückte Zeiten! Hätte man mir vor einem Jahr gesagt, dass ich mal Fachmann im Erstellen und Ausfüllen von Listen würde, hätte man uns gesagt, dass wir die Worte Inzidenz, SARS-CoV-2 oder Virus-Variante im Schlaf würden aussprechen können, hätte man uns gesagt, zu welchen Verwerfungen, Vorwürfen und steilen Thesen es in unserem Lande einmal kommen würde, hätte man uns gesagt, wie viele Menschen Angst ums nackte Überleben haben und in welch noch größeres Elend weite Teile dieser Erde gestürzt würden, weil ein Virus die Welt in Atem hält – nur wenige hätten es geglaubt. Aber genau so ist es gekommen.
Die Welt steht Kopf. Menschen haben Angst. Um Freunde. Um Angehörige. Ums eigene Leben. Menschen fragen nach dem Sinn. Wollen verstehen, was passiert. Wollen Lösungen finden. Halten die Enge einfach nicht mehr aus. Können es nicht ertragen, allein zu sein. Oder fühlen sich vom Staat bevormundet. Eine Welt im Strudel der Pandemie. Unsere Gesellschaft – eine der reichsten der Erde – gelangt an ihre Grenzen. Und dann wird Weihnachten. Einfach so. Doch was genau bedeutet das? Also: Was bedeutet es wirklich? Wir schauen auf ein Kind. Nichts weiter. Gott hat offensichtlich eine Schwäche für klare Ansagen. Denn klarer geht’s wirklich nicht: Wer ein Kind anschaut, wer es in die Arme schließt, wer sich von ihm anrühren lässt – der kann doch gar nicht anders, als neuen Mut zu fassen, oder? Gott wählt diesen Weg. Er hätte tausend andere nehmen können. Aber nein: Er wird ein Kind. Doch dieses Kind – es fällt nicht vom Himmel.
Selbst wenn die uralte Geschichte, die uns alle Jahre wieder verzaubert, märchenhafte Züge aufweist: Jesus ist kein Märchenprinz. Ganz im Gegenteil. Jesus kam auf der Straße zur Welt. Nicht im sicheren Zuhause. Jesus hat die Welt am eigenen Leib erfahren. Hat gespürt, wie sich Hunger anfühlt. Hunger nach Brot. Hunger nach Liebe. Hunger nach erfülltem Leben. Das hat ihn geprägt. Und seine Eltern wohl auch. Maria und Josef – zwei Menschen, die ihren Verstand eingeschaltet haben und nicht einfach so irgendwem hinterhergelaufen sind. Aber sie haben sich bewegen lassen. Nicht nur durch den Kaiser. Und damit schon das vorgelebt, was der erwachsene Jesus allen Menschen ins Stammbuch schreiben sollte: Bleib nicht stehen! Brich auf! Bewege dich! Und dann rechne damit, dass du in allem, was geschieht, Gott begegnen kannst. Nicht im Paradies oder in der Wellness-Oase. Nein, da, wo das Leben tobt. Wo es so ist, wie es nun mal ist.
Wir feiern Weihnachten. In einem Jahr, das viele an ihre Grenzen gebracht hat. Wir feiern Weihnachten und schauen dabei auf jene Grenze, die Gott überwunden hat. Er kommt zu uns. Mit seinem Lächeln und seiner Liebe. Mit seiner Kraft und seiner Zärtlichkeit. Mit seinem Anspruch und seiner Ermutigung. Und mit einem Versprechen. Und dieses Versprechen heißt: Du wirst nicht untergehen! Und wenn wir irgendwann – wir werden es erleben, seien Sie sicher! –, wenn wir irgendwann keine Listen mehr ausfüllen, keine Kontakte mehr einschränken und unsere Lieben wieder umarmen dürfen – dann könnte uns das eine Ahnung davon schenken, wie es sich anfühlt, wenn Gott uns seine Nähe schenkt. Auf seiner Liste stehen wir nämlich ganz oben!
Alexander Bergel
24. Dezember
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Predigt am 4. Adventssonntag
zu Lk 1,26-38
Wir haben in unserer Pfarrei den diesjährigen Advent unter das Motto „Advent ist eine Zeit der Erschütterung“ gestellt und auf verschiedene Weise beleuchtet, was diese Sentenz für uns hier heute konkret bedeuten könnte. Das Zitat stammt bekanntlich von dem weltweit berühmten Jesuitenpater Alfred Delp, und es lautet im Ganzen: „Advent ist […] eine Zeit der Erschütterung, in der der Mensch wach werden soll zu sich selbst.“[1] Ich meine, es bietet sich an, am heutigen vierten Adventssonntag – und in der gespannten Erwartung auf das nahende Weihnachtsfest – einmal etwas ausführlicher an den Urheber unseres Advents-Mottos zu erinnern, auch deshalb, da sich der dahinter stehende Gedanke schließlich mit einer Kernaussage des heutigen Evangeliums verschränkt: Maria, die sich von Gott berufen lässt.
Alfred Delp gehörte im Zweiten Weltkrieg zu den wichtigsten Gesprächspartnern des Kreisauer Kreises; einer Gruppe oppositionell gesinnter Männer und Frauen, die sich formiert hatte, um Grundsätze einer geistigen, politischen und sozialen Neuordnung für die Zeit nach dem erhofften und erwarteten Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes zu erarbeiten. Nach dem gescheiterten Umsturzversuch am 20. Juli 1944 gelangten schnell auch die Angehörigen des Kreisauer Kreises ins Visier der NS-Behörden, und so wurde auch Alfred Delp bereits am 28. Juli 1944 – nach der Feier der Frühmesse – von der Gestapo verhaftet. Für Delp bedeuteten die dann folgenden Monate der Gefangenschaft eine Zeit zwischen Schwermut, Depression und ungebrochenem Lebenswillen; die nicht nur geprägt war von der Sorge um sein eigenes Leben, sondern auch um das Leben seiner Mithäftlinge und Gefährten, die Zukunft seiner Ordensgemeinschaft, die Zukunft der Deutschen als Gesellschaft – während ihn die Verfolger – auch und gerade wegen seines christlichen Bekenntnisses – durch Isolationshaft und quälende Verhöre zu zermürben suchten. Als Nachgeborene kennen wir den Ausgang dieser Geschichte und wissen, dass Alfred Delp am 11. Januar 1945 wegen angeblichen ‚Hoch- und Landesverrats‘ zum Tode verurteilt wurde. Das Urteil wurde kurz darauf am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee vollstreckt. Dass dieses Datum mit dem Festtag Maria Lichtmess zusammenfällt, ist natürlich nur Zufall; erscheint mir aber dennoch erwähnenswert.
Trotz der widrigen Umstände seiner Gefangenschaft hat Alfred Delp in der Enge seiner Gefängniszelle einen Teil der Schriften verfasst, die heute sein Vermächtnis bilden. Sie geben ein eindringliches Zeugnis von seinem Wunsch und Streben, immer tiefer in die Nachfolge Christi hineinzuwachsen. So notiert er etwa am 1. Januar 1945 ganz ‚jesuitisch‘ in sein Tagebuch: „Ich will mich Jesus zugesellen als ein Treugeselle und Liebender.“[2] Und er fügt hinzu, dass diese Nachfolge vor allem eine Leidenschaft bezeichne, „eine Leidenschaft […] des Glaubens, der Hingabe, des Strebens, des Dienstes.“[3]
Delps Leidenschaft für die ‚Sache Jesu‘ kommt auch in seinen Adventsmeditationen zum Ausdruck, die während seiner Haftzeit entstanden sind. Die Meditationen tragen den Titel Adventsgestalten und sie beginnen mit dem Satz: „Advent ist eine Zeit der Erschütterung, in der der Mensch wach werden soll zu sich selbst.“ Was aber bedeutet das? Delp erläutert: Damit der Mensch zu sich selbst findet, damit er zu der ‚Fülle‘ gelangt, zu der er gerufen und fähig ist, muss er, „die anmaßenden Gebärden und verführerischen Träume“[4] ablegen, mit denen er sich immer wieder etwas vormacht. Diesen Prozess, in dem sich der Mensch von seiner Überheblichkeit, seiner Vermessenheit, seinen Illusionen befreit, beschreibt Delp als ein ‚erschütterndes Erwachen‘. Doch ist der Mensch dabei nicht allein; im Advent begleiten ihn Gestalten, die ihm den Weg weisen, die ihm zum Vorbild werden können.
Die zentrale Gestalt ist für Delp in diesem Zusammenhang Maria, die uns im heutigen Evangelium begegnet. Während die heutige Theologie zu Recht Marias Rolle als Prophetin hervorhebt – die u. a. darin zum Ausdruck kommt, dass sie, nachdem sie der Engel verlassen hat, im Magnificat das ihr übermittelte Gotteswort öffentlich macht –, konzentriert sich der Theologe Delp, wie es zu seiner Zeit üblich war, stärker auf den ‚Gehorsam‘ Marias und die Bedeutung der Gottesmutterschaft. Aber ebenso wie die ‚moderne‘ Theologie betont auch Delp die Verkehrung der irdischen Herrschaftsverhältnisse, die mit Marias ‚Ja‘ zu Gott – ihrer bewussten Nachfolge – verbunden ist. Er schreibt: „Die Frau hat das Kind empfangen, es unter ihrem Herzen geborgen und hat den Sohn geboren. Die Welt ist in ein anderes Gesetz geraten.“[5]
Maria als Gestalt des Advent: Wie Maria offen werden für die Verheißungen Gottes. Wie Maria Gottes Wort verkünden. Wie Maria Gott nachfolgen. Darin liegt die Kraft der Veränderung. Daran können wir uns halten. Vielleicht ist es zuvor nötig, dass wir uns erschüttern lassen und wach werden zu uns selbst. Die Gelegenheit dazu ist günstig. Denn es ist ja Advent.
[1] Alfred Delp: Im Angesicht des Todes. Geschrieben zwischen Verhaftung und Hinrichtung 1944–1945, hg. von Paul Bolkovac, Frankfurt am Main 1947, S. 27.
[2] Ebd., S. 19.
[3] Ebd.
[4] Ebd., S. 27.
[5] Ebd., S. 31.
Maria Schmiegelt
20. Dezember
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Predigt am 3. Adventssonntag
zu Jes 61,1-2a.10-11
Zum Einstieg hören Sie die Titelmelodie des Weihnachtsmärchens
Kleider machen Leute! Schimmel Nikolaus, der Hund Kasperle und eine Schmuckschatulle, die von der Eule Rosalie bewacht wird, sind alles, was Aschenbrödel nach dem Tod ihrer Eltern geblieben ist. Das Waisenkind lebt bei der herrischen Stiefmutter, die den Gutshof des Vaters an sich gerissen hat. Die Stiefmutter und ihre leibliche Tochter Dora erniedrigen Aschenbrödel nach Kräften und behandeln sie wie eine Magd.
Wir kennen es, das Märchen „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Ein Klassiker der Advents- und Weihnachtszeit. Im Vordergrund der Geschichte stehen zwei Menschen – das Aschenbrödel und der Prinz. Und drei Haselnüsse. Und drei Wünsche. Im Märchen geht es aber auch immer um Kleidung. Die fesche Jagdkleidung der jungen Frau, das schöne Ballkleid samt verlorenem Schuh oder später das Brautkleid. Und es gibt in diesem Märchen natürlich ein Happy End! Der Prinz heiratet das Aschenbrödel.
Auch das dritte Jesaja-Buch spricht heute von Kleidern – von Gewändern des Heils und vom Mantel der Gerechtigkeit. Nur dass Jesaja diese Art der Kleidung mit den persönlichen Erfahrungen der Menschen seiner Zeit verbindet. Es sind die Jahre nach dem Babylonischen Exil. Das Volk – oder besser die Oberschicht des israelitischen Volkes – darf in die Freiheit zurück. Schluss mit der Unterdrückung! Die Worte des Jesaja sollen das Volk trösten, denn so wie es nun in ihrer Heimat aussieht, wird es kein schöner Anblick bei ihrer Rückkehr werden. Es erwartet sie ein trostloser Trümmerhaufen, ein Trümmerhaufen, der einst die Gottesstadt Jerusalem war. Erschütterung macht sich breit. Unbehagen und Skepsis mit Blick auf die Zukunft kommen noch hinzu. Jesaja darf ihnen aber im Auftrag Gottes Heil(ung) und Gerechtigkeit zusagen!
Ungefähr 2500 Jahre später, kurz vor seiner Hinrichtung am 2. Februar 1944 schreibt Alfred Delp den Satz: „Advent ist eine Zeit der Erschütterung, in der der Mensch wach werden soll zu sich selbst.“ Es ist die Überschrift unserer diesjährigen Adventszeit. Alfred Delp meint damit, dass es beim Ankommen des Gottessohnes auch auf mich ankommt! Auf jeden von uns! Und das gleiche meint auch Jesaja, wenn er schreibt: „Er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit.“ Nicht die schönen Kleider die ich äußerlich trage, machen mich aus. Seine Kleider sind Heil(ung) und Gerechtigkeit. Und es sollen die Kleider meines Inneren, meiner Seele sein! Auf dem Grund meiner Seele liegen vielleicht Dinge verborgen, die ich nur allzu gerne vergessen möchte, nur allzu gerne ausblenden und ignorieren möchte. Es ist wie ein Weglaufen vor mir selbst, eine Erschütterung – meine Erschütterung!
Advent ist die Zeit der Erschütterung, in der ich wach werden soll zu mir selbst! Nur im Wach-Sein, also im Erkennen meiner Schwächen, im „Ihm Hinhalten meiner Fehler“ werde ich Freiheit erlangen. Das, was ich für Gerechtigkeit halte, muss ich immer wieder auf den Prüfstand stellen! (In der Tageslesung vom ersten Advent nennt es Jesaja „Unsere Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid …“) Meine Gerechtigkeit hat das Bestreben nach Ausgleich, nach der gerechten Behandlung durch andere mir gegenüber, nach der Antwort auf meine Frage: „Und wo bleibe ich dann …?“ Auch die schnell dahin gesagten Lebensweisheiten Einzelner oder ganzer Gruppen, wenn es um Gerechtigkeit geht, müssen immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden – so schwer das auch sein mag. Mein persönliches Gerechtigkeitsempfinden kann weit von dem entfernt sein, was wirklich gerecht ist!
Ist es gerecht, wenn es uns hier in Deutschland so gut geht? Ist es gerecht über ausgefallenen Urlaub in der Pandemie zu jammern? Ist es gerecht, an unseren Grenzen Menschen abzuweisen, die unschuldig durch Krieg, Vertreibung und Hass fast nichts mehr haben als ihr Leben? Ist es gerecht, Millionen von Impfdosen für unsere Gesellschaft zu sichern, damit wir möglichst schnell aus der Pandemie heraus kommen (was ich sehr gut verstehen kann)? Aber ist es auch gerecht, dass sich andere Menschen, die nicht in einem europäischen Wohlstandsstaat leben, wahrscheinlich keinen oder nicht genügend Impfstoff leisten können?
Ja – es können unbequeme Fragen auftauchen, wenn es um Gerechtigkeit geht! Gottes Gerechtigkeit ist nie Ausgleich im menschlichen Sinne. Gottes Gerechtigkeit macht Sie (macht mich) g-e-r-e-c-h-t! Sie ist die innigste Beziehung zwischen Gott und mir! Sie richtet mich auf! Sie stärkt mir den Rücken! Sie wärmt mich, wenn meine Seele friert! Und – sie führt mich zur Freiheit! Und in dieser Freiheit kann ich wiederum anderen den Rücken stärken, sie aufrichten und ihnen menschliche (und vielleicht auch bereits) göttliche Wärme schenken! Kleider machen – vielleicht – Leute! Kleider des Heils und Kleider der Gerechtigkeit machen uns Christen aus! Finden Sie nicht auch?
Gregor Kleine-Kohlbrecher
13. Dezember
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Predigt am 2. Adventssonntag
zu Jes 40,1-5.9-11
Welche Begriffe, welche Bilder tauchen in eurem / in Ihrem Kopf auf, wenn ihr an die erste Lesung denkt? Mir sind folgende Begriffe aufgefallen: TROST – WEG – FREUDE – MACHT – NÄHE – getragen bzw. umfasst vom Berg ZION, von JERUSALEM. Diese Begriffe können uns eine Annäherung an die Worte ermöglichen, die Jesaja an das Volk Israel spricht, Israel im Exil in Babylon – 70 Jahre lang – zwei Generationen, also gefühlt ohne Ende …
TROST: Jesaja darf das Volk Israel trösten, er hat von Gott den Auftrag, ihm Hoffnung zu geben: ein Ende des Exils ist in Sicht!
WEG: Dann die Aufmunterung, der Zuspruch: Es gibt einen Weg durch die Wüste, den „Weg des Herrn“ – verbunden mit dem Aufruf: Helft mit, geht mit, bereitet den Weg vor, macht es möglich ihn zu gehen – im Bild das Tal heben, Berge senken – macht ihn also begehbar! Der Zuspruch meint: Lasst euch drauf ein, denn Gott ist bei euch, die „Herrlichkeit des Herrn“.
FREUDE: Die Freude steht im Mittelpunkt – als Beobachtung, als Zuspruch, als Vision! In diesen Versen leuchten alle Hoffnungen, alle Visionen, alle Träume des Volkes Israel auf: Jerusalem, freue dich, denn bald wird das Volk Israel wieder bei dir sein! Wer jemals in Jerusalem gewesen ist, auf dem Berg Zion, wird die Gefühle, die Sehnsüchte ein kleines Stück nachempfinden können, die Jesaja mit diesen Rufen im Volk Israel auslöst, also Hoffnung und Ansporn: Erinnert euch!
MACHT: Die beiden letzten Begriffe scheinen zunächst gegensätzlich. Die ersten Verse klingen so „schön“ – aber es braucht die Macht Gottes. Das Volk Israel ist mit Gewalt ins Exil geschleppt worden, und nun braucht es die Macht Gottes, um befreit zu werden – Vertrauen auf die Stärke, auf die Macht Gottes – das ist Jesajas Auftrag!
Das klingt aber so abstrakt, so hart – deshalb
NÄHE: Wie ein Hirt auf seine Schafe / Lämmer achtet – jedes einzelne nimmt er auf den Arm, holt es in seine Nähe, an seine Brust – so ist Gott euch nahe. Diese tief begründete Zuversicht will Jesaja dem Volk Israel verkünden. Hat uns dieser Jahrtausende alte Text, diese Worte des Propheten Jesaja heute noch etwas zu sagen? In dieser „Zeit der Erschütterung“? Wir sind doch gar nicht im Exil! Oder doch?
TROST: Sie bringen die Koffer und auf ihrem Weg verlieren sie Inhalt und Identität. Ich hatte ein Boot und hatte ein Haus. Von dem was ich hatte, blieb nur der Rauch. Offene Arme, Tritte vor die Tür. Ich mag dich sehr, aber nicht hier … Ich will nicht hier sein. So singen die Broilers 2014 über die Situation von Geflüchteten in Deutschland. Oder Nadin und Amir – im Flüchtlingslager nach ihrer gefährlichen Flucht auf einem Lastwagen – schlagen die Zeit tot. „Amir hatte Glück“, sagt Nadim. Denn ab und zu bringt ein Sozialarbeiter eine Gitarre mit. Dann vergisst Amir die Ödnis um sich herum und versinkt in Musik. Nadim läuft stattdessen dreimal täglich zu seinem Postfach, um zu sehen, dass es leer ist. Aber dann ist doch Post da. Die Jungs werden benachrichtigt, dass sie in einer Don-Bosco-Wohngruppe für unbegleitete Flüchtlinge leben sollen. „Kein Streit, nicht so eng und nicht mehr langweilig. Hier kannst du mit den anderen reden, wir machen was zusammen.“
WEG: Wir denken an den Weg, den viele Flüchtlinge auf sich nehmen, auf sich nehmen müssen – aber Jesaja spricht von einem Hoffnungsweg – heraus aus dem Exil – mit dem Zuspruch: es ist möglich, wenn Täler gehoben und Hügel gesenkt werden. Aber wer kann das heute tun? Vielleicht ein Aufruf / ein Anruf an mich? Menschen aus dem Exil – aus ihrer Heimatlosigkeit, aus der Einsamkeit herauszuholen, anzusprechen – den Weg aufzuzeigen – mitzugehen. Das gilt nicht nur für Geflüchtete, sondern auch für Einsame hier in unserer direkten Umgebung, jetzt in der Corona-Zeit.
FREUDE: Erzählt von Zion! Von Jerusalem, der Botin der Freude! Zurück in die Heimat – wie Grace aus Uganda, die jetzt als Lehrerin im Südsudan arbeitet: Heimweh? „Ach ich vermisse einfach meine Familie so sehr. Meine Kinder weinen, wenn ich anrufe. Hier war es echt schwierig. Während der Ausbildung wurde uns gesagt, wir müssten die Familien der Schüler zuhause besuchen. Aber es dauerte, bis ich mich das getraut habe. Manche Leute verhalten sich feindselig. Es gibt üble Geschichten, wie Ausländer hier behandelt werden. Sie wollen deine Ratschläge nicht annehmen, weil du aus einem anderen Land bist. …. Wenn alles gut geht, will ich noch ein Jahr hier unterrichten, bevor ich nach Uganda zurückgehe.“ „Zuhause ist für mich kein Ort, sondern ist dort, wo die Familie ist“, sagt Neda aus dem Iran, die froh ist, in Deutschland zu sein. Samir aus Afganistan nach harten Jahren in Deutschland mit Drogen und Kriminalität, hartem Entzug – hat nun eine Perspektive für sein Leben: wird mit 22 Jahren Vater einer Tochter, trainiert ehrenamtlich Jugendliche im Fußballverein – sein Motto: Setzt euch Ziele!“
MACHT: Versetz dich einfach mal in diese Lage! Stell dir vor, wie eines Morgens bewaffnete Mörder vor deiner Tür stehen, dich schlagen und dann deine Mutter, deinen Vater, deine ganze Familie …Würdest du bereit sein zu bleiben und zu erleben, wie diese Männer straflos bleiben? Stell dir vor, dass Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer Zugehörigkeit zu einer politischen Partei geköpft werden. Würdest du bereit sein, zu warten, bis du dran bist oder würdest du um dein Leben rennen? Stell dir vor, dass du eines Tages wegen deiner Meinung, wegen eines Gedichts oder eines Lieds, das Ungerechtigkeit und Verbrechen eines korrupten Regimes anprangert, verfolgt wirst – von eben dieser Regierung – Versetz dich einfach mal in diese Lage! In dieser Erfahrung von Trezor Nzungu aus dem Flüchtlingslager in Malawi fällt es schwer, von der Macht Gottes, von „seinem kraftvollen Arm“ zu sprechen – wie Jesaja es tut – zumal der Begriff „Macht“ auch bei uns in der Kirche nicht immer positiv besetzt ist.
NÄHE: Papst Franziskus predigt und lebt uns den Gott der Nähe vor – das, was Jesaja am Ende unserer Lesung als wundervolle Realisierung von Gottes Macht zeichnet: das Bild vom Hirten, der seine Lämmer an seiner Brust trägt. Er macht sich auf den Weg als erstes zu den Geflüchteten auf Lampedusa – zu den Obdachlosen in Rom, vor seiner Haustür – zu den Indigenen, den Verachteten in Lateinamerika: „Bitten wir den Herrn um die Gnade der Tränen über unsere Gleichgültigkeit, über die Grausamkeit in der Welt, in uns und in denen, die anonymisiert sozial-ökonomische Entscheidungen treffen.“
Auch Rupert Neudeck war jemand, der nicht weggeschaut hat, der die Not der Menschen nicht ausgeblendet hat, sondern ihre Nähe gesucht hat – ihnen Nähe gegeben hat. Und dieses Leben für andere habe ihm unheimlich viel Freude gemacht – so sagt Navid Kermani über ihn in seiner Traueransprache 2016.
Sind nicht wir alle angesprochen, wenn Jesaja von dem „Ertrag der Macht Gottes“ – von dem Hirten, der seine Lämmer auf den Arm nimmt, spricht? Jede / jeder von uns weiß, wie gut es tut, das zu empfangen, aber auch das zu geben, diese Nähe zu leben. Navid Kermani schließt seine Traueransprache mit: „Ich glaube, verehrte Trauergemeinde, es geht nur so, dass jeder von uns, jede einzelne künftig ein bisschen mehr trägt als bisher. Alleine schaffen wir das nicht.“
Wie Jesaja dem Volk Israel im Exil Hoffnung, Mut, Zuversicht vermittelt – getragen von dem wunderbaren Bild der Stadt Jerusalem – so können wir uns gemeinsam auf den Weg machen – zum anderen – zur Gestrandeten – zu den Einsamen – nicht wegsehen – sich betreffen lassen – aufmerksam sein – mitreden – nahe sein!!!!
Andrea Tüllinghoff
6. Dezember
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Predigt am 1. Adventssonntag
zu Mk 13,24-37
Bestimmt kennen Sie ihn: Loriot alias Vicco von Bülow. Er war einer der bekanntesten deutschen Humoristen, ein Künstler des Wortwitzes, der die verschiedensten Charaktere humorvoll beschrieb und Alltagssituationen karikierte. Wir möchten Ihnen heute eine Szene aus dem Film Papa ante Portas mit und von Loriot vorspielen. Vielleicht vorweg zum Inhalt: Herr Heinrich Lohse ist in den Vorruhestand geschickt worden. Nun versucht er sich im Haushalt einzubringen. Was dann doch zu einigermaßen chaotischen Zuständen führt.
Die Filmscene zeigt: Ein älteres Paar sitzt bei Familie Lohse auf dem Sofa. Herr Heinrich Lohse sitzt ihnen gegenüber. Das Paar beginnt das Gespräch: „Nach den Berechnungen des international anerkannten Professors Pirkheimer hat der Venusmond Tetra seine Umlaufbahn verlassen und rast auf die Erde zu. Sein Aufprall steht unmittelbar bevor. Dies bedeutet das Ende unseres Planeten.“ Herr Lohse reagiert darauf wie folgt: „Das kommt hier im Moment sehr ungelegen.“ Das Paar führt das Gespräch weiter: „Nur alle Menschen, die innerlich und äußerlich sauber sind, haben nichts zu befürchten.“ Danach versuchen sie, Herrn Lohse Wurzelbürsten zu verkaufen und drohen ihm an, jeden Donnerstag wieder zu kommen. Daraufhin fragt er schnell: „Wo muss ich unterschreiben?“
Haben Sie den Satz von Herrn Lohse noch im Ohr: „Das kommt hier im Moment sehr ungelegen“? Und sicher nicht nur Herrn Lohse, denn das, was uns hier in der Szene zum Schmunzeln bringt, wird, zwar mit anderen Worten, aber auch im Evangelium des heutigen Sonntags angedeutet: Der Weltuntergang. Dort heißt es: „In jenen Tagen wird sich die Sonne verfinstern und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden.“ Ist das Angstmache, wie es die beiden Herrschaften bei Loriot versuchen um ihre Bürsten und das Badesalz an den Mann zu bringen? Das klingt so, wie es in manchen Katastrophenfilmen ausgemalt wird, wo z.B. ein Meteorit auf die Erde stürzt und dann mit einem Mal alles dunkel wird. Weltuntergangsstimmung im Advent – passt das?
Im Evangeliums Text heißt weiter: „Dann man wird den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit kommen sehen.“ Das ist nun wieder adventlich, oder? Wir erwarten doch Christus! Advent heißt doch Ankunft – warten auf die Ankunft Jesu. Aber so? Und jetzt? Käme uns das nicht ungelegen? Mit Gott muss man immer rechnen aber er ist eben nicht be-rechen-bar. Auch wenn die Juden z. Zt. Jesu auf den Messias warteten, so hatte niemand mit dem Kommen Gottes gerechnet, schon gar nicht als Kind in einem Stall.
Und schon damals kam Gottes Sohn und die Radikalität seiner Botschaft der Nächstenliebe vielen Menschen ungelegen. Vor allem sein Tod am Kreuz war für seine Jünger damals, und ist es auch noch für viele heutige Menschen, unbegreiflich. Gottes Sohn selbst stirbt in scheinbarer Gottverlassenheit. Kann das ein liebender und den Menschen zugewandter Gott zulassen? Durch den Tod Jesu am Kreuz wird Gott und das Leid miteinander verbunden – hier zeigt sich das Wesen Gottes. Er ist dem Menschen gegenüber distanzlos, will uns nahe sein, mit seiner Liebe, mit seinem Trost.
Das Leid gehört zu uns Menschen! Es lässt sich nicht aus unserem Leben wegdenken. Und Krieg, Not, Katastrophen und Krankheiten kommen immer ungelegen, das zeigt uns auch die gegenwärtige Pandemie. Sie verstört und verunsichert Menschen, sie isoliert, sie ängstigt und schockiert. Ja, das kommt ungelegen und viele Planungen mussten über den Haufen geworfen werden. Hochzeiten mussten verschoben werden, der Urlaub wurden gecancelt und Geburtstagfeste fielen aus. Natürlich, das kommt uns ungelegen – aber nicht alles läuft nach unserem Plan.
Ich glaube nicht, dass Gott die Pandemie geschickt hat oder für anderes Leid verantwortlich ist, aber ich glaube, dass er sich darin finden lässt. Gott ist in der Nähe und in der Ferne, er ist in der Erfüllung unserer Wünsche, aber auch in ihrer Durchkreuzung. Er findet sich in der Schönheit wie in der Hässlichkeit, er ist im Humor und in der Trauer, er ist in Freude und im Leid. Er entspricht nicht immer unseren Vorstellungen, aber gerade das ist die Herausforderung des christlichen Glaubens: Gott gerade dort, wo wir ihn nicht erwarten, zu suchen und zu finden, auch oder gerade in Zeiten der Krise. Damit ist nicht das Prinzip gemeint: Not lehrt beten. Aber Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, um die Liebe in allen Bereichen des Lebens, in Freude und in Leid, neu zu entdecken. Seid also wachsam – denn ihr wisst nicht, wann – wo – oder wie der Herr kommt.
Gisela Schmiegelt
29. November
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Predigt im Rahmen der Aktionswoche
»Frauen verkünden das Wort«
zu Spr 31,10-31
Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging, als Sie die heutige Lesung gehört haben. Ich muss gestehen: Ich habe gehört, wie eine Frau beschrieben wurde, bei deren Bild mir fast der Atem stehen bleibt: tüchtig, fleißig, ein Gewinn für ihren Mann und ihr Umfeld. Und dann auch noch gottesfürchtig. Und das natürlich alle Tage ihres Lebens. Wow! Was für eine Frau! Oder? Kennen Sie eine solche Frau? Wenn Sie, gerade als Mann, jetzt nicken, dann ehrt sie das sicherlich. Wenn Sie, als Frau, die Stirn runzeln, zeigt das zumindest Ihren gesunden Realismus. Denn, bei Licht betrachtet, werden wir zugeben müssen, dass uns das Buch der Sprichwörter keine Frau des Alltags vor Augen stellt. Oder? Ich persönlich finde mich zumindest nicht wieder in dieser biblischen Darstellung. Zu hoch hängt für mich die biblische Latte: Ich bin weder immer tüchtig noch bin ich stets und ständig ein Gewinn für mein Umfeld. Das ist leider die harte Realität. Und auch bei der Gottesfurcht bin ich mir nicht sicher, ob ich mit dem biblischen Ideal mithalten kann. Ich befürchte: wohl eher nicht. Aber: Muss das denn? Muss ich denn ein Ideal erfüllen, um eine gute Frau zu sein? Und wer legt fest, wie eine gute Frau zu sein hat?
Wenn ich diesen Text als Frau lese, dann mit gemischten Gefühlen. Zugegeben: Es freut mich, dass am Ende des Kirchenjahrs in einem liturgischen Text mit kraftvollen Worten die die Leistung einer Frau gewürdigt wird. Gerade auch ihre Arbeit und ihre Klugheit. Interessant war für uns die Entdeckung, dass in der Fassung für die Liturgie Verse gestrichen wurden wie „Sie kauft einen Acker“ und „Sie öffnet ihren Mund in Weisheit“. Das lässt tief blicken und ist schade – daher haben Sie heute die ungekürzte Fassung des Textes gehört. Die biblischen Lorbeeren können nämlich nicht schaden, in einer Welt, in der immer noch keine Gleichberechtigung der Geschlechter herrscht. In deren Wirtschaftssystemen es bis heute nicht selbstverständlich ist, dass eine Frau Leitungsaufgaben übernimmt. Geschweige denn, dass sie dafür auch gleich bezahlt wird. Und um die Situation in der Kirche wissen wir auch: Wenn wir in dieser Woche als Frauen das Wort verkünden, dann ist das ein besonderer Moment, auch wenn es das eigentlich nicht mehr sein sollte. Dass Frauen predigen ist keinesfalls alltäglich, erst recht nicht in einer Eucharistiefeier. Frauen haben qua Geschlecht kein Recht darauf. Es ist kirchenrechtlich in der Messe sogar offiziell verboten. Da tut es gut, zu lesen, wie wertschätzend ein über 2200 Jahre alter biblischer Text von der Frau redet und sie in den höchsten Tönen preist.
Und dennoch bleibt der Boden der Tatsachen. Ich kann ihn nicht ausblenden, wenn ich den schillernden Text aus dem Buch der Sprichwörter höre. Die Lebenswelten von Frauen sehen so anders aus – zumindest in meinem Umfeld. Da sind keine idealisierten Super-Frauen, sondern Frauen, die einen herausfordernden Alltag managen. Und die immer wieder an ihren eigenen Ansprüchen scheitern – ja scheitern müssen. Weil wir eben in keiner idealen Welt leben. Weder als Frau noch als Mann. Da sind Frauen, die Krisen bewältigen müssen – persönliche, gesundheitliche, familiäre. Und schließlich Frauen, die in der Vielfalt der Lebensformen um Anerkennung in Kirche und Gesellschaft ringen. All diese Frauen sehe ich nicht repräsentiert, wenn ich in den Lesungstext schaue. Dort sehe ich eine Frau, die auf ein enges Ideal begrenzt wird: Eine (natürlich) verheiratete, erfolgreiche, wohltätige Power-Frau. Kein Wort von Verunsicherung oder gar Überforderung. Kein Wort von Zweifeln oder vom Ringen – um die eigene Rolle, um die Identität als Frau. Sicherlich ist das Frauenbild der Bibel insgesamt facettenreicher. Und zum Glück sind die Vorstellungen von gelingendem Leben heute vielfältiger. Das gilt für Männer natürlich ebenso wie für Frauen. Und eigentlich sollte mittlerweile klar sein: niemand hat das Recht, diese verschiedenen Lebensformen zu bewerten. Aber das scheint noch immer nicht in allen Köpfen angekommen zu sein. Leider. Gerade die Kirche tut sich bis heute schwer damit. So ist zumindest mein Eindruck. Da wird noch immer viel zu oft bewertet und verurteilt. Weil etwas ungewohnt ist. Weil etwas nicht so ist, wie es immer war. Weil man selbst anders lebt. Und da gehen Menschen. Frauen. Und Männer. Enttäuscht und verletzt – von einem Ideal, das nur überfordern kann.
Die Lesung des heutigen Sonntags ist also kein leichter Stoff. Zumindest für mich nicht. Zwar spielt sie uns Frauen einerseits in die Karten, weil sie an manchen Stellen erstaunlich modern erscheint. Aber gleichzeitig lässt sie uns beide mit einer gewissen Skepsis zurück. Diese Spannung gilt es auszuhalten. Und zu gestalten. Mit dem eigenen Sein und vor allem mit dem eigenen Tun. Zwischen den Idealen und den Realitäten unseres ganz persönlichen Lebens. In zwei Wochen beginnt ein neues Kirchenjahr und mit ihm stellt sich die immer wiederkehrende Frage: Wie geht es weiter in dieser Kirche? Wie kann es weitergehen? Die Perspektive des heutigen Sonntags könnte sein: Mehr als bisher mit Frauen, in allen Diensten. Denn Gott traut den Frauen alles zu. Mit Frauen und Männern, die kritisch bleiben gegen alle Formen überhöhter Ideale – und stattdessen immer wieder benennen, wie das Leben heute wirklich aussieht. Und dass es in all seiner Vielfalt, seiner Kraft und auch seinem Scheitern von Gott geschenkt und getragen ist. Und schließlich mit Entscheidungsträgern, die nicht ängstlich abwarten, sondern – bei allem Aber – auch mal auf Risiko gehen. Letzteres wünschen wir beide uns für den synodalen Weg der deutschen Kirche. Wir müssen weiterkommen. Und gerade für alle realen tüchtigen Frauen hoffen wir, dass es nicht mehr so lange dauert.
Anne Burgard
Simone Kassenbrock
15. November
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Predigt im Rahmen der Aktionswoche
»Frauen verkünden das Wort«
zu Lk 2,41-52
Maria. Meine Namenspatronin. Kein Wunder, dass ich schon als Kind ganz genau aufgepasst habe, wenn es um Maria ging. Besonders aufgefallen ist mir da immer der Satz: „Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war in ihrem Herzen“. Dieser Satz steht auch am Ende des Evangeliums am Weihnachtsmorgen. Wenn ich eins dieser Evangelien höre, dann warte ich immer schon auf diesen ganz besonderen Satz. Was diesen Satz so hervorhebt, fängt schon damit an, dass er überhaupt dort steht. Für die Handlung, für das was passiert, ist er nicht wichtig. Man hätte ihn auch einfach weglassen können. Und trotzdem steht er da. Trotzdem ist es wichtig, dass Maria das was passiert ist, im Herzen behält.
Etwas im Herzen zu behalten bedeutet, sich etwas zu merken, über etwas nachzudenken. Aber nicht nur das: es bedeutet mit dem Herzen darüber nachzudenken. Sozusagen „nachzufühlen“. Maria hat erkannt, dass Jesus hier nicht nur wirres Zeug erzählt, wenn er sagt, dass er im Haus seines Vaters sein will. Maria hat erkannt, was Jesus damit sagen will. Das was hier passiert, ist wichtig und von Bedeutung. Sie hat mit ihrem Herzen verstanden. Sie glaubt, weil sie es selbst gespürt hat. Dieses erkennen in ihrem Herzen bildet den Grundstein dafür, dass sie Jesus sein ganzes Leben lang ihr Vertrauen schenkt und auch noch nach seinem Tod an das glaubt, was er verkündet hat. Sie vertraut ihm und glaubt ihm, nicht nur als seine Mutter, sondern auch als Gläubige. Ihr Herz wusste: Das ist Gottes Sohn.
Das, worauf es hier für mich ankommt ist, dass ihr Herz es ihr gesagt hat und dass sie danach handelt. Das ist der Grund, wieso der Satz: „Seine Mutter bewahrte alles was geschehen war in ihrem Herzen“ so wichtig ist. Das ist der Grund, wieso der Satz dort steht, obwohl er für das, was in der Geschichte eigentlich passiert, nicht wichtig ist. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob sie das, was geschehen ist in ihrem Herzen behält oder nicht. Denn Maria ist keine Frau, die etwas einfach so hinnimmt. Nein, Maria erkennt, dass hier, als Jesus sagt, er muss im Haus seines Vaters sein, etwas Besonderes passiert ist. Sie vertraut Jesus, weil ihr Herz es ihr sagt. Maria ist also viel mehr, als eine Magd Gottes. Sie ist eine Frau, die für sich selbst denkt. Eine intelligente Frau, der auffällt, dass hier etwas besonders passiert und die eine eigene Einschätzung trifft. Eine Frau, die ihrem Herzen folgt. Eine ziemlich moderne Frau also. Damit kann sie uns, uns allen, nicht nur uns Frauen, bis heute ein Vorbild sein.
Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob wir etwas einfach hinnehmen, oder ob wir über Dinge nachdenken, unsere eigene Einschätzung treffen und unserem Herzen folgen. Im Glauben und in unserem täglichen Leben. Machen wir Dinge, weil wir sie immer schon gemacht haben? Oder lohnt es sich zu überdenken, auch wenn es zum zehnten Mal ist? Sollten wir so einkaufen wie immer? Oder mehr auf Nachhaltigkeit achten sonst? Weniger Plastik verbrauchen? Weniger Fleisch essen? Sollten wir Strom verbrauchen wie immer? Oder überzählige Lampen ausschalten? Vielleicht zu einem Ökostromanbieter wechseln? Sollten nur Männer Priester werden dürfen? Oder sollten wir uns, wie die Initiative Maria 2.0 dafür einsetzen, dass Menschen jeden Geschlechts dieses Amt bekleiden dürfen? Sollten wir handeln wie immer? Oder aus der Vergangenheit lernen? Wie sieht die Welt aus, denn wir sie immer wieder, mit neuen Erfahrungen im Hinterkopf, betrachten? Sollten wir denken: ich mache das nicht, die anderen machen es ja auch nicht? Oder einfach mal den Anfang machen? Maria zeigt uns, dass wir nicht einfach hinnehmen sollen. Wie Maria sollten wir das tun, von dem unser Herz uns sagt, dass es das Richtige ist.
Maria Ahrnsen
15. November
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Predigt im Rahmen der Aktionswoche
»Frauen verkünden das Wort«
zu Mt 25,14-30
Während meiner Ausbildung zur Trauerbegleiterin im vorletzten Jahr, bin ich auf ein Buch gestoßen, dessen Titel mich neugierig gemacht hat. Er lautet: „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ (Bronnie Ware, 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen – Einsichten, die Ihr Leben verändern werden, Goldmann Verlag, München 2015). Google sei Dank habe ich ein wenig über die Autorin erfahren können. Bronnie Ware, so heißt sie, ist Australierin. Sie arbeitete einige Jahre als Bankerin, aber so richtig viel Freude hatte sie nicht an ihrem Beruf. Sie fühlte sich, so beschreibt sie es, wie in einer Tretmühle. Ihr Alltag hat sie einfach nur frustriert. Eines Tages verkaufte sie ihren Besitz und machte sich auf die Suche nach einem Leben, das sie wirklich leben wollte. Sie verbrachte einige Zeit auf einer Südseeinsel, fuhr nach England und zurück, reiste durch Australien, jobbte in Bars und probierte alle möglichen Tätigkeiten aus. Sie ließ sich einfach vom Leben treiben, bis sie schließlich als Palliativpflegerin Todkranke und Sterbende zu Hause auf ihrem letzten Weg begleitete. Neun Jahre arbeitete sie mit Sterbenden, führte Gespräche mit ihnen, fragte nach ihrem Leben. In dieser Zeit findet sie heraus – und beschreibt das ja dann auch später in ihrem Buch –, dass es besonders fünf Dinge sind, die Sterbende am Ende ihres Lebens am meisten bereuen. Diese lauten:
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarteten.“
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt mir mehr Freizeit zu gönnen und nicht so viel gearbeitet.“
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken.“
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, den Kontakt zu meinen Freunden aufrecht zu erhalten.“
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir zu erlauben, glücklicher zu sein.“
Ist es das, was uns im Leben oft fehlt? Den Mut, ein Leben zu führen wie wir es uns eigentlich wünschen? Den Mut, so zu leben, ohne dass wir uns am Ende selber sagen müssen: „Mir fehlte der Mut mir zu erlauben glücklicher zu sein?“ Im Evangelium, das wir vorhin gehört haben, erzählt Jesus ein Gleichnis. Auch wenn es zunächst nicht so erscheint, für mich ist diese Geschichte eine „Mut-mach-Geschichte.“ Der Herr im Gleichnis vertraut allen drei Dienern sein Vermögen an, alles was er hat. Dem einen gibt er 5 Talente Silbergeld, dem andern 2, dem dritten ein Talent Silbergeld. Dabei muss man wissen: Ein Talent war für die Menschen damals, zu denen Jesus sprach, zunächst einmal eine Gewichtseinheit. Ein Talent Silbergeld war für die damaligen Menschen eine unvorstellbar große Summe – ein fast 60 kg schwerer Haufen Silber.
Aber das Gleichnis ist sicher nicht als Lehrstück für die Finanzwelt gedacht. Vielmehr stehen diese Talente hier für alles, was Gott uns anvertraut. Unser Leben, unsere Begabungen, Menschen, die wir lieben, Freunde, die Welt. Und für Jesus sicher auch seine frohe Botschaft. Das alles ist unendlich kostbar. In dem Gleichnis setzten zwei der Diener das ihnen Anvertraute ein, sie wirtschaften damit, sicher nicht ohne Risiko, aber am Ende sind sie und auch der Herr, als er wiederkommt, mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Nur der dritte Diener traut sich nicht an das Geld ran. Er geht auf Nummer sicher und vergräbt es. Er hat Angst davor, er könnte etwas verkehrt machen oder sogar das ihm Anvertraute verlieren, Angst vor der Kritik seines Herrn. Na ja, könnte man sagen: Was ist daran so verkehrt? Er passte doch gut auf das Geld auf und hat es verwahrt. Er hätte es ja auch vergeuden, verspielen oder verjubeln können. Was soll denn daran so schlimm sein?
Ich denke, die Frage, die hinter dem Gleichnis steht ist die: Was machst du aus deinem Leben, das Gott dir anvertraut hat. Nutzt du die Möglichkeiten, die er dir schenkt, die Chancen, die das Leben dir bietet? Oder lässt du dich von der Angst bestimmen? Traust du dich, dich auf die Liebe eines anderen einzulassen, auch wenn das bedeuten kann, verletzt oder enttäuscht zu werden? Traust du dich, deine Meinung zu vertreten und dich für andere einzusetzen, auch wenn das bedeutet, selbst in Kritik zu geraten? Traust du dich, deine Träume und Wünsche zu leben, auch wenn du enttäuscht wirst? Traust du dich, in deinem Leben etwas Neues zu beginnen, auch wenn andere von dir erwarten, dass alles so bleibt wie es ist? Traust du dich, einem anderen Menschen zu vertrauen, auch wenn es dich angreifbar macht? Traust du dich, zu deinem Glauben zu stehen, auch wenn andere dich belachen?
Natürlich ist es bequemer, wenn man sich aus allem raushält, wenn man seine Ruhe, wenn man sich durch die Probleme anderer nicht berühren lässt. Natürlich ist es einfacher, wenn man sich sagt: „Ich kann an den Problemen der Welt und der Gesellschaft sowieso nichts ändern.“ Einfacher, wenn man es anderen überlässt Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen. Natürlich, dann gehe ich auch kein Risiko ein. Aber: Nicht das gelebte Leben bereuen wir am Ende, sondern das nicht gelebte Leben und seine versäumten Möglichkeiten.
Ich denke das Gleichnis will uns einerseits mahnen und andererseits motivieren: Jeden persönlich in seinem Handeln, aber auch uns in den Gemeinden und in der Kirche im Allgemeinen. Wir dürfen uns nicht in unserem Gemeindealltag vergraben, verstecken, es gut sein lassen mit der Pflege unserer Traditionen allein oder abzuschotten in unseren Kreisen und Gruppen. Das Gleichnis besagt: Wem viel anvertraut ist, von dem wird man viel fordern. Stellt sich die Frage: Was ist der Kirche anvertraut, den Gemeinden? Was wurde vergraben, so dass sich nichts verändern kann, was müssen wir wieder ausgraben um damit zu wuchern. Welcher Schatz wurde der Kirche anvertraut (z.B. Menschen, Männer und Frauen, mit ihren vielfältigen Begabungen und Berufungen)?
Am Ende des Gleichnisses wird beschrieben, wie es dem dritten Diener ergeht: „Dort, in der Finsternis, wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.“ Reue am Ende des Lebens über verpasste Möglichkeiten kann schmerzlich sein. Vielleicht fühlt es sich ein wenig so an, wie „heulen und mit den Zähnen knirschen“. Lassen wir uns von Jesus sagen: Hab Mut, trau dich, so zu leben, wie du es für richtig hältst. Trau dich, die Welt zu gestalten und zum Guten zu verändern. Trau dich zu lieben und auch zu leiden.Trau dich, weil Gott dir unendlich viel zutraut.
Gisela Schmiegelt
14. November
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Predigt im Rahmen der Aktionswoche
»Frauen verkünden das Wort«
zu 2 Joh 4-9 und Lk 17,26-37
In wenigen Tagen feiern wir den Namenstag der HeiligenElisabeth von Thüringen. Elisabeth ist zum Inbegriff des barmherzigen und fürsorglichen Menschen geworden. Darum ist sie auch die Patronin der Caritas, und auch die kfd gedenkt ihrer jedes Jahr im November. 1207 wurde sie als ungarische Königstochter geboren und im Alter von 14 Jahren mit dem Landgrafen Ludwig IV. von Thüringen verheiratet. Dort lebte sie wohlbehütet im Wohlstand ihrer Familie. Doch das war ihr nicht genug: sie wollte für andere, arme Menschen da sein, sie versorgen, sich kümmern. Nach dem Tod ihres Ehemannes setzt sie gegen den Willen der Verwandtschaft ihr Engagement fort. Sie entsagt jeglichem Wohlstand und folgt dem Armutsideal des Franz von Assisi. Sie verschreibt sich vollkommen dem entbehrungsreichen Dienst an Armen und Kranken. Dafür bleibt ihr nicht viel Zeit, denn bereits im Alter von 24 Jahren stirbt sie, arm und krank.
Wenn ich auf dieses kurze Leben schaue, empfinde ich Respekt und Hochachtung: Elisabeth lebt und verwirklicht mit ihrem Engagement geradezu vollkommen jenes Gebot, an dessen Einhaltung wir in der Lesung von gerade eben erinnert werden: „Ich schreibe dir kein neues Gebot, sondern das, was wir gehabt haben von Anfang an, dass wir uns untereinander lieben.“
Zu einer solchen Liebe, einem solchen Engagement fühle ich mich kaum in der Lage. Da bin ich völlig überfordert. Und warum? Vordergründig betrachtet: ich bin ja keine Landgräfin und schon gar keine Heilige! Ich werde nie eine sein, dazu bin ich nicht berufen. Aber so einfach sollte man es sich nicht machen, sich nicht hinter einer solchen Antwort verstecken. Anders gefragt: Was unterscheidet eigentlich Elisabeth von mir, von anderen Frauen und Männern, losgelöst von Heiligenschein und Berufung?
Vielleicht finden wir die Antwort im Evangelium von heute: Jesus ermahnt seine Zuhörer eindringlich: „Wer sein Leben zu erhalten sucht, der wird es verlieren; und wer es verlieren wird, der wird es gewinnen!“ Statt ihr vornehmes, wohlhabendes Leben aufrechtzuerhalten, war Elisabeth bereit, ihr Leben für Notleidende hinzugeben, es zu verlieren. In meinem Beruf möchte ich auch anderen helfen, Kranke heilen, Leiden lindern. Aber bin ich bereit, mein Leben zu verlieren, zu opfern? Bei dieser Frage stellt sich doch in uns etwas ganz Banales, aber zutiefst Menschliches ein – nämlich die Angst zu sterben.
Es klingt paradox: Diese Angst zu sterben ist einerseits lebenswichtig, sie warnt, schützt, bewahrt uns vor unterschiedlichen Gefahren, sie hält uns am Leben. Aus dieser existentiellen Urangst des Menschen heraus wurden die kreativsten und größten Erfindungen und kulturellen Leistungen der Menschen erschaffen: Behausungen, Gesundheitswesen, medizinisches Wissen und Forschung, Lebensversicherungen usw. Auch heute, angesichts der Bedrohung durch ein neues Virus, stellen wir die Welt auf den Kopf. Unsere Vorstellungen und Konzepte über das Leben und Sterben bestimmen große Teile unserer Lebens- und Alltagsgestaltung.
Andererseits blockiert diese Angst uns, sie hindert uns am Leben. Die Angst vor dem Tod kann dazu führen, dass wir das Leben in seiner Tiefe und Weite, seinem Zauber und seiner unermesslichen Vielfalt nicht mehr spüren. Wir wollen häufig dieses Leben bis an seine Grenzen auskosten, alles Erlebbare erleben. Die Gier nach mehr und noch mehr verhindert den Blick auf das, was wirklich wichtig ist im Leben. Es geht nicht um ein „gefülltes“, sondern um ein „erfülltes“ Leben. Bin ich bereit zu sterben – jetzt? Bereit sein zu sterben – und gleichzeitig leben wollen. Hingabe an den Tod – Hingabe an das Leben.
Das Größere hinter beiden Aspekten, das Aufhebende hinter dieser Widersprüchlichkeit ist die Liebe. In der Liebe zum Leben ist verborgen die Sehnsucht nach Ganzheit und Vollendung – und dazu gehört der Tod. Leben in seiner wesenhaften Natur schließt den Tod mit ein. Im Angesicht des Todes zu leben, intensiviert also vielmehr unser Leben, es macht uns achtsam, dankbar und nicht zuletzt sensibel für das Leben all derjenigen, die unsere Hilfe benötigen, seien es Flüchtlinge, Obdachlose, Kranke oder Pflegebedürftige. In der zum Teil aufopferungsvollen Zuwendung gegenüber diesen Menschen opfern wir in Wahrheit nicht unser Leben, sondern wir gewinnen es zurück. So möchte ich mit einem Wort aus dem 90.Psalm schließen: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Dr. Ulrike Haucap-Osterhaus
13. November
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Predigt im Rahmen der Aktionswoche
»Frauen verkünden das Wort«
zu 1 Joh 4,7-16 und Lk 10,38-42
Diese kurze Geschichte von den beiden Schwestern Marta und Maria beschreibt eine Situation, wie wir sie wohl alle kennen. Besuch hat sich angekündigt, es kommt jemand, der einem wichtig ist. Und Marta tut das, was wohl die meisten von uns in dieser Situation tun würden: Sie nimmt ihn freudig auf und verfällt in Betriebsamkeit, sie läuft geschäftig hin und her, sie räumt und putzt und kümmert sich darum, dass etwas Gutes auf den Tisch kommt … Maria dagegen setzt sich Jesus zu Füßen und hört ihm einfach nur zu, während Marta die ganze Arbeit alleine verrichtet. Empört wendet sich Marta an Jesus, damit dieser ihre Schwester zurechtweist: “Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die ganze Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen!“
Wenn ich mir diese Situation vorstelle, muss ich sagen: Mein Herz schlägt für Marta und ich kann ihre Empörung gut verstehen! Doch Jesus reagiert ganz anders, als Marta es erwartet, denn seine liebevolle Zurechtweisung trifft nicht Maria, sondern sie selbst. Aber warum? Sie hat sich doch so viel Mühe gemacht und so viel für Jesus getan. Sieht er das denn gar nicht? Doch, Jesus sieht, was Marta tut. „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen …“ Er nimmt das durchaus wahr. Doch er sagt auch:“… aber eines nur ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden.“
Ich kann mir vorstellen, dass Marta von dieser Aussage zunächst einmal völlig vor den Kopf gestoßen war. Wieso ist das, was Maria tut, besser? Was ist falsch daran, sich zu kümmern? Jesus selbst hat uns doch die tätige Nächstenliebe vorgelebt, er hat sich gekümmert, die Not der Menschen gesehen und Kranke geheilt … Ich glaube, es ist zum einen eine Frage des „timings“, eine Frage des „Was ist jetzt gerade drann?“, „Was ist jetzt notwendig?“
In dieser Geschichte geht es nicht darum, etwas für einen Gast vorzubereiten – der Gast ist bereits da! Jesus ist im Haus der beiden Schwestern, doch Marta ist so beschäftigt, dass sie gar keine Zeit für ihn hat vor lauter „Sorgen und Mühen“. Sie will für ihn sorgen, ihm etwas „geben“, während Maria bereit ist, sich von Jesus „beschenken“ zu lassen, indem sie sich zu seinen Füßen setzt und seinen Worten lauscht. Und das, so sagt Jesus, ist in diesem Falle „das Not-wendige und Bessere“.
In der Lesung haben wir gehört, dass Gott die Liebe ist, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm. Wir brauchen die Beziehung zu Gott, damit wir seine Liebe zu uns an andere weitergeben können. Wir sind also zunächst einmal „Beschenkte“. Die Gefahr ist groß, dass wir meinen, alles aus uns selbst heraus tun zu können oder zu müssen. Doch auch Jesus hat sich immer wieder zurückgezogen, um sich im Gebet von Gott stärken und beschenken zu lassen. Oder wie Paulus es in seinem Brief an die Philipper sagt: „Ich vermag alles durch ihn, der mir Kraft gibt“ (Phil 4,13). Viele Menschen sagen heute: „Ich vermag alles!“ und nehmen sich damit wichtiger als sie sind. Ein Blick auf die politischen Bühnen dieser Welt zeigt uns viele Beispiele dafür…
Wir Christen aber haben eine Quelle der Kraft und der Liebe, die uns geschenkt wird, wenn wir uns dafür öffnen und uns die Zeit dafür nehmen. Die beiden ungleichen Schwestern – Marta und Maria – sie wohnen auch in mir und in jedem von uns. Und oft ist Marta die Lautere und Stärkere von beiden, die sich, von den Lasten des Alltags getrieben, keine Ruhe gönnt. Da ist es gut, wenn eine Stimme zu uns sagt: „Mach dir nicht so viel Sorgen und Mühen. Denke daran: Eines nur ist notwendig. Mach es wie Maria – und wähle das Bessere!“
Karolin Holtgrewe
12. November
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Predigt im Rahmen der Aktionswoche
»Frauen verkünden das Wort«
zu Lk 17,11-19
Kennen Sie das auch, liebe Gemeinde, da bekommt man etwas geschenkt, eine kleine Aufmerksamkeit, ohne besonderen Anlass – einfach so. Und dann: Man wundert sich und bedankt sich und fragt: Womit habe ich das verdient? Was kann ich dir dafür Gutes tun? Es geht auch umgekehrt: Wir schenken jemandem etwas – einfach so, ohne Grund –, und der Beschenkte fragt dasselbe: Womit habe ich das verdient? Wie kann ich das wieder gutmachen? Einfach nur: Freude und Dankbarkeit – das genügt! Das gibt es doch, das erleben wir doch auch immer mal wieder – diese kleinen Dinge: Aufmerksamkeiten, jemandem einen Gefallen tun: ein Lächeln, ein Dankeschön, einen schönen Tag wünschen, das genügt und das tut gut – vielleicht besonders in dieser Zeit!
Der Heilige Martin hat ja auch den Bettler nicht gefragt: „Was gibst du mir, wenn ich dir die Hälfte meines Mantels gebe?“ Oder: „Was tust du für mich?“ Martin hat gehandelt: aus Nächstenliebe, aus Mitmenschlichkeit, aus Barmherzigkeit, von Herzen, ganz spontan! Stell dir vor, das würde jeder tun! Stell dir vor, das würde jeder tun: an andere denken, andere unterstützen, helfen, wo es möglich und nötig ist: kostenlos und unverbindlich, ohne Hintergedanken!
Ganz viel geschah und geschieht ja auch bei uns in der Pfarrei: besonders in dieser Corona-Zeit. Einige Beispiele: Dda haben Kinder und Erwachsene Grüße geschrieben, gemalt, gebastelt für ältere oder einsame Menschen, auch für die Menschen in unseren Senioren-einrichtungen. Es gibt viele andere Hilfen und Aufmerksamkeiten: die Aktion Tannenzweig Jugendlichen, die Sternsingeraktion, praktische Hilfen für Flüchtlinge, Besuchsdienste, Begrüßungs- und Ordnerdienste in diesen Zeiten und so weiter …
Warum tun Menschen das? Sicher nicht aus Egoismus oder um gut dazustehen, auch nicht, um sich den Himmel oder das ewige Leben zu verdienen! Der Heilige Martin und viele andere Vorbilder im Glauben handelten aus Barmherzigkeit und Nächstenliebe, aus ihrem christlichen Glauben heraus. Manche wurden aufgrund ihrer Hilfsbereitschaft verspottet. Lassen wir uns nicht einschüchtern, wenn andere vielleicht über uns lächeln – die sind einfach nur neidisch!
Jesus Christus hat so gehandelt, auch im heutigen Evangelium: Die Heilung der zehn Aussätzigen. Jesus hat keine Bedingungen gestellt: „Wenn ihr meine Jünger, meine Nachfolger werdet, dann mache ich euch gesund.“ Jesus waren die Menschen wichtig! Alle Menschen! Und nur einer bedankt sich. Warum nur einer? In Jesu Nachfolge üben wir Nächstenliebe, aus Dankbarkeit dafür, dass Gott uns liebt! Wir geben diese Liebe, diese Menschenfreundlich-keit Gottes weiter an unsere Mitmenschen – einfach so! Stell dir vor, das würde jeder tun!
Ich habe vor kurzem diese Tüte mit Süßigkeiten gekauft, weil auf der Tüte steht: „Zeig Herz“ und „Zum Teilen“. „Zum Teilen“ steht drauf, und wenn jetzt nicht Corona-Zeit wäre, hätte ich am Ausgang eine Schale mit dem Inhalt mehrerer Tüten hingestellt und jeder hätte sich etwas nehmen dürfen – geht aber zur Zeit nicht, schade! Aber vieles andere ist in dieser ungewöhn-lichen Zeit möglich: ein Lächeln – trotz Maske, ein freundliches Wort, ein Zunicken oder Zuwinken, Zuwendung, Zeit für ein Gespräch, auch vor der Kirche (mit Abstand!), ein schriftlicher Gruß, ein Telefongespräch. Kleine Aufmerksamkeiten, mit denen wir unsere Mitmenschen erfreuen, vieles in dieser Zeit mit Abstand, aber dennoch „mit Herz“, weil es von Herzen kommt! Stell dir vor, das würde jeder tun! Seien wir erfinderisch: „Zeig Herz!“ Das könnten wir doch auch weiterhin probieren – oder?
Karin Gösmann
11. November
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Predigt am 24. Sonntag im Jahreskreis
zu Sir 27,30-28,7 und Mt 18,21-35
„Groll und Zorn sind Gräuel und ein sündiger Mann hält an ihnen fest.“ Ob sich Wutbürger davon beeindrucken lassen? Unwahrscheinlich. Sie sprechen von der Merkel-Diktatur, sehen sich in ihren Grundrechten eingeschränkt, wähnen hinter allem eine große geheime Macht. Und wollen das bekämpfen. Mit Agitation und Gewalt. Mit Wut und Groll und Zorn. In den vielen Flüchtlingslagern dieser Welt haben Groll und Zorn auch ein Zuhause. Ausweglosigkeit all überall. Und Angst. Schreckliche Angst. Die vielen geflohenen Menschen haben Angst um ihr Leben. Und Politiker haben Angst, etwas falsch zu machen. Das ist die Stunde der Scharfmacher. Überall auf der Welt schlagen Menschen wild um sich, mit Worten und Taten. Überall auf der Welt vergiften Menschen das Miteinander. Bedarf es da nicht einer gehörigen Portion Groll und Zorn, um gegen all diese Dinge anzugehen?
Der Weg Jesu ist – wie so oft – ein anderer. Seine Aufforderung geht so: „Fang bei dir selbst an. Denke daran, wie oft du dich schon verrannt hast. Wie oft du schon schuldig geworden bist. Wie sehr du davon lebst, dass andere dir einen neuen Anfang schenken. Also: Wage das Unmögliche und hab Geduld. Immer wieder. Und immer mehr!“ „Ja“, möchte man da sagen, „du hast Recht, Herr! Aber wir dürfen doch diese Ungerechtigkeit nicht einfach so weiterlaufen lassen. Wir dürfen doch nicht zusehen, wie Menschen umkommen, nur weil sie in der falschen Gegend leben. Wir dürfen doch nicht zulassen, dass unsere Erde den gewinnmaximierenden Konzernen geopfert wird. Wir dürfen doch nicht zusehen, wie mitten in Europa Potentaten ihr Volk niederknüppeln oder Menschen einfach so verschwinden. Wir müssen doch was tun!“
„Ja“, so stelle ich es mir vor, könnte Jesus sagen, „das stimmt. Wer mir folgt, muss sich die Hände schmutzig machen. Wer mir folgt, der legt den Finger in die vielen Wunden dieser Zeit. Wer mir folgt, der kämpft! Aber eines solltest du bedenken, wenn du überleben willst: Lass dich nicht vergiften. Sei nie so durchdrungen von Gewalt und Hass, dass du nicht mehr in den Spiegel schauen kannst. Lass den anderen leben. Nur so kannst du ihn gewinnen!“ „Du hast leicht reden, Jesus, doch was ist mit den vielen Unterdrückten dieser Tage, was mit den vielen Opfern von Willkür und Terror? Was mit all den Radikalen, die ihren Weg gehen ohne Rücksicht auf Verluste?“ Die Fragen sind richtig. Denn all das ist ja da. Und all das wird bleiben. Aber der Funke Hoffnung, für den Jesus sein Leben gab, der bleibt auch.
Alexander Bergel
13. September
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Predigt am 23. Sonntag im Jahreskreis
zu Röm 13,8-10 und Mt 18,15-20
„Liebe – und tu, was du willst!“ Hört sich einfach an. Und ein bisschen verrückt. Wer genauer hinschaut, der merkt recht schnell: Einfach ist das ganz und gar nicht. Allenfalls ein bisschen verrückt: „Liebe – und tu, was du willst.“ Der Kirchenvater Augustinus hat dies im 5. Jahrhundert gesagt. Nur was meint er damit? Auf den ersten Blick sagt er: „Macht, was ihr wollt. Nur nicht ohne Liebe.“ So verlockend sich das auch anhört – leicht geht anders. Wer wirklich liebt, der weiß das. Wer wirklich liebt, der macht nämlich nicht einfach, was er will, sondern was gut ist für den anderen. Und das ist nicht immer identisch mit dem, was mir grad gefällt …
Wer 50 Jahre verheiratet ist – der weiß das. Wer Kinder auf die Welt gebracht und groß gezogen hat – der weiß das. Wer sich voller Lust und Leidenschaft nach seinem Liebsten, seiner Liebsten sehnt – der weiß das. Wer sich voll und ganz für eine Sache einsetzt – der weiß das. Wer sich um Alte, Kranke, Einsame kümmert – der weiß das. Wer andere erträgt, obwohl sie so ganz anders sind – es aber vielleicht die eigene psychisch kranke Schwester, der merkwürdige Onkel, die kauzige Nachbarin ist – der weiß das. Wer liebt, tut eben nicht in erster Linie das, was er will, sondern das, was der andere braucht.
Heißt Liebe also: sich aufzugeben? Nein. Denn Lieben heißt mitunter auch: zurechtweisen, Grenzen aufzeigen, Unrecht beim Namen nennen, Irrwege beenden, Perspektiven eröffnen. Von Anfang an gehört auch das zum Leben einer christlichen Gemeinde. Aber selbst dann, wenn der Evangelist Matthäus schreibt: „Wenn einer nicht auf euch hört, obwohl ihr im Recht seid, dann sei er euch wie ein Heide und Zöllner!“ selbst dann spüren wir noch: Diese Menschen nicht fallen zu lassen, sondern ihnen in Liebe zu begegnen, das ist der Weg Jesu. Denn der hatte ein großes Herz, gerade für Zöllner und Sünder.
Liebe – und tu was du willst! Das kann nicht jeder einfach so mal eben. Aber wer sich immer mehr von dieser Liebe erfassen lässt, die wir ja alle gratis geschenkt bekommen haben – jene Liebe nämlich, die mir sagt: „Egal, was du tust, egal, welchen Scheiß du baust, egal, in welche Richtung du dich verläufst – ich, Gott, liebe dich!“ – wer sich von dieser Liebe erfassen, tragen und verwandeln lässt, der wird vielleicht doch irgendwann die Kraft finden, immer mehr auch selbst zu lieben, wirklich zu lieben. Sicher, ein langer Weg, bevor man das wirklich kann. Doch – den ersten Schritt, den könnte man ja mal versuchen. Warum nicht gleich heute?
Alexander Bergel
6. September
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Predigt am 22. Sonntag im Jahreskreis
zu Jes 20,7-9, Röm 12,1-2 und Mt 16,21-27
„Du Opfer!“ Wer dieses Wort auf dem Schulhof hört oder in der Firma – der weiß: Ich habe ein Problem. „Du Opfer!“ bedeutet: Da hat einer keine Chance. Mitschüler, Kollegen, wer auch immer meint: Der da, die da ist ein Loser. Einer, der es nicht drauf hat. Eine Randfigur. Und das Mobben beginnt. Wenn wir in der Bibel vom Opfer hören oder in der Kirche davon sprechen, sieht die Sache etwas anders aus. Opfer bedeutet nach allgemeiner Überzeugung wohl so etwas wie: Ich gebe etwas her und erhalte dafür etwas anderes. Wer in die Bibel blickt, findet an deren Anfängen viele solcher Handlungen. Da ist aus urältesten Zeiten von Menschenopfern die Rede. Denken Sie an Abraham und Isaak. Ein Vater will seinen Sohn opfern. Welch schreck-liche Vorstellung! Gott jedoch greift ein – und verhindert die Bluttat. Manche Bibelwissen-schaftler sagen: In dieser Erzählung wird eine heilsame Entwicklung verarbeitet: die Abschaffung der Menschenopfer nämlich, die Gott ganz und gar nicht will.
Wer weiter in der Bibel blättert, dem begegnen dann weitere Formen des Opfers: Tiere und Früchte, Gold und Silber werden nun den Göttern, werden Gott dargebracht. Irgendwie kriegen Menschen diesen Drang nicht los … Immer wieder aber sehen sich diese Praktiken auch der Kritik ausgesetzt. Denn viele Propheten lehnen die Opferkulte ab. Und schließlich kommt Gott selbst zu Wort: „Ich will keine Brand- und Schlachtopfer, kein Gold und Silber. Ich will euch. Euer Herz. Eure Liebe. Dich, Mensch, dich will ich!“ Wie ein Liebender seine Liebste sucht, sich nach ihr sehnt – so ist Gott auf der Suche nach dem Menschen. Nichts anderes erfährt dann auch der Prophet Jeremia, der uns an seiner Beziehung zu Gott teilhaben lässt: „Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören; du hast mich gepackt und überwältigt.“ Es wäre sicher einfacher gewesen, die Sache mit Gott über einen geregelten Opferbetrieb zu regulieren. Jede Woche eine kleines Opfertier oder ein paar Münzen in die Tempelkasse – und alles wäre erledigt. Und sein Leben definitiv friedlicher verlaufen! Aber nichts da: „Zum Gespött bin ich geworden den ganzen Tag, ein jeder verhöhnt mich.“ Und warum? Weil Jeremia gemerkt hat: Gott will nicht irgendwas von ihm. Er will, er braucht ihn ganz. Und das hat Konsequenzen.
Genau das ist es, wovon auch Jesus spricht: „Mensch, ich brauche dich! Ich brauche dich, um die Welt zu verändern. Ich brauche dich, damit du allen erzählst, was du mit mir erlebt hast. Ich brauche dich, um für Gerechtigkeit einzustehen. Ich brauche dich, damit die Welt erfährt, wie Barmherzigkeit geht! Allerdings“, so sagt Jesus weiter, „allerdings geht ein solches Leben nicht in der Komfortzone. Ein solches Leben bedeutet auch Leid und Ausgeschlossen-Sein, es bedeutet auch Verzicht und Opfer.“ Damit sind wir beim anstrengenden Teil des Christseins angekommen. An Gott zu glauben, den Weg Jesu zu gehen, ist zwar zuerst etwas Befreiendes, Mut machendes, Glück schenkendes. Aber wer sich als ein solch Beschenkter, als eine solch Beschenkte erlebt, der kann das nicht für sich behalten. Der muss davon erzählen und sich engagieren. In letzter Konsequenz riskiert er damit sein Leben. Paulus formuliert es so: „Bringt euch selbst als lebendiges Opfer dar. Das ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst!“
Wenn also im biblischen Sinn vom Opfer die Rede ist, geht es immer ans Eingemachte, nie um irgendwelche Dinge. Aber auch nicht um etwas Blutrünstiges. Wenn wir vom Opfer Jesu sprechen, meint das nicht: Gott braucht ein blutiges Menschenopfer. Nein, das wäre völliger sadistischer Irrsinn. Ganz im Gegenteil: Im Opfer Jesu erkennen wir die tiefste Hingabe, die ein Menschen überhaupt leisten kann. Er gibt sein Leben, weil er ahnt, dass aus dieser Liebe etwas ganz Neues erwachsen kann: Leben für alle nämlich, das kein Ende kennt. So ist es also Gott selbst, der diesen Kampf mit dem Tod aufnimmt. Und wenn wir dann weiter von unserem Opfer sprechen, dann meint das etwas sehr Ähnliches: Wir treten in keinen Handel mit Gott ein (frei nach dem Motto: Je größer die Kerze, desto schneller müsste doch meine Bitte erfüllt werden!), und auch kein selbstverstümmelndes, Leid verherrlichendes Tun ist damit gemeint. Nein, wir vertrauen Gott unser Leben an. Im Brot und im Wein bringen wir dann auch in der Feier Eucharistie alles vor Gott, was uns ausmacht. Unser ganzes Leben. Alles. Wir bieten ihm uns an. Und bitten ihn, dass er uns verwandeln und heil machen möge. Nicht mehr, aber auch nicht weniger …
„Du Opfer!“ Wer so etwas über einen anderen Menschen sagt, ist zerstörerisch, zynisch und gemein. Wer auf eine solche Weise beschimpft und fertig gemacht wird, wird irgendwann selbst daran glauben, dass er nichts wert ist. Wer aber im biblischen Sinne vom Opfer spricht und das Opfer Jesu, seine Lebenshingabe, feiert, der ist fest davon überzeugt, dass er alles auf eine Karte setzen darf. Und von Gott hören wird: Du bist wertvoll! Eigentlich, ja eigentlich müsste das die ganze Welt erfahren. Und alle Opfer in ihr.
Alexander Bergel
30. August
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Predigt am 16. Sonntag im Jahreskreis
zu Mt 13,24-43
Ein Sämann ging aus.
Gedanken, mehr noch: ein Gebet
von Hermann Coenen
Großer Sämann Du, geduldiger Gärtner.
Milliarden Jahre konntest Du warten,
bis unser glühender Planet abkühlte.
Bis langsam, ganz langsam Leben entstand
im Wasser, auf dem Land, in der Luft.
Neun Monate kannst Du warten,
bis aus dem befruchteten Ei
ein Menschenkind wächst im Leib seiner Mutter.
Zehn Jahre, zwanzig Jahre kannst du warten,
bis so ein Menschenjunges lernt,
auf eigenen Beinen zu stehe,
und auch dann oft noch recht wackelig.
Wie viele Anläufe musst Du nehmen, Gott,
wenn Du mir etwas beibringen willst:
Wie stur kann ich sein, wie zu,
wie schwer von Begriff!
Menschen schickst du mir über den Weg.
Mit Glückserfahrungen lockst du mich,
mit Schicksalsschlägen.
Ein Liedvers geht unter die Haut,
ein Dichterwort, ein Psalm.
Und vieles fällt unter die Dornen.
Du gibst es nicht auf. Du gibst mich nicht auf.
Du gibst uns nicht auf.
Du vertraust, dass unterhalb der Oberfläche,
in der Tiefe des Ich,
Dein Samenkorn wächst und wächst.
Du traust uns zu, dass eines Tages
der treibende Keim durchbricht
und zum Blühen kommt und Frucht bringt.
Dass nach der langen Schwangerschaft
der Menschheitsgeschichte wir Neandertaler
endlich Mensch werden.
Wir danken Dir für den einen, den neuen Menschen,
der ganz so geworden ist,
wie Du Dir den Menschen gedacht hast:
Jesus von Nazareth, der Sohn der Maria,
die schönste Frucht, die Du hast reifen lassen
auf dieser Erde.
Wir können Ihn nicht vergessen,
möchten so sein, so werden, so leben wie Er.
Wir möchten lernen von Ihm,
wie einer reif wird allmählich in Sonne und Sturm,
wenn das Leben uns streichelt und schlägt.
Wir möchten lernen von Ihm, wie man das macht,
unter den rauhen und stacheligen Schalen des anderen
den guten Kern zu entdecken in jedem:
Dein Ebenbild, Gott, auch wenn es entstellt ist.
Wir möchten lernen von IHM,
wie man trotz aller Würmer im Apfel der Welt
den Glauben nicht aufgibt
an das Gute, an Dich.
Wir möchten lernen von Ihm
Geduld und Vertrauen und Hoffnung,
dass Du, großer Gärtner, uns annimmst
und fruchtbar machst
heute und am Tag der großen Ernte.
Herrmann Josef Coenen
Meine Jakobsleiter
Düsseldorf 1986
Alexander Bergel
18. Juli
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Predigt am 13. Sonntag im Jahreskreis
zu 2 Kön 4,8-11.14-16a und Mt 10,37-42
„Ich weiß, dass dieser Mann, der ständig bei uns vorbeikommt, ein heiliger Gottesmann ist. Wir wollen ein kleines, gemauertes Obergemach herrichten und dort ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und einen Leuchter für ihn bereitstellen. Wenn er dann zu uns kommt, kann er sich dorthin zurückziehen.“ Elischa, der Prophet, hat ungeheures Glück. Glück, auf jemanden zu treffen, der in ihm auch den Menschen sieht. Nicht nur den Gottesmann. Nicht nur den Heiler. Nicht nur den Prediger. Bis ins Detail wird uns die Sorge der Frau um den prophetischen Gast vor Augen geführt: Bett, Tisch, Stuhl, Leuchter. „Wenn er dann zu uns kommt, kann er sich dorthin zurückziehen.“ Dass diese fast schon niedliche Szene nicht unter den Teppich des Erhabenen gekehrt wurde, sondern mitten in der Bibel steht, macht doch eines deutlich: Wer im Auftrag Gottes unterwegs ist, hört nicht auf, ein Mensch zu sein. Und wer damit aufhören würde, wäre nicht mehr im Auftrag Gottes unterwegs. So einfach ist das. Und so einfach bleibt es auch.
Wie einfach das sein kann, zeigt ein Blick in das Jahr 2019. Da hatte der Generalvikar mal wieder eine seiner legendären Ideen. „Du, Alexander“, so fing er am Telefon an, „ich kenne da jemanden, der würde gut zu euch passen. Toller Mann. Jesuit. Viel rumgekommen. Hat Schulen geleitet und Akademien. War mit Studenten unterwegs. Kennt viele Leute, die was zu sagen haben. Hat Interesse an neuen Ideen und setzt die auch um. Und ist ein sehr netter Mensch. Der wäre was für euch! Und ihr habt da doch die leere Wohnung, oder? Ach ja, übrigens, nächsten Montag könnte er mal vorbeikommen. Hättest Du da Zeit?“ Natürlich hatte ich die. Und recht schnell war klar: Das könnte was werden mit Hermann Breulmann, dem Jesuiten aus Berlin. Die Chemie stimmte. Und so haben wir neben der Heilig-Geist-Kirche – fast wie beim Propheten Elischa – das kleine, gemauerte Obergemach hergerichtet und dort ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und einen Leuchter für ihn bereitgestellt. Und dachten zufrieden: „Wenn er dann zu uns kommt, kann er sich dorthin zurückziehen.“
Ich erinnere mich gut noch an Deinen ersten Tag Ende Februar, lieber Hermann. Ein paar Freunde aus Hamburg, ein Kollege aus Berlin, Deine Schwester und ihr Mann aus Voxtrup waren mitgekommen, um Bett, Tisch, Stuhl, einen Leuchter und – zugegebenermaßen – noch ein paar Sachen mehr in Deine neue Wohnung zu tragen. Praktischerweise war auch grad Pause beim Erstkommuniontreffen mit Dirk Schnieber, so dass schnell ein paar Väter beim Einzug mitgeholfen haben. Und dann warst Du da. Vom großen Berlin ins geringfügig kleinere Osnabrück. Aber genauso wolltest Du es gerne. Um nach aufregenden Jahren in wuseligen Städten wie Hamburg, München und Berlin ein wenig runterzufahren, Seelsorger zu sein, Liturgie zu feiern, ein, zwei, drei, vier Ideen zu entwickeln und vor allem Zeit zu haben, um Menschen zu begegnen.
Doch dann kam Corona. Plötzlich war ganz viel Zeit da. Und Deine geplante Einführung auf unbestimmte Zeit verschoben. Keine leichte Zeit. Für niemanden. Und für Dich schon gar nicht. Doch trotzdem bist Du nicht zum durch Deine neuen Gemächer spukenden Schlossgespenst geworden. Im Gegenteil. So Manchem bist Du schon begegnet. Man sieht die Fenster wieder offen stehen. Besonders das ganz hinten links, aus dem gelegentlich Rauchschwaden ihren Weg ins Freie finden. Die beiden Raucher bei uns im Team freut das natürlich besonders! Manche Menschen aus unserer Pfarrei kennen Dich noch aus Studentenzeiten. In der Kleinen Kirche warst Du schon und der Hochschulgemeinde auch. Auf der Homepage ist einiges von Dir zu lesen. Und ich erinnere mich gerne an so manches lustige und gleichermaßen tiefsinnige Gespräch mit Dir. Es ist spannend zuzuhören, wenn Du erzählst. Dein Weg zu den Menschen ist kein komplizierter – auch wenn Du mitunter Wörter kennst, die ich noch nie gehört habe.
Deine Analyse der kirchlichen Situation ist messerscharf. Genau so etwas brauchen wir in dieser Kirche, der noch nie so viele Menschen den Rücken gekehrt haben wie in diesem Jahr. Doch keine Angst, lieber Hermann. Früher hat man die Jesuiten geholt, um die Welt zu retten. Oder irgendwen zurückzudrängen. Um Struktur in ein Chaos zu bringen oder überhaupt mal Sinn und Verstand an einen neuen Ort. Keine Angst, all das musst Du nicht. Du muss nicht die Welt retten. Es reicht, wenn Du einfach da bist. Mit Deinen Erfahrungen und Ideen. Mit Deinen Fragen und der ein oder anderen Antwort. Mit Deinen Gedanken und Deinem Humor. Das könnte nicht nur was Prophetisches haben. Es könnte auch viel Spaß machen. Und uns helfen, immer neu zu fragen, warum wir eigentlich noch da sind. Und warum es sich – trotz allem – lohnt, in der Spur Jesu zu bleiben.
Alexander Bergel
27. Juni
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Predigt am 11. Sonntag im Jahreskreis
zu Mt 9,36-10
Gestern waren die zwölf Apostel bei mir zu Gast.
Ich tischte alles auf, was der Kühlschrank hergab.
Sie müssen von sehr weit gekommen sein.
Sie waren hungrig und durstig,
und auf ihren Mänteln klebte dick der Staub.
Ich wollte wissen, wer unter ihnen Johannes sei
und wer Judas.
Sie sagten, sie übten noch.
Die Rollen werden erst kurz vor Ostern festgelegt.
Horst Bienek
.
Üben?
Was wollen die denn
üben?
Warum denn
auch die Dinge
ändern
Johannes ist der Gute
Judas der Böse
Und Thomas zweifelt
So steht es doch
geschrieben.
Oder etwa nicht?
Lies nach
Lies quer
Tu’s immer wieder
Doch Vorsicht
Zwischen den
Zeilen
wirst du finden
was deine Weltsicht
irritiert
Finden
wirst
du
dass niemand
wirklich
niemand
eine Rolle
spielen muss
die ewig gilt
Ich weiß
es wär so schön
so einfach
Und
vor allem
praktisch
Denn
Rollen
Schubladen
ersparen
mir
das Denken
So wurden sie
auf ihre Rollen
festgelegt
Sie werden’s
weiter
Tag für Tag
Was soll aus dem
schon werden?
Bei diesen Eltern
Ich hab’s doch
gleich gesagt
So wie die rumläuft
Jeder ist seines Glückes Schmied
Mir wird auch nichts geschenkt
Wer nicht will, der hat schon
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Da könnt ja jeder kommen
Schotten dicht
Raus aus dem Klischee?
Nein
lieber nicht
Klar
so ist es einfach
Nachdenken unerwünscht
Leben aber
geht so
nicht
Was wäre wohl
wenn ich sie fahren ließe
meine klare Meinung?
Was wäre
wenn ich fragen würde
was Johannes wirklich denkt?
Oder Judas
vor und
nach der Tat
Oder gar am Anfang
als Jesus ihn wollte
um die Welt zu retten?
Was wäre wohl
wenn ich mal schaute
warum der alte Mann von gegenüber
so komisch ist
so abgedreht
so hart?
Oder die Frau
von der man weiß
woher sie kommt
keiner aber
wissen will
wovon sie träumt?
Was wäre wohl,
wenn Rollen
Rollen blieben
und Menschen
Menschen
würden?
Man weiß es
nicht so ganz
genau
Nein
wissen kann das
keiner
Vielleicht jedoch
könnt‘ Wahrheit
werden
was Jesus
nicht für
ausgeschlossen hielt
Kranke würden heil
Tote lebend
Aussätzige rein
Das wär
ja fast der Himmel
Ganz genau
Der Himmel
Fast
zumindest
Kurz vor
Ostern
halt
Alexander Bergel
13. Juni
.
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Predigt am 7. Ostersonntag
zu Joh 17,1-11a
Ja
mittendrin
da stehen wir
mittendrin
in dieser Welt
mit einem Auftrag
im Gepäck
Hört in euch hinein
hört aufeinander
sprecht von dem
was ihr erfahren habt
und dann
dann geht
hinaus
Beachte
die Reihenfolge
wenn Du
die
Verhältnisse
ändern
willst
Krisengeschüttelt
die Welt
krisengeschüttelt
dein Leben
krisengeschüttelt
alles um dich
herum
So war es
eigentlich
immer
schon
so wird es
wohl auch
bleiben
Doch eines
sei dir sicher
eines bleibt
genauso wahr
alleine
bist du
nicht
Immer wieder
gibt es da
den
einen
der so
denkt
wie du
Immer wieder
gibt es da
die
eine
die ganz anders
denkt
als du
Beide retten
dich
vor dem
Abgrund
beide helfen dir
den Weg zu finden
deinen Weg
Den Weg
der zum
Leben führt
ja
das Leben
selber
ist
Und sein Geist
sein Rückenwind
der kommt
vielleicht nicht heute
vielleicht auch nicht
gleich morgen
wart es nur ab
Denn sein
Versprechen
gilt
ich lasse dich
ohne Beistand
sicher nicht
zurück
Mach dich also
auf die Suche
noch ist
Zeit
und gewiss nicht
aller Tage
Abend
Alexander Bergel
23. Mai
.
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Predigt an Christi Himmelfahrt
zu Apg 1,1-11
Nun ist er endgültig weg. Auf und davon. Nicht mit einer Rakete, das dürfte allen klar sein, aber doch mit einigem Aufsehen. Weg geht er, weit weg in den Himmel. Und die Jünger? Und wir? Wir bleiben zurück. Wie so oft. Und müssen sehen, wie es weiter geht. Ja, wie geht es denn weiter? Was bleibt von dieser unglaublichen Botschaft? Was bleibt von Jesus? Was bleibt von ihm, wenn er weg geht? Es bleibt erst einmal die Frage: Bin ich bereit, ihm zu folgen? Ihm, der vom Frieden nicht nur sprach, sondern ihn lebte. Ihm, der mit jeder Faser seiner Existenz davon überzeugt war, dass die Liebe immer die stärkeren Argumente hat. Ihm, der barmherzig war. Und mutig. Und kraftvoll. Und am Ende tot.
Bin ich bereit, einem zu folgen, der alles gegeben hat, sogar sich selbst? Und bleibt es für mich nicht nur eine fromme Episode längst vergangener Zeiten, von der man auch nicht so richtig weiß, wie man sich das vorzustellen hat – bleibt es für mich nicht nur eine alte Geschichte, sondern reale Erfahrung, dass der, der starb, fürchterlich zugerichtet am Kreuz, dass genau der von den Toten auferstanden ist? Und macht es mir Mut, gibt es mir Kraft, darauf mein ganzes Leben zu gründen?
Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten – wann und wie auch immer vor 2000 Jahren der Tote als Lebender erfahren wurde, wann und wie auch immer er ganz zu seinem Vater heimging, wann und wie auch immer die Kraft aus der Höhe alles durcheinander gewirbelt hat, wann und wie auch immer das alles war – auf eines kommt es an: Gehe ich den Weg Jesu weiter? Traue ich mir das zu? Wenn ja, dann könnten wunderbare Dinge passieren: Was sich vernichtend durch mein Leben schlängelt, machtvoll und heimtückisch – es verliert seine Kraft. Was Beziehungen und Geschichten vergiftet – es endet nicht mehr tödlich. Krankes wird gesund, die Enge wird zur Weite, der Blick verändert sich. Keine Macht der Welt wird stärker sein als diese Freiheit, die der geben kann, der sich selbst verschenkt hat.
Heute spüren wir, welche Kraft von Ostern ausgeht: Einer stirbt, damit alle leben. Einer lebt, damit wir nicht ins Dunkle sinken. Einer sprengt die Dimensionen dieses Lebens auf, damit wir weit werden im Denken, Fühlen und Handeln. Einer sendet seinen Geist, damit das alles nicht in Vergessenheit gerät, sondern eine Zukunft hat. Doch Vorsicht: All das könnte frommes Gerede bleiben. Und zur bloßen Folklore verkommen. Oder zum vermuteten Kennzeichen einer kulturellen Identität. Es könnte aber auch anders sein. Es könnte uns packen. Wieder neu. Mich, Sie und viele mehr. Es könnte. Und dann? Ja, was wäre wohl dann?
Alexander Bergel
20. Mai
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Predigt am 6. Ostersonntag
zu Joh 14,15-21
Es dauert nicht mehr lange, dann ist er weg. Dann müssen sie selbst sehen, wie sie klar kommen. Keiner mehr, der die Dinge regelt. Keiner mehr, der an alles erinnert. Keiner mehr, der eine Ahnung davon gibt, was das heißt: Gott ist nicht weit weg, sondern mitten in der Welt. Irgendwann musste es so weit kommen. Aber jetzt? So plötzlich? Damit hatten sie nicht gerechnet, die Jünger. Und so sitzen sie da und müssen es erst einmal begreifen lernen, was das heißt, wenn Jesus sagt: „Ich gehe zum Vater.“
Es hat ziemlich lange gedauert, aber irgendwann war sie weg. Die gewohnte Idylle der kleinen, überschaubaren Pfarrei. Im Laufe der Jahrzehnte haben wir uns gut eingerichtet. Alles lief gut, jeder kannte seinen Platz, alle wussten, wie es funktioniert. Eine schöne heile Welt, so sollte es bleiben! Aber so blieb es nicht. Die Dinge verändern sich. Seit Jahren schon. Keine überschaubare Gemeinde mehr, sondern eine immer größer werdende. Keine eingespielten Muster mehr, sondern neue Herausforderungen. Keine Klarheit mehr, was das heißt, katholisch zu sein, sondern fließende Übergänge. Kein: „Wir machen das hier aber so!“, sondern die Frage: „Wie könnten wir es denn mal neu versuchen?“
Die Jünger damals erleben: Jesus geht weg. Wir heute spüren: Viel Gewohntes verschwindet, das, was Halt gegeben hat, ist nicht mehr sicher. Auf die Spitze getrieben erleben wir das in diesen Monaten der Krise. Aber in all dem steckt auch eine Aufforderung: Mensch, trau dir etwas zu! Bleib nicht stehen! Geh selber deinen Weg. Such ihn neu, Tag für Tag! Das, was dir vertraut war – es ist nicht mehr. Aber – das Leben erwartet dich!
Anders wäre es einfacher gewesen, damals wie heute. Jesus hätte doch noch einige Jahre so weiter machen können, den Frauen und Männern um ihn herum weiter von Gott erzählen, ihnen weiter den Weg bahnen können. Aber nein, das tut er nicht. „Ihr wisst alles, was ihr wissen müsst. Nun geht euren Weg!“
Und heute? Hätte nicht lieber doch alles so bleiben können, wie es war? Nein. Die Welt hat sich verändert. Und die Kirche auch. Manche sehen darin nur Abbruch, Verlust, Untergang. Andere aber das Wirken des Heiligen Geistes. Und der steht für Aufbruch, Offenheit und neue Kraft. Aber bevor etwas Neues kommen kann, muss das Alte vergehen!
Doch was bedeutet das nun? Es bedeutet: Mensch, verlass dich nicht auf andere. Nicht auf die religiösen Profis, nicht auf die Strukturen, nicht auf das, was die Leute sagen. Vertrau darauf, dass Gott zu dir spricht. Dass er dich braucht. Und du ihn. Trau dich, über deinen Glauben zu reden. Und über deine Zweifel. Trau dich, deinen Glauben nicht einzufrieren. Sondern immer neu zu suchen, was er für dein Leben bedeutet. Trau dich! Egal wie alt du auch bist: Trau dich, neu anzufangen! Und hab keine Angst! Denn: Du bist nicht allein. Und der Geist Gottes – der ist schon unterwegs!
Alexander Bergel
16. Mai
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Predigt am 3. Ostersonntag
zu Joh 21,1-14
Wohin nur?
Wohin nur soll ich gehen?
Weg.
Weit weg!
Am besten dorthin,
wo man weiß,
wie’s läuft.
Zurück heißt das,
zurück also in die Vergangenheit:
Lasst uns fischen gehen.
Da wissen wir,
wie’s geht,
früh zur Arbeit,
spät nach Haus.
Ob’s das bringt?
Einer muss es tun.
Und von irgendwas
muss jeder leben.
Ja, Mensch,
das stimmt.
Doch das,
das wird dir auch zur Frage:
Wovon lebst du?
Wovon lebst du wirklich?
Denn:
Dein Netz ist leer.
Und die Nacht war lang.
Wie sich das anfühlt,
das weißt du nur zu gut.
Gerade in diesen
Zeiten.
Doch da:
Ein Fremder kommt.
Gibt seinen Rat:
Mach‘s anders!
Tu es so, wie nie zuvor!
Wirf das Netz neu aus.
Wage den Schritt,
den Schritt
ins Unbekannte.
Dort wartet es,
das Leben.
Und ein Feuer,
das dir brennt.
Vielleicht sogar
in dir.
Und ein Verwundeter,
der dir zur Antwort wird.
Und ein Gott,
der neue Wege weist.
Er sagt dir:
Du darfst,
du sollst,
ja, du wirst
leben!
Mach dich also auf!
Geh einfach los!
Und denke dran:
Du musst es nicht
alleine tun.
Er ist da.
Und wir ja auch.
Sieh dich nur um!
Was meinst du –
zusammen könnte es doch gehen.
Das mit dem Leben.
Mit dem neuen Aufbruch.
Mit der Freude.
Und der Kraft.
Ostern ist möglich.
Du musst es wollen,
wirklich wollen.
Und wagen auch.
Einer wartet schon.
Und viele
gehen mit.
Alexander Bergel
25. April
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Predigt an Ostern
zu Joh 20,1.11-18
Es hätte so schön werden können. Nach all dem Drama. Nach all dem Chaos. Nach all der Verzweiflung. Sie war gerade dabei zu verstehen, wirklich zu verstehen: Er ist tot. Der, der ihr so nahe war wie niemand sonst – er lebt nicht mehr. Hingerichtet. Ausgelöscht. Zerstört. Ein ganzes Menschenleben. Und nicht nur seins. Wie viele hatten auf ihn gehofft? Wie viele hatten sich danach gesehnt, dass seine Idee vom Leben, von der Welt – wie sehr hatten sie alle gehofft, dass er sich durchsetzen würde? Dass keine Macht der Welt das je verhindern könnte? Dass Ungerechtigkeit und Hass und Unterdrückung verschwinden vom Angesicht dieser Erde? Und alles, wirklich alles neu würde?
Ja, so viele hatten es gehofft. Auch sie. Maria aus Magdala. Sie hatte es doch schon gesehen. Sie hatte gesehen, wie Menschen ihr Leben änderten, weil Jesus zu ihnen sprach. Sie hatte gesehen, wie verkorkste Biographien eine neue Richtung bekamen. Ihre eigene auch. Sie hatte gesehen, wie Menschen wieder aufrecht gehen, neu sehen und hören lernten. Sie hatte gesehen, wie Lazarus wieder ins Leben zurück fand. Immer wieder und immer öfter hatte sie, hatten so viele gespürt: Da bringt einer neues Leben in die Welt. Da bleibt Gott keine wage Idee, keine Geschichte – nein: Gott bekommt Hand und Fuß. Die alten Geschichten von der Befreiung – damals in der Arche, damals am Roten Meer, damals nach der Verschleppung ins Exil –, diese Geschichten gehen weiter. Und bekommen ein weiteres Kapitel hinzu. Und ein Gesicht. Und Hände, die berühren, kraftvoll und zärtlich zugleich.
All das ging ihr unter die Haut. Und nun das. Alles war zusammen gebrochen am Nachmittag dieses schrecklichen Tages auf Golgota. Da hing er. Zwischen Himmel und Erde. Jesus. Und schrie seine Verzweiflung heraus. Als alle weg waren, als sich alle auf und davon gemacht haben – aus Panik, aus Angst, aus Verzweiflung –, da legt sie ihn ins Grab. Josef und Nikodemus waren auch dabei. Und seine Mutter. Und der, den Jesus liebte. Und ein paar andere Frauen. Noch einmal berühren. Noch einmal nahe sein. Noch einmal in dieses Gesicht blicken. In ein Gesicht, an dem sich so viel ablesen ließ. Aber nun – nun ist er tot. Das Grab ist voll. Stein davor. Aus und vorbei.
Nach einem langen quälenden Tag, der voller Fragen war, nach diesem Tag aus Blei macht sie sich auf. In aller Frühe. Dunkel war es noch. Die Sehnsucht treibt sie durch die Straßen und Gassen hinaus vor die Stadt. Zu ihm. Einmal noch – einmal noch möchte sie ihn berühren. Ihn salben mit duftendem Öl. Um den Gestank des Todes zu vertreiben. Nur einen kurzen Moment. Nur noch ein einziges Mal. Doch dann – der Stein ist weggerollt. Und Jesus? Fort! Frau, warum weinst Du? Hört sie. Und sieht in strahlendem Weiß jemanden, der sie das fragt. Sie will wissen, wo er ist. Und dreht sich um. Und sieht – einen Gärtner? Sag mir, wo du ihn hingelegt hast! Seine Antwort: Maria!
Was für eine Szene! Die tränenschweren Augen brauchen lange, bis sie im Tod den Lebenden erkennen. Aber wenn es dann geschehen ist, gibt es kein Halten mehr: Rabbuni, lieber Meister, ruft sie aus – und will ihn berühren, ihn in ihre Arme schließen. Aber das geht nicht. So schmerzhaft es auch ist: Wer dem Tod entronnen ist, lässt sich nicht mehr so einfach anfassen. Wer die Grenze des Todes überschritten hat, ist auf eine andere Weise da. Nicht greifbar. Was für eine Enttäuschung! Welch schreckliche Grenze zwischen Jesus und Maria. Wo sie doch so glücklich war, ihn wieder zu haben. Es hätte so schön werden können.
Berühren verboten! Das erleben wir in diesem Jahr. Wir feiern Ostern auf Abstand. Dürfen keine Menschen in die Arme schließen, die uns so nahe sind. Und wertvoll und kostbar. Menschen sterben allein, weil niemand da ist, nicht da sein darf, der ihre Hand hält. Menschen werden im kleinsten Kreis beigesetzt. Manche können sich nicht einmal von ihren Verstorbenen verabschieden. Kein letztes Bild, keine letzte Berührung. Was für ein Schmerz! Viele wünschten sich, an diesem Osterfest – wie immer an Ostern –, einander in den Armen zu liegen, auf das Leben anzustoßen, zu feiern bis der Morgen kommt, bis die Sonne aufgeht und die Schatten des Todes verblassen. Es geht nicht …
Maria am Grab. Vor ihr der, den ihre Seele so sehr liebt. Berührung ausgeschlossen. Sie kann ihn nicht festhalten. Denn er ist schon einen Schritt weiter gegangen. Und was macht sie? Sie schaut ihn an. Spürt seine Liebe. Und die Kraft, die von ihm ausgeht. Trotz allem. Und durch all das hindurch. Und geht los. Gestärkt von seinem Blick. Von seinen Worten. Von seinem Lächeln. Maria rennt los. Und erzählt, was geschehen ist: Ich habe den Herrn gesehen! Berühren konnte sie ihn nicht. Aber die ganze Welt hat es dennoch erfahren. Weil sie so berührt war. Voll von seiner Kraft. Und einfach losging. Berühren verboten! Berührt sein nicht. Könnte so vielleicht doch Ostern werden?
Alexander Bergel
11. April
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Predigt am Karfreitag
Die Welt,
wie wir sie kannten,
gibt es nicht mehr.
Unsere Sicherheiten?
Weg.
Unser Durchblick?
Vorbei.
Unsere Macht?
Dahin.
Was bleibt,
sind Ängste.
Und Fragen.
Viele Fragen.
Wie so oft.
Wie geht es weiter?
Was kommt danach?
Und: Werde ich überleben?
Vor einem Jahr
lag eine Kirche in Trümmern.
Notre-Dame brannte.
Lichterloh.
Im Herzen von Paris.
Schutt und Asche überall.
Und mittendrin:
ein Kreuz.
Für manche wurde es
zum Bildnis.
Für das, was nicht mehr ist.
Es steht noch immer da.
Und strahlt golden.
Das Kreuz in Schutt und Asche.
Doch – wer sieht es noch?
In diesen Wochen –
da strahlt rein gar nichts mehr.
Ängste – wohin man blickt.
Einsamkeit – nicht nur im Altenheim.
Tod – all überall.
Hier noch nicht.
Doch – wer weiß?
Bilder von dem, was ist,
ziehen an uns vorüber.
Jeden Abend neu.
Und wenn da einer fragt:
Warum? –
dann steht es wieder da,
das Kreuz.
Nur nicht strahlend.
Sondern leidgetränkt.
Heute ist Karfreitag.
Der Tag,
an dem einer es
herausschreit:
Warum,
ja, mein Gott, warum?
Warum das alles?
Warum nur
hast du mich
verlassen?
Jeder kennt sie,
diese Frage.
Und jeder hat sie.
Oder nicht?
Es ist die Frage,
auf die es keine Antwort gibt.
Auch wenn viele es
versuchen.
Zu schnell,
viel zu schnell
kommt mir die Antwort oft
daher.
Egal, was ist.
Egal, was ich erleide.
Egal, was mir zwischen den Händen zerrinnt.
Egal, welcher Tod mein Leben durchkreuzt
oder das meiner Lieben.
Oder das der vielen,
deren Name ich nicht kenne.
Die aber einen haben.
Und Menschen, die um sie trauern.
Egal, woran ich auch verzweifle –
wer kann schon sagen:
Darum ist es geschehen!
Nein,
Leid hat keinen Sinn.
Leid ist zerstörerisch.
Leid folgt keinem Plan.
Einem göttlichen schon gar nicht.
Aber wenn die Erde brennt,
wenn alles ins Wanken gerät,
wenn unsere Sicherheiten keine sind,
wenn alles, was wir kennen, anders wird,
wenn Menschen gehen – einfach so,
wenn sie sterben müssen,
wenn wir sterben müssen –
was bleibt denn dann?
Es bleibt ein Gott,
der keine Antwort gibt.
Es bleibt ein Gott,
der nicht erklärt,
warum es gut war
oder hilfreich
oder pädagogisch wertvoll.
Glaubt niemandem,
der euch das
einreden will!
Es bleibt ein Gott,
der schreit.
Und zweifelt.
Der
– selbst Mensch –
zwischen Himmel und Erde hängt,
ausgelacht und angespuckt,
verhöhnt und lächerlich gemacht,
von oben herab
den Platz des Letzten einnimmt,
der selbst fragt:
Warum, Vater,
warum?
Und keine Antwort findet.
Der verlassen
und elendig da hängt.
Und stirbt.
Und tot ist.
So einfach.
So grausam.
Doch –
auch wenn es keiner glaubte,
bis auf ein paar vielleicht,
die genauso fragten
wie er:
Warum?
Und die es sahen,
wie er endete.
Und die nichts tun konnten.
Genau diese Menschen
kamen wieder.
Obwohl die Fakten dagegen sprachen –
wie so oft
und wie immer wieder
und immer noch –
diese Menschen kamen
wieder.
Am dritten Tag.
Und fanden ihn nicht.
Sie fanden auch keine Antwort.
Kein: Darum!
Aber sie spürten plötzlich –
oder vielleicht auch erst
viel später,
dass der,
dem sie trauten,
der,
dem sie folgten,
der,
der bis zum Schluss aushielt,
nicht mehr tot war.
Sondern lebte.
Ob das die Antwort ist?
An diesem Tag?
An allen anderen Tagen auch?
Ob dies
die Antwort Gottes ist?
Dass da einer
alles durchgemacht,
mitgemacht
zu Ende gebracht hat?
Damit wir nicht verzweifeln?
Nicht im Sinnlosen untergehen?
Sondern weiter gehen?
Am Ende gar auferstehen?
Und nicht erst am Ende –
sondern auch schon hier
und jetzt?
Alexander Bergel
10. April
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Predigt am Gründonnerstag
zu Joh 13,1-15
Jesus lehrt.
Und die Jünger –
begreifen
nichts.
Kämpfen um
Ansehen
und Macht.
Also wird Jesus
handgreflich.
Legt sein Gewand ab.
Und eine Schürze an.
Begreift ihr,
was ich an
euch
getan habe?
Petrus?
Jakobus?
Johannes?
Judas?
Dirk?
Klara?
Elisabeth?
Nils?
Er kniet sich
in den
Dreck.
In den
Abgrund.
Und schaut uns
an.
Begreift ihr es
jetzt?
Alexander Bergel
9. April
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Predigt am Palmsonntag
zu Joh 11,45-57
Die Stimmung ist aufgeheizt. Viele spüren: Es liegt etwas in der Luft. „Das Paschafest der Juden war nahe, und viele zogen schon vor dem Paschafest aus dem ganzen Land nach Jerusalem hinauf, um sich zu heiligen. Sie suchten Jesus und sagten zueinander, während sie im Tempel zusammenstanden: Was meint ihr? Er wird wohl kaum zum Fest kommen. Die Hohenpriester und die Pharisäer hatten nämlich, um ihn festnehmen zu können, angeordnet: Wenn jemand weiß, wo er sich aufhält, soll er es melden.“
Die Sehnsucht der Menschen ist groß. Die Sehnsucht nach Freiheit. Die Sehnsucht nach Würde. Die Sehnsucht nach gutem, gelingendem Leben. Und so warten Menschen aller Zeiten darauf, dass einer kommt, der all das möglich macht. Die Menschen damals warteten auf einen, der die Römer zum Teufel jagt. Der dem religiösen Establishment zeigt, wie verlogen und korrumpiert das System geworden ist. Der die Herrschaft Gottes aufrichtet, die alles völlig verändern wird. Viele sehen in Jesus den, der genau das tun kann. Aber wird er kommen? Wird er es wagen, sich in dieser aufgeheizten Situation in Jerusalem zu zeigen? „Was meint ihr, er wird wohl kaum zum Fest kommen.“
Die Sehnsucht der Menschen ist groß. Auch heute. Die Sehnsucht danach, sich begegnen zu können. Die Sehnsucht danach, sich an das zu erinnern, was damals war. Und es zu feiern. Mit vielen anderen. Damit die Kraft der Ereignisse von damals auch heute spürbar wird. Damit das, was Jesus für die Menschen damals war, sich auch heute ereignet. „Er wird wohl kaum zum Fest kommen.“ Das ist die Situation. Denn das Fest ist abgesagt. Vielen tut das weh. Viele vermissen es. Denn seien wir doch ehrlich: Wer kann schon ohne die anderen leben? Wer kann sich schon selbst das Wort sagen, das tröstet und befreit? Keiner kann das. Dabei ist es in Zeiten wie diesen wichtiger denn je. Doch wenn wir genau hinschauen – all das passiert gerade. Oder?
Wer hätte gedacht, wie erfinderisch Menschen werden können, wenn es darum geht, sich zu begegnen. Nicht von Angesicht zu Angesicht. Aber auf andere Weise. Menschen schreiben plötzlich wieder Briefe. Und telefonieren. Entdecken neue Medien für sich und nutzen sie. Menschen haben Zeit füreinander. Kümmern sich um Alte und Kranke. Gehen einkaufen. Erledigen Unaufschiebbares. Sind auf eine Weise da, wie man es kaum für möglich gehalten hätte. Und entwickeln Perspektiven für die Zeit danach.
„Was meint ihr, er wird wohl kaum zum Fest kommen.“ Doch. Er kommt. Damals war er jedenfalls da. Und alles wurde anders. Allerdings – und damit muss man bei Jesus immer rechnen – nicht so, wie viele es erwartet hatten. Nur wenige konnten das ertragen. Und heute? Ich glaube, er ist da. Wie gewohnt auf seine Weise. Vielleicht hat er schon längst Einzug gehalten. In unserer Stadt. In meiner Straße. Bei mir zuhause. Vielleicht hat er schon längst angefangen, die Rettung zu bringen, auf die wir so sehnsuchtsvoll warten. Vielleicht ist sein Einzug von einer Art, die mehr verändern kann, als wir heute meinen. Stiller als sonst. Aber nicht wirkungslos. Anders halt. Typisch Jesus eben. „Wenn jemand weiß, wo er sich aufhält, soll er es melden.“
Alexander Bergel
4. April
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Predigt am 5. Fastensonntag
zu Joh 11,1-45
Krank war er. Und bald darauf tot. Weggepackt. Mit Stein davor. Lazarus von Bethanien. Weg war er. Einfach nicht da. Auf und davon. Wie so oft. Jesus von Nazareth. „Auf, mach dich auf, du Menschensohn, komm doch! Komm und sieh. Sieh, was geschehen ist. Sieh, was immer geschieht: Menschen sterben. Träume zerbersten. Hoffnungen liegen brach.“ Ja, so ist sie wohl, die Welt. Und mittendrin die Frage: Wo warst du? Und noch mehr: Wo bist du? Ja, wo bist du, Gott? Ach, wärest du doch hier gewesen. Hättest du doch eingegriffen …
Ja, Herr, warum tust du es nicht? Du siehst doch die Welt. Die Welt, wie sie ist: Krankheit und Tod, wohin man blickt. Beziehungen, die zerbrechen, weil keiner mehr weiß, wie es gehen kann. Eltern, die den Draht zu ihren Kindern verlieren. Kinder, die darauf warten, dass ihnen einer sagt: Ich hab dich lieb. Menschen, die sich das Leben zur Hölle machen. Ach, Herr, wärest du da gewesen … Warst du aber nicht. Und so geht sie weiter, die Suche nach dem Leben.
In allem Zerbrochenen. In all dem Schmerz. In all der Angst. In der Angst vor einer Diagnose. Vor der Wahrheit. Vor dem Abbruch. Vor dem Tod. Doch, Moment – wie war das noch gleich? „Herr, wärest du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben!“ Marta geht einen Schritt weiter. Sie bleibt nicht stehen bei dem, was alle sehen. Nein, sie glaubt. Und vertraut. Sie schenkt Jesus ihr Herz, denn sie spürt: Er bleibt auch nicht stehen. Er bleibt nicht stehen bei dem, was alle sehen. Jesus lässt sich berühren. Ist im innersten erschüttert. Und weint. „Seht, wie lieb er ihn hatte.“ Und dann geschieht das Unfassbare: Der Tote kommt heraus. All das, was ihn fesselte, fällt ab von ihm. Die Maske des Todes – weg!
Welch phantastische Wendung. Typisch Bibel eben. Doch – was ist mit uns? Mit unserer Angst, unserer Sprachlosigkeit? Was ist mit den Fakten, die unbarmherzig dagegen sprechen? Es sind Fakten. Aber wer hindert uns daran, in allem Scheitern, in all dem Kaputten, ja selbst im Tod einen Gott zu erkennen, der zutiefst erschüttert ist von meinem Leid? Was hindert mich daran, trotz der Gegenargumente ihm mein Herz zu schenken? Was hindert mich daran, zu glauben, dass da einer mit mir weint? Dass da einer den Kerker meines Herzens öffnet? Dass da einer meine Angst durchdringen will mit seinem Blick? Dass da einer ist, der mir sagt: „Lebe, Mensch, lebe!“?
Ach ja, Herr, zeige dich doch! Ich warte so sehr darauf. Maria und Marta – sie haben dir vertraut. Und Lazarus lebt! Der Blinde – er hat dir geglaubt und konnte wieder sehen. Die Frau am Jakobsbrunnen – sie hat dir ihr ganzes chaotisches Leben gezeigt, und du hast ihr einen neuen Blick geschenkt. Ja, du hast Menschen verändert, bewegt, geheilt. Oft ziemlich unspektakulär. Immer aber verbunden mit einer Frage: Glaubst du mir?
Alexander Bergel
28. März
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Predigt am 3. Fastensonntag
zu Joh 4,5-42
Sonne.
Glühend heiß.
Und mittendrin:
ein Brunnen.
Nicht
Jerusalem.
Nein:
Irgendwo.
Zwei
begegnen sich.
Keine Nachricht
wert.
Die Hitze
aber
ändert
das.
Trinken
wollen sie.
Der eine
wie die andere.
Nur:
Was
löscht
den Durst?
Den Durst nach Liebe
Den Durst nach Leben
Den Durst nach Sinn
Den Durst nach …
Was löscht den Durst?
Mehr Fragen sind es
– mal wieder –,
mehr Fragen,
als Antworten
zur Stelle wären.
Die üblichen
Frage-Antwort-Spiele
aber –
sie sind es nicht:
Wie geht`s, wie steht`s?
Danke.
Muss ja.
Schönen Tag noch.
Nein, er geht
ans Eingemachte.
Und sie
auch.
Er weiß
was war.
Sie sucht
was ist.
Umständlicher
geht`s wohl kaum.
Leichter
auch nicht.
Denn
das Leben
ist
nicht einfach.
Wer bin ich?
Wer war ich?
Wer werde ich
sein?
Hält Gott
die Wüste meiner Fragen aus?
Halte ich
sie aus?
Wann erlebe ich es?
Dass mir einer zuhört?
Dass mir einer sagt, was läuft?
Dass mir einer seine Nähe schenkt,
die alles verändert?
Sonne.
Glühend heiß.
Und mittendrin:
ein Brunnen.
Nicht
Jerusalem.
Nein:
Irgendwo.
Zwei
begegnen sich.
Keine Nachricht
wert.
Die Hitze
aber
ändert
das.
Trinken wollen
sie.
Der eine
wie die andere.
Was aber löscht denn nun
den Durst?
Noch besser:
Wer?
Alexander Bergel
14. März
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