Gedanken zu einem besonderen
Kirchraum

Wenn ich schlechte Laune habe, setze ich mich in die Kirche. Nicht in irgendeine Kirche, sondern in meine Kirche. Meine Kirche steht bei uns im Stadtteil. Ich kann sie mit dem Rad in vier Minuten erreichen. Meistens steht das Portal offen. Durch die Glastür des Windfangs kann ich einen Blick in den Innenraum werfen. Er ist schlicht, keine überflüssigen Verzierungen. Die Wand hinter dem Altar wird maßgeblich von dem großen Kreuz bestimmt: zwei einfache sich orthogonal kreuzende Balken, denen durch das kunstvolle Spiel von Licht und Schatten ein geheimnisvoller Charakter verliehen wird. Vielmehr Schmuck befindet sich in der Kirche gar nicht, nur weiße Wände, die je nach Tageszeit in ein anderes Licht getaucht werden.

Eigentlich stehe ich ja mehr auf gotische Kirchen, diese offenen, sich in die Höhe windenden Bauten, die mir einen atemberaubenden Eindruck von der Größe Gottes vermitteln. Und trotzdem würde ich meine Kirche, jeder noch so extravaganten Kathedrale vorziehen. Ich fühle mich in diesem Raum wohl. Hier kann ich sein. Hier habe ich Platz für meine eigenen Gedanken und Gefühle. Keine Skulpturen, die mich ablenken, keine architektonischen Schnörkel, die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Einzig Gott – und ich.

Manchmal brauche ich das. Besonders, wenn das eigene Gedanken- und Gefühlschaos so unübersichtlich wird, dass es in schlechte Laune umschlägt. Dann setze ich mich in meine Kirche, in diesen leeren Raum und lasse all das, was in mir herumwirbelt los. Und es wird gehalten, das weiß ich und das spüre ich, hier in meiner Kirche.

Haben Sie auch so einen Wohlfühlort? Sie müssen jetzt gar nicht an irgendeine Kirche oder einen anderweitigen sakralen Raum denken. Ein Wohlfühlort kann alles sein: ein Platz in der Natur, eine ruhige Nische in Ihrem Lieblingscafé, die gemütliche Ecke Ihrer Couch, oder einfach der flackernde Schein einer Kerze … Manchmal kann auch ein Mensch ein solcher Wohlfühlort sein: Jemand, der mich nimmt, wie ich bin, der mich liebt, ohne ein einschränkendes Aber dahinter zu setzen.

Wichtig ist nicht, wo sich dieser Ort befindet, sondern was er in Ihnen auslöst. Wo können Sie alles hinter sich lassen: die Hektik des Alltags, den Eindruck, es ständig jemandem Recht machen zu müssen, die Angst nicht zu genügen, das Gefühl, so viele Rollen gleichzeitig spielen zu müssen … Wo können Sie sagen: Hier bin ich – und das ist gut so!

Es gibt im Neuen Testament eine Geschichte, die von einem solchen Wohlfühlort erzählt: Im 17. Kapitel des Matthäusevangeliums wird berichtet, wie Jesus mit einigen seiner Jünger auf den Berg Tabor wandert. Oben auf dem Berg angekommen verwandelt sich Jesus und taucht alles in ein helles, warmes Licht, so dass die Jünger eine Ahnung von der strahlenden Herrlichkeit Gottes bekommen. Alles, was war ist passé. Der Alltag – vergessen. Alles, was zählt, ist diese unglaubliche Erfahrung der bedingungslosen Liebe – ein Wohlfühlort.

Der Jünger Petrus ist so überwältigt, dass er am liebsten für immer dort bleiben würde und beschließt, Hütten zu bauen. Leider muss er sehr schnell feststellen, dass Wohlfühlorte nicht für den dauerhaften Aufenthalt gemacht sind. Sie sind Schutzräume zum Abschalten und Kraft tanken, aber irgendwann kommt immer der Sprung zurück in den Alltag. Und so muss auch Petrus zurück ins Tal, dorthin, wo alles ist wie immer … Alles? – Nein! Petrus selbst hat sich verändert. Er trägt die Erfahrungen vom Berg Tabor in sich, die ihn vielleicht dazu bringen, in bestimmten Situationen anders zu reagieren als sonst: gelassener, wissender, freier.

Ich gestehe, dass ich viel zu oft an meiner Kirche vorbeihaste und nicht einmal durch die offenen Türen hindurchschaue – zu lang scheint dann die Liste mit kleinen und großen Tätigkeiten, die ich noch erledigen muss. Meist bereue ich das. Irgendwann. Spätestens dann, wenn der Alltag mich erledigt hat … Das muss nicht sein. Nicht für mich – und nicht für Sie.

Ich habe für heute einen kleinen Auftrag für Sie: Suchen Sie sich Ihren ganz persönlichen Wohlfühlort, ihr kleines Tabor, wo nichts und niemand Ansprüche an Sie stellen kann. Und wenn Sie diesen Ort gefunden haben: Verweilen Sie dort einen Augenblick. Es lohnt sich!

Sonja Hillebrand
Referentin in der Pastoralentwicklung im Bischöflich-Münsterschen Offizialat Vechta
und Mitglied unserer Pfarrei

Diese Gedanken wurden zuerst veröffentlicht am 22. Oktober
in der Oldenburgischen Volkszeitung

Bild: Dirk Tietz