»Ich kann ja doch nichts tun!« Viele sehen das so. Kriege allüberall. Armut in weiter Ferne und immer häufiger auch nebenan. Selbstverliebte Männer, die an der Spitze von Staaten und Konzernen ihr Ding machen. Eine Müdigkeit, die sich auf die Seelen legt. Kinder und Jugendliche, die immer weniger miteinander sprechen können oder wollen, weil sie von diffusen Ängsten zerfressen werden. Ein Gefühl der Hilflosigkeit – überall ist es mit Händen zu greifen. Auswege? Nicht in Sicht.

Und mittendrin, mitten in einer Welt voller Fragen und Sorgen, voller Angst und Isolation feiern wir Weihnachten. Ein Stück heile Welt inmitten einer Welt voller Unheil. Ist es das? Ehrlich gesagt: Nein. Weihnachten ist kein Stück heile Welt in einer Welt voller Unheil. Weihnachten ist die Antwort auf die Frage, die sich Gott gestellt haben könnte, als er auf eine Welt blickt, die eigentlich mal als gute Schöpfung gedacht war. Weihnachten ist seine Antwort auf die Frage: »Was kann ich denn tun?« Und die Antwort, die Gott findet, lautet: »Werde Mensch!«

So etwas hatte es zuvor noch nie gegeben. Sicher, die alten Mythen der Griechen und Römer erzählen davon, dass die Götter auch mal Menschengestalt annehmen, um sich schönen Frauen zu nähern oder auf andere Weise eine Abwechslung ins zwar allmächtige, aber doch recht triste Götterleben zu bringen. Hier ist es anders. Werde Mensch – das bedeutet in unserem Fall: Gott verkleidet sich nicht, er will auch nicht ein bisschen mehr Abwechslung oder mal eine himmlische Auszeit. Nein, wenn Gott Mensch wird, dann, um es ganz und gar zu sein. Ein für alle Mal.

Was aber heißt das – Mensch sein? Zuallererst einmal: Ich bin liebenswert. Ich habe eine Würde. Einen Namen und ein Gesicht. Das ist die erhabene Grundlage. Doch dann wird es schnell sehr praktisch. Zum Menschsein gehört die erste und ganz sicher nicht die letzte vollgemachte Windel. Zum Menschsein gehört, keine Sprache zu haben, um die Schmerzen zum Ausdruck zu bringen, die mir die ersten Darmkoliken bereiten. Zum Menschsein gehören die freudestrahlenden Gesichter meiner Eltern, wenn sie mich das erste Mal sehen. Dieselben Gesichter sind nach wochenlanger Schlaflosigkeit zwar ziemlich erschöpft, aber immer noch spricht diese einzigartige Liebe aus ihren müden Augen.

Was heißt es, Mensch zu sein? Ich werde größer, entdecke die Welt, lerne andere Menschen kennen. Irgendwann spüre ich: Ich bin nicht die Mitte des Universums. Ich habe vielleicht Geschwister. Auf jeden Fall sind da irgendwann andere Kinder, mit denen ich spielen kann. Und wenn ich sechs Jahre alt bin, wird meine Welt wieder größer, denn nicht nur Zahlen und Buchstaben tauchen da plötzlich auf, sondern ich gehe morgens um 8 allein aus dem Haus. Immer mehr entdecke ich, was das Leben an Wunderbarem, aber auch Herausforderndem für mich bereithält. Die erste Liebe mit ihren explodierenden Gefühlen ebenso wie der Schmerz, wenn diese Liebe zerbricht.

»Leistung«, höre ich, »Leistung ist wichtig! Streng dich an, damit aus dir was wird!« Ja, erwachsen werden bedeutet, das Paradies der Kindheit (idealerweise ist es eins) zu verlassen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Was soll ich werden? Was kann ich? Was möchte ich? Manche finden es schnell heraus. Andere suchen ein Leben lang. Ich lerne: Entscheidungen prägen meine Zukunft. Manches bleibt für immer. Anderes hingegen muss immer wieder auf den Prüfstand. Ich lebe mein Leben – mit anderen und für mich. Bis ich am Ende dieses Lebens, alt geworden, mit so mancher Krankheit vertraut, aber auch gesegnet mit vielen Erfahrungen und – hoffentlich – beschenkt mit ganz viel Liebe, auf dieses, auf mein Leben zurückblicke und sage: Ich war ein Mensch.

Was heißt es, Mensch zu sein? All das. Und genau das muss Gott gewollt haben, als er sich entschloss, selbst einer zu werden. Er wollte nicht nur aus der Distanz heraus wissen, was das ist. Nein, ganz offensichtlich wollte er es am eigenen Leib erfahren. Und dann – jetzt kommt die Pointe – hat er all das, was Menschen an Gutem möglich ist, auch getan. Jesus, dieser Mensch gewordene Gottessohn, hat Gottes Zärtlichkeit in die Welt gebracht. Sein Herz schlug für die, die am Rande lebten. Er stellte Kinder in den Mittelpunkt, gab Frauen ihr Ansehen und ihre Würde zurück, hörte nicht auf zu heilen, obwohl das Elend immer größer wurde. Jesus war und blieb ein Mensch auch dort, wo alle anderen schon längst weggelaufen waren. Jesus war und blieb ein Mensch, als er selbst in tiefster Verzweiflung steckte. Jesus war und blieb ein Mensch, als er starb. Und dann – dann hat Gott noch eins draufgesetzt. Jesus war und blieb ein Mensch, als am Ostermorgen die Sonne aufging und der Tod – völlig überraschend – den Kürzeren gezogen hatte. Warum? Weil da ein Mensch durchgehalten hatte. Bis zum Schluss.

»Ich kann ja doch nichts tun!« – für Jesus war das keine Option. Er, dessen Geburt wir heute feiern, hat sich nicht von seinem Weg abbringen lassen. Mir macht das Mut. Mut, mich von dem Satz »Ich kann ja doch nichts tun!« zu verabschieden. Ich kann etwas tun. Ich kann ein Mensch sein. Mit meiner Geschichte, mit meinen Zweifeln, mit meinen Wunden, mit meiner Kraft, mit meinen Ideen, mit meiner Liebe. Ich kann Mensch sein für andere Menschen und diese Welt nicht dem Untergang überlassen. Das ist Weihnachten? Ja, ich glaube: Genau das ist Weihnachten!

Alexander Bergel

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Die Weihnachtspredigt von Dirk Schnieber
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