Die Sehnsucht ist groß. Unendlich groß. Dass es wahr wird. Dass endlich wahr wird, was geschrieben steht: „Der Herr wird abwischen die Tränen von jedem Gesicht“ (Jes 25,8). Ja, die Sehnsucht nach Trost und Heilung, sie ist unendlich groß. Die Realität jedoch, die ist eine andere. So viel Leid. So viel Hass. So viel sinnloses Sterben. Ohnmächtig stehen wir all dem gegenüber. Sehen die Bilder. Hören die Bomben. Zumindest über die Medien. Das allein ist schon kaum auszuhalten. Wie aber geht es denen, die mittendrin sind? Die zusehen müssen, wie ihre Liebsten sterben. In Israel und Palästina. In der Ukraine. Und an tausend anderen Orten dieser Erde. Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Tag für Tag. Und das seit Menschengedenken.

Um zu überleben, haben sich Menschen in alten Zeiten Hoffnungsworte zugeraunt, zugeflüstert und, wenn es nicht mehr auszuhalten war, immer lauter zugerufen, damit es alle hören: „Seht, da ist unser Gott! Er entfernt die Schande seines Volkes von der ganzen Erde!“ (Jes 25,8). Uralt sind diese Worte, aufgeschrieben vom Propheten Jesaja. Und sie hallten weiter bis in unsere Tage. Kritiker der Religionen sehen darin allerdings den verzweifelten Versuch, zu retten, was zu retten ist, damit der tatenlos zuschauende Gott zumindest am Ende der Tage die Chance bekommt, seine Gerechtigkeit aufzurichten, den Hass der Menschen hinwegzufegen und alles neu zu machen. Vielleicht müsste man diesen Kritikern sogar recht geben. Wenn es da nicht dieses eine Volk gäbe: Israel. Wie niemand sonst haben Jüdinnen und Juden durch die Jahrtausende hindurch immer und immer wieder erfahren müssen, was es heißt, verachtet, gedemütigt und ausgelöscht zu werden. Und dennoch hat dieses Volk niemals aufgehört, so von Gott zu sprechen, wie wir es eben gehört haben: „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht“ (Ps 23,4).

Die Bibel beschreibt auf beinahe jeder dritten Seite, wie Israel gequält, vertrieben und vernichtet wurde. Bis ins letzte Jahrhundert hinein reicht diese Spur des Unheils, als mitten in Europa Millionen von Menschen ihr Leben lassen mussten, weil eine verbrecherische Ideologie es so wollte und der Widerstand nicht stark genug war. Und nun erleben wir es wieder, so schlimm wie seit dem Holocaust nicht mehr: Wir sehen, wie Menschen abgeschlachtet werden. Aus blankem Hass. Einfach so. In all diesem Wahnsinn klammern sich gläubige Juden immer noch und immer wieder an ihren Gott, liegen ihm mit Fragen, mit Vorwürfen, mit ihrer Verzweiflung in den Ohren, lassen sich aber auch nicht ausreden, dass dieser Gott selbst im tiefsten Abgrund an ihrer Seite ist.

Wohin Fanatismus führt, religiös verbrämter obendrein, sehen wir im Lande Abrahams, Isaaks und Jakobs, im Lande der Propheten, im Lande Jesu seit Jahrtausenden. Doch genau in diesem Land haben Menschen auch niemals aufgehört, dem Gott des Lebens zu vertrauen. Haben Kraft geschöpft und Wege des Friedens gesucht. So wie jener Mann aus Nazareth, Sohn des Volkes Israel, der in seinen Gleichnissen von all dem sprach, was Menschen bewegt und beugt und lähmt. Heute fordert er uns heraus, sich darüber klar zu werden, was am Ende wirklich nötig ist, um glücklich zu sein (vgl. Mt 22,1-14). Die Dinge, denen wir die Macht über unser Leben geben – sie sind es nicht. Die eigene Wichtigkeit ist es noch weniger. Und all das, was unbedingt erledigt werden muss, schon gar nicht. Am Ende ist es vielleicht einzig und allein die Erfahrung, dass da einer ist, der mich in seinen Armen hält, der meine Tränen trocknet und der mir die Kraft gibt, trotz allem ein Hoffender, eine Hoffende zu bleiben.

Ich bewundere Menschen, von denen uns die Bibel mit alten Worten immer wieder neu erzählt. Menschen, die sich trotz tiefster Leiderfahrungen ihren Glauben nicht ausreden lassen. Denen die Hoffnung nicht ausgeht. Die so zu Baumeisterinnen und Baumeistern einer neuen Welt geworden sind. Und die mich inspirieren, es ihnen gleich zu tun. Nur – was kann ich schon tun? Ich kann Unrecht beim Namen nennen. Ich kann antisemitischen Parolen widersprechen, egal, aus welcher Ecke sie kommen. Ich kann solidarisch sein mit den vielen Opfern auf allen Seiten. Ich kann Verharmlosern, den „Ja, aber …-Sagern“, entgegen-treten. Ich kann eine demokratische Kultur in meinem Umfeld fördern. Ich kann zuhören und versuchen, den anderen zu verstehen. Und dann kann ich hoffen. Hoffen, dass Kain nicht erst am Ende der Tage aufhört, seinen Bruder zu erschlagen. Und hoffen, für mich und die ganze Welt, dass jene Worte, die Menschen seit Davids Zeiten einander zuraunen und vor Gott bringen, auch in unseren Tagen zur realen Erfahrung werden: „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.“

Alexander Bergel