„Und alle, die es hörten, staunten über das, was ihnen von den Hirten erzählt wurde.“ Was war es wohl, womit die Hirten die Leute so zum Staunen gebracht haben? Ging es nicht nur um ein Kind? Sicher, da war diese Stimme – mitten in der Nacht –, eine Stimme, die zu ihnen sprach: „Heute ist euch der Retter geboren!“ Wegen dieser Stimme waren sie losgelaufen, die Hirten. Der Retter ist da – das lässt sich auch keiner zweimal sagen.

Doch dann, angekommen im Betlehem, im Stall – was finden sie da? Nichts Großartiges, Königliches – nein, ein ganz normales Kind. Es sah aus wie jedes Neugeborene. Und hörte sich vermutlich auch so an. Aber als sie wieder weggingen, hinein in die tiefe Nacht, da waren die Hirten nicht mehr dieselben. Allen erzählten sie von dieser Begegnung. Vielleicht mit leuchtenden Gesichtern. „Und alle, die es hörten, staunten.“

„Ein neugeborenes Baby ist wie der Anfang aller Dinge, es ist Staunen, Hoffnung und Traum aller Möglichkeiten.“ So bringt es die amerikanische Pädagogin Eda LeShan auf den Punkt. „Ein neugeborenes Baby ist wie der Anfang aller Dinge, es ist Staunen, Hoffnung und Traum aller Möglichkeiten.“ Vielleicht hatten die Hirten von damals die Gabe, in diesem Neugeborenen wirklich das zu sehen, was Gott ihnen zeigen wollte: Ein neuer Anfang ist gemacht! Eine neue Hoffnung ist mit Händen zu greifen! Ein Traum wird wahr, denn alles ist wieder möglich!

Wer sich darauf einlassen kann, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und kann anderen etwas von seiner Kraft abgeben. Vermutlich gehört auch dies zum Geheimnis der Nacht von Betlehem und macht sie zur heiligen, zur heilenden Nacht: Menschen hören in tiefster Dunkelheit eine unglaubliche Botschaft. Sie gehen los. Sie treffen auf jemanden, der sie staunen lässt und so anrührt, dass sich ihre Sicht auf das Leben ändert und sie dann voller Mut und Hoffnung nach Hause zurückkehren lässt.

Lange ist das her. Und heute? Was führt heute dazu, dass Menschen ins Staunen geraten? Was führt heute dazu, dass Menschen sich nicht überwältigen lassen von der so oft alles bestimmenden Dunkelheit? Was führt heute dazu, dass Menschen sich aufmachen und nach neuen Wegen suchen? Drei Fragen. Ich meine sogar: drei Überlebensfragen. Für jede, für jeden einzelnen. Und für uns als Gemeinde. Zumindest dann, wenn wir eine wirkliche Zukunft haben wollen.

Frage 1: Was führt heute dazu, dass Menschen ins Staunen geraten? Wir versammeln uns zur Feier des Gottesdienstes. Am Sonntag. In der Woche. Zu den Festen. Am Lebensanfang und am Lebensende und zu anderen besonderen biografischen Anlässen. Was zieht uns eigentlich noch hierhin? Früher war – um mit Loriot zu sprechen – nicht nur mehr Lametta, früher waren auch die Kirchen voller als sie es heute sind. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat die Zahl derer, die Gottesdienste mitfeiern, um 50 % abgenommen. Vielleicht haben sie gemerkt: „Das gibt mir nichts mehr.“ Manche haben sogar entdeckt: „Das hat mir noch nie etwas gegeben, und darum bleibe ich weg.“

Die zusammenbrechende Volkskirche führt unweigerlich zur Frage: Warum bin ich eigentlich noch da? Was zieht mich her? Und weiter: Kann ich noch staunen über das, was wir hier feiern? Berührt mich die Botschaft vom menschgewordenen Gottessohn immer noch? Oder zumindest doch immer mal wieder? Und: Gibt mir das, was ich hier erlebe, was ich feiere, Kraft? Macht es mir Mut für mein Leben? Und noch tiefer gefragt: Was bedeutet mir eigentlich die Eucharistie? Sind Brot und Wein wirklich so eine Art Lebensmittel, das mich mit allen Sinnen erfahren lässt, wie nahe Gott mir kommen will?

Wir werden uns im nächsten Jahr intensiv mit diesen Fragen beschäftigen. In der Fastenzeit gibt es dazu in St. Franziskus ein vielfältiges Angebot. Einzelne Stationen zum Nachdenken und Ausprobieren, Gesprächsangebote und Diskussionsforen, ein geistlicher Tag zum Thema Eucharistie, eine Predigtreihe und manches mehr für große und kleine Menschen. Ein besonderer Akzent: Wir laden Sie ein, bei Ihnen zu Hause Eucharistie zu feiern. Im kleinen Kreis. Ein paar befreundete Familien oder Nachbarschaften oder ganz andere Zusammensetzungen. So, wie sie mögen. Vielleicht hilft das dabei, die Mitte dessen, warum es uns eigentlich gibt, noch einmal viel unmittelbarer zu erleben.

Frage 2: Was führt dazu, dass Menschen sich nicht überwältigen lassen von der oft so alles bestimmenden Dunkelheit? Wer sich umschaut, sieht oft nur noch Not und Elend, Menschen, die sich nicht mehr zu helfen wissen, verängstigte Kinder, Jugendliche und Erwachsene, zerstörte Beziehungen, selbstherrliche Potentaten, Menschen, die über Leichen gehen, taktierende, manipulative Typen, denen man nicht mehr trauen kann. Viele ziehen sich zurück in ihre eigene verschwurbelte Welt, greifen zu rassistischen, antisemitischen, menschen-verachtenden Parolen, schießen wild um sich – mit Worten und Waffen. Was können wir dem entgegensetzen? Jede und jeder einzelne, wir als Gemeinde?

Auch wir als Kirche haben versagt: Stichwort Missbrauch, Stichwort Diskriminierung, Stichwort Macht. Müsste man eine christliche Gemeinde nicht vor allem daran erkennen, dass dort alle ihren Platz finden können? Eine Gemeinde sollte ein Ort sein, an dem Menschen unkompliziert geholfen wird. Wo sie Vertrauen erfahren. Wo sie angstfrei leben können. Wo sie sich mit ihren Talenten einbringen können. Ein Ort, an dem jede und jeder so sein kann, wie er, wie sie ist. Egal, woher er kommt, egal, wen sie liebt, egal, welche Vergangenheit man hat.

Eine der wichtigen Fragen für das kommende Jahr, meine ich, wird sein: Wie können wir noch mehr unseren Beitrag dafür leisten, dass Menschen zusammengeführt werden? Welche Projekte für Kinder und Jugendliche, für Alleinlebende, für Menschen in prekären Situationen, für alte Menschen können wir verstärken oder neu ins Leben rufen?

Frage 3: Was führt heute dazu, dass Menschen sich aufmachen und nach neuen Wegen suchen? Im November haben wir mit einer Zukunftswerkstatt begonnen, in der es um St. Franziskus geht. Ende Januar werden wir uns ein zweites Mal intensiv mit dieser Frage beschäftigen. Die Franziskuskirche mit ihrer bis ins kleinste Detail durchdachten Architektur aus den 1960er Jahren ist die steingewordene Idee einer „Kirche mitten unter den Menschen“. Ein großer Wurf in damaliger Zeit. Ein visionärer Aufbruch. Vieles ist seither geschehen. Wir spüren, nicht erst seit gestern, dass wir mitten in einer Zeitenwende stehen. Das, was war, ist vorbei. Ein für alle Mal. Das, was kommt, liegt noch im Verborgenen.

Vieles von dem, was war, ist ein großer Schatz. Doch nun heißt es, neue zu Wege gehen. Und dabei kann uns die Vision der Erbauer dieser Kirche helfen. Rudolf und Maria Schwarz waren keine Baumeister für etwas, das auf immer so bleiben müsste. Immer wieder haben sie sich inspirieren lassen von den Fragen der Zeit. Und nach neuen Antworten gesucht. Dies ist nun unser Auftrag.

Wir machen uns auf die Suche danach, wie ein solch großartiges Gebäude mit seiner Geschichte Inspirationsquelle für die Zukunft sein kann. Sonst wird St. Franziskus irgendwann zu einer leblosen Hülle. Wenn wir mutig genug sind und auf das schauen, was in diesen Zeiten unser Beitrag sein kann für ein gelingendes Miteinander in unserer Stadt, werden wir auch Antworten finden. Da bin ich mir ganz sicher.

„Ein neugeborenes Baby ist wie der Anfang aller Dinge, es ist Staunen, Hoffnung und Traum aller Möglichkeiten.“ Was die Hirten damals in Betlehem gesehen und erlebt haben, was sie mit nach Hause nehmen und anderen weitersagen konnten – das ist Ursache und Grundlage einer jeden Gemeinde. Wenn auch wir staunende und hoffende Menschen bleiben, die zu träumen wagen, dann blicken wir in keine düstere Zukunft. Ganz im Gegenteil: Wir haben so viele Möglichkeiten für ein gutes neues Jahr 2024. Meinen Sie nicht auch?

Alexander Bergel