»Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen.« Das wäre mal was, oder? Söhne und Töchter, junge Leute also, die aufstehen und den Finger prophetisch in die offenen Wunden legen. Junge Frauen und Männer, die eine Idee für ihre Zukunft haben. Und alte Leute, die es noch wagen zu träumen. Zu träumen, obwohl sie schon so vieles erlebt haben. Oder vielleicht auch, weil sie schon so vieles erlebt haben.

Wir feiern Pfingsten. Und erinnern uns daran, dass aus einer kleinen eingeschüchterten Truppe eine Bewegung wurde, die keine Angst mehr hatte. Jedenfalls keine, die alles überlagerte. Wir erinnern uns an Männer und Frauen, die sich plötzlich trauten, von dem zu erzählen, was sie erlebt hatten mit diesem Jesus von Nazareth. Wir erinnern uns an eine Zeit, in der es ähnlich viele Sorgen und Probleme, Zukunftsängste, Diktatoren und mörderische Systeme gab wie heute. Aber ein Verkriechen, ein Lamentieren: »Das wird ja doch nichts!«, ein Jammern: »Ach, wenn die Zeiten andere wären, dann …« – all das gab es plötzlich nicht mehr.

Nein: Die Menschen damals, die mit Jesus unterwegs waren, die Frauen und Männer, die ihn gehört, gespürt und erlebt hatten, jene, die ihn hatten sterben sehen und danach etwas Neues mit ihm erfahren konnten, ohne genau zu wissen, was das ist – Auferstehung –, alle diese Menschen, die nicht wussten, wohin die Reise gehen wird – sie gingen nach draußen. Gingen einfach los. Sprachen von dem, was sie bewegte. Mehr noch: Menschen in ihrer Nähe konnten spüren: Die meinen das ernst! Und vor allem: Die reden nicht nur, nein: die handeln!

»Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen.« Was heißt das für uns? Vielleicht heißt das für uns als Kirche im Jahr 2024: Auf das hören, was die Jungen uns an prophetischen Worten sagen, auf das schauen, was sie tun. Die jugendliche Kraft des Aufbruchs nicht ignorieren oder relativieren, nein: Die Impulse aufgreifen und unterstützen. Konkret: Die Frage der Bewahrung der Schöpfung erst nehmen und sich zu eigen machen. Und nicht sagen: »Ich kann ja doch nichts tun.«

Und weiter: Man muss die Gendersprache vielleicht nicht mögen – aber mit ihrer massiven Abwehr gleich das Anliegen von gerechter Teilhabe aller relativieren? Nein! Gottes Geist macht alle gleich, gibt allen dieselben Rechte: »Nicht mehr Juden und Griechen«, wie Paulus es für seine Zeit sagt, »nicht mehr Sklaven und Freie, nicht mehr Mann und Frau – wir alle sind eins in Christus durch den Heiligen Geist!« Was wäre wohl, wenn die Kirche auf diesem Hintergrund plötzlich zur Vorreiterin in Fragen der Teilhabe und der Gerechtigkeit für alle würde – gleich welcher Herkunft, gleich welchen Geschlechts, gleich welch sexueller Orientierung, gleich welcher Religion oder Weltanschauung?

Und die Alten mit ihren Träumen? Es gibt sie. Jene Frauen und Männer, die ihr Leben lang für eine Sache gekämpft und gearbeitet haben. Auch in der Kirche. Die über das Kämpfen alt geworden sind, sich aber dennoch nicht davon abbringen lassen, weil sie in ihrem Einsatz etwas von dem erkennen, was Gottes Geist bewirken könnte, wenn man ihn ließe. Der Blick in die Geschichte beweist: Viel von dem, was Menschen wichtig war, kam nicht von jetzt auf gleich.

Du brauchst einen langen Atem. Und so blicke ich auf die vielen Frauen in unserer Kirche, die trotz aller Geringeschätzung, trotz aller fehlenden Teilhabe nicht gegangen sind. Und zwar nicht, um die Kirche zu retten – darum kann es auch nicht gehen –, sondern um der Botschaft Jesu treu zu bleiben. Und ihr in dieser Kirche ein Gesicht zu geben.

Wenn sich in unserer Pfarrei eine Frau auf das Amt der Diakonin vorbereitet hat im Wissen darum, diese Weihe vielleicht nie zu erleben, hat sie es auch getan für die vielen jungen Frauen, die ähnliches möchten und in ihr eine Vorreiterin erkennen, die Mut macht, sich nicht abbringen zu lassen von diesem Gedanken. Ja, so war es immer schon. Das Zweite Vatikanische Konzil mit all seinen Aufbrüchen konnte es nur geben, weil Jahrzehnte vorher mutige Menschen Dinge einfach getan haben. Dinge, die für uns heute selbstverständlich sind.

»Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen.« Wenn wir es wagen, dieser Vision des Propheten Joel zu folgen, wenn wir es wagen, in der Gemeinschaft der Christinnen und Christen zu bleiben und weiterzumachen, wenn wir es wagen, uns von den vielen Abgründen und Abbrüchen nicht in die Depression führen zu lassen, wenn wir es wagen, unsere Stimme zu erheben gegen rechte, menschenverachtende Hetze, gegen die Flut von Fakenews auch in unserem engsten Umfeld, wenn wir es also wagen, dem Geist Gottes mehr zu trauen als den vielen Abergeistern, dem Destruktiven und Kaputten – ja, wenn wir uns all das trauen: Das wäre was! Das wäre der Aufbruch in eine neue Zeit. Das wäre wirklich Pfingsten!

Alexander Bergel