»Auf dass den Gläubigen der Tisch des Wortes Gottes reicher bereitet werde …«
Warum wir am Sonntag zwei Lesungen hören

»Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Katholiken die Bibel zurückgegeben«, stellt der frühere Mailänder Kardinal Carlo Martini fest. Und in der Tat: Bis zur Liturgie-reform Mitte der 1960er-Jahre hat die Verkündigung des Wortes Gottes in der Feier der Messe eine, sagen wir es vorsichtig, eher untergeordnete Rolle gespielt.

Dies wurde nicht nur dadurch zum Ausdruck gebracht, dass es lediglich als lässliche Sünde galt, erst nach der sogenannten »Vormesse« in die Kirche zu kommen (heute nennen wir den ersten Teil der Messe »Wortgottesdienst«), nein, es gab neben dem Evangelium auch nur eine Lesung. Beide wurden auf Latein, seit Anfang des 20. Jahrhunderts von einem Vorleser zusätzlich auf Deutsch vorgetragen.

Welche Bibelstellen aber kamen zu Gehör? Zu einem weit überwiegenden Teil keine Texte aus dem Alten Testament. Gelesen wurden fast ausschließlich die Paulusbriefe aus dem Neuen Testament, und beim Evangelium wählte man vor allem den Evange-listen Matthäus. All dies sollte sich nach dem Willen der Konzilsväter, wie man die von 1962 bis 1965 in Rom zum Konzil versammelten Bischöfe aus der ganzen Welt nannte, grundsätzlich ändern.

Bereits die sogenannte Liturgische Bewegung und die Bibelbewegung hatten im 20. Jahrhundert zu einer höheren Wertschätzung der Heiligen Schrift und ihrer Verkündigung in der katholischen Kirche geführt. Das Konzil hat diese Entwicklung aufgegriffen und ihr eine rechtsverbindliche Form gegeben. In der sogenannten Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung (DV) aus dem Jahr 1965 heißt es beispielsweise: »Die Kirche hat die göttlichen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlass das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht« (DV 21).

Was für eine Aussage! Das Brot des Lebens empfangen die Christinnen und Christen nicht nur vom Tisch des Mahles, wenn sie an der Eucharistie teilnehmen, sondern ebenso, wenn ihnen das Wort Gottes verkündet wird. Für Menschen, die in den Kirchen der Reformation groß geworden waren, nichts Neues. Aber für katholische Ohren waren das völlig ungewohnte Töne.

Schon zuvor zeichnete sich im ersten vom Konzil im Jahr 1963 verabschiedeten Dokument, der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium (SC), eine Neubewer-tung der Heiligen Schrift ab. Die grundlegende Wichtigkeit der Bibel für die Liturgie stellt SC 24 fest: »Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift.« Konkret ordnet SC 51 für die Messfeier an: »Auf dass den Gläubigen der Tisch des Gottes Wortes reicher bereitet werde, soll die Schatzkammer der Bibel weiter aufgetan werden, so dass innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren die wichtigsten Teile der Heiligen Schrift dem Volk vorgetragen werden.«

Konkret bedeutet dies, dass wir seither an Sonn- und Feiertagen drei Lesejahre haben: A, B und C. In der ersten Lesung hören wir Worte aus dem Alten Testament (mit Ausnahme der Osterzeit, in der entweder aus der Apostelgeschichte oder aus der Offenbarung des Johannes gelesen wird). Als zweite Lesung dienen die Briefe aus dem Neuen Testament, meist aus der Feder des Apostels Paulus oder aus seinem Schülerkreis. Und bei den Evangelien gibt es nun jeweils ein Jahr, in dem entweder Matthäus (Lesejahr A), Markus (Lesejahr B) oder Lukas (Lesejahr C) gelesen wird. Johannes taucht immer mal wieder auf. An Werktagen gibt es bei der (nur einen) Lesung die Lesejahre I und II, bei den Evangelien wird jedes Jahr dasselbe gelesen.

»Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Katholiken die Bibel zurückgegeben« – so kann man es mit Kardinal Martini wirklich sagen: Der Tisch des Wortes ist reicher gedeckt als je zuvor. »Aber«, so höre ich gelegentlich, »mir ist das manchmal zu viel. Ich kann das alles gar nicht aufnehmen. Und in der Predigt geht es ja meist auch nicht um alle drei Lesungen.« Beide Argumente kann ich gut nachvollziehen. Und doch bin ich froh, dass wir diesen reich gedeckten Tisch haben – und würde den auch nur ungern wieder halb abdecken.

Vielleicht muss man sich jedoch von etwas verabschieden – und sich dafür etwas anderes vornehmen: Ich glaube, es ist eine Überforderung zu meinen, mich müsse immer alles ansprechen und berühren. Wenn es hingegen aber immer mal wieder einen Satz oder ein Wort aus einer der Lesungen oder aus dem Evangelium gibt, die mich konkret erreichen, wäre das schon eine ganze Menge. Und andersherum nehme ich mir vor, noch mehr als bisher auch Gedankengänge der Lesungen in die Predigt aufzunehmen.

Ich glaube, es wäre nicht der richtige Weg – um im Bild des reich gedeckten Tisches zu bleiben –, unser Dreigängemenü zu kürzen (ehrlicherweise haben wir mit dem gesungenen biblischen Antwortpsalm sogar noch eine Art »Zwischengang«), sondern je nach »Angebot« mir das auf der Zunge zergehen zu lassen, was mir der Herr an diesem Tag anbietet.

Noch vieles ließe sich über die Leseordnung sagen. Zum Beispiel, dass Frauengestalten und Frauengeschichten nur sehr unterrepräsentiert sind oder dass die Auswahl der Lesungen aus dem Alten Testament immer so gestaltet wird, dass sie zum Evangelium passen (frei nach dem Motto: Bei Jesus erfüllt sich, was das Volk Israel nur ahnen konnte) und noch manches mehr. Dazu vielleicht ein anderes Mal.

Für heute lade ich Sie herzlich ein, auch weiterhin erwartungsfroh am Tisch des Wortes Platz zu nehmen und sich von Gottes Wort so nähren zu lassen. Vielleicht nicht ganz so wörtlich, wie es der Prophet Ezechiel beschreibt, aber doch in einem sehr tiefen, wahren Sinn: Gott »sagte zu mir: Menschensohn, gib deinem Bauch zu essen, fülle dein Inneres mit dieser Rolle, die ich dir gebe! Ich aß sie, und sie wurde in meinem Mund süß wie Honig« (Ez 3,3). In diesem Sinne: Guten Appetit!

Alexander Bergel

.
Alle Folgen der Liturgiereihe
finden Sie hier.