»Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus.« Jesus war also Jude. Wie seine Eltern. Woher kommt es eigentlich, dass wir das vergessen haben? Warum haben wir vergessen, dass uns das Volk Israel Jesus geschenkt hat? Jenen Jesus, den die Christinnen und Christen als Sohn Gottes verehren?
Vielleicht denken Sie gerade: Ich habe wirklich ganz andere Sorgen. Und noch mehr Fragen: Wohin geht dieses Land? Wohin steuert Europa? Was haben wir von den USA zu erwarten mit einem kommenden Präsidenten, der jetzt schon ankündigt, was er alles abschaffen und verändern wird? Und weiter: Was wird aus unserer Erde? Was aus meiner Familie? Wohin führt die große Gewaltbereitschaft, wohin die immer größere Armut und Ratlosigkeit, die allüberall mit Händen zu greifen ist?
In der Tat: Das sind entscheidende Fragen. Und viele haben Angst vor den Antworten. Keiner weiß genau, was wird. Das wusste aber noch nie jemand, zu keiner Zeit. Und daher, meine ich, ist es an Tagen wie diesen, an denen wir vielleicht ein wenig zur Ruhe gekommen sind, weil wir zu Weihnachten doch einen Gang zurückschalten konnten, so wichtig, in aller Ruhe auf das zu schauen, was ist – und nicht nur Angst zu haben vor dem, was kommt. Oder kommen könnte.
Wenn Sie in Ihr Leben blicken – erkennen Sie dort nicht auch viel von dem, was die Bibel meint, wenn sie vom Segen spricht? Wir alle leben in Beziehungen. Vielleicht ist nicht immer alles nur einfach und schön. Aber da sind Menschen, die zu mir gehören, die mich lieben, denen ich vertrauen kann, die mir zur Seite stehen. Vielleicht nicht immer viele. Aber einen Menschen, den gibt es bestimmt. Gesegnet sein bedeutet: Über meinem Leben steht die Verheißung: Es ist gut! Du bist gut! Der das sagt, ist jener Gott, von dem Israel glaubt, dass er es von Beginn an geliebt und getragen hat, komme, was kommen mag.
Alle, die sich Christen nennen, gehen noch einen Schritt weiter und sagen: Dieser Gott Israels hat auf einzigartige Weise die Grenze zwischen Himmel und Erde überschritten und ist Mensch geworden. Und dieser Menschensohn – Jesus – hat sich vom Unheil dieser Welt nicht überwältigen lassen. Nicht mal am Kreuz war seine Geschichte zu Ende. Im Gegenteil, dann ging sie erst richtig los! Mehr und mehr setzte sich die Überzeugung durch: Mit Jesus kam eine neue Kraft in diese Welt. Mit Jesus hat Gottes Handeln – über den Tod hinaus – ein Gesicht bekommen. Mit Jesus kam auf neue Weise jener Geist in die Welt, der am Anfang der Schöpfung über den Wassern schwebte.
Und das ist dann auch die Frage, die wir uns als Christinnen und Christen immer wieder und immer neu stellen müssen. Nicht nur zu Weihnachten. Nicht nur zu Ostern. Nicht nur zu Pfingsten. Die Frage nämlich: Welcher Geist schwebt über uns? Aus welchem Geist heraus handeln wir? Was ist unsere Motivation, überhaupt noch Teil dieser Gemeinde, Teil der Kirche zu sein?
Seit September stehen drei Bänke vor unseren Kirchen. Auf jeder dieser Bänke steht: »Alle Menschen sind geliebte Kinder Gottes!« Alle Menschen. Wirklich alle. Egal, woher sie kommen. Egal, was sie glauben. Egal, wen sie lieben. Alle haben dieselbe Würde. Ausnahmslos. Und daher muss auch jede und jeder bei uns Platz haben. Wofür eine christliche Gemeinde jedoch keinen Platz haben darf, sind die Haltungen, die auf den drei Bänken stehen. Bei uns ist kein Platz für Antisemitismus. Bei uns ist kein Platz für Diskriminierung. Bei uns ist kein Platz für Hass und Gewalt.
»Aber damit grenzen Sie doch Leute aus!«, höre ich gelegentlich. Nein, das glaube ich nicht. Jeder Mensch ist hier willkommen. Aber Hass ist keine Meinung! Hass und Gewalt und Diskriminierung und Antisemitismus sind Angriffe auf die Menschenwürde. Und daher tragen unsere Bänke diese Aufschriften. Wir machen damit deutlich, welcher Geist bei uns weht.
Und welcher Geist weht bei uns? Wenn es der Geist Jesu Christi ist, dann ist es ein göttlicher Geist. Vor 1.700 Jahren, im Jahr 325, wurde auf dem Konzil von Nizäa ein Glaubensbekenntnis formuliert, das wir noch heute sprechen. Vielleicht sind manchen die alten Formeln fremd geworden: Gottes eingeborener Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit, Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater. In der Tat, es sind Worte vergangener Zeiten. Aber die Grundfrage bleibt doch: Glaube ich, dass in dem Menschen Jesus Gott wirklich gegenwärtig ist, ja, dass Jesus Gott selbst ist? Und wenn ja: Was bedeutet das für mich? Wenn nein: Hätte das irgendwelche Konsequenzen für mein Handeln? Ich möchte darüber im kommenden Jahr neu nachdenken. Gerne mit Ihnen zusammen!
Welcher Geist weht bei uns? Wenn Jesus – wie auch immer ich ihn mir vorstelle – die Mitte unserer Gemeinde ist, dann darf ich nicht vergessen, dass er Jude war. Dass er sich in den Schriften seines Volkes bestens auskannte. Dass seine Art zu predigen, mit Leidenschaft und immer auch mit einer geistreichen Pointe, gespeist ist von den Erfahrungen mit seinen Lehrern in der Synagoge. Ich möchte im kommenden Jahr mehr über die jüdischen Wurzeln Jesu erfahren. Mich austauschen mit jüdischen Menschen, mehr kennenlernen, woher wir kommen, und wohin wir gemeinsam gehen können. Auch das gerne mit Ihnen zusammen!
Welcher Geist weht bei uns? Wenn Jesus, der vom Frieden nicht nur sprach, sondern ihn lebte, immer wieder eintrat für die Rechte der an den Rand Gedrängten, wenn er immer wieder Menschen, vor allem auch Frauen, ermutigte, ihre Würde neu zu entdecken, wenn er ihnen zutraute, zu sich zu stehen und von ihrer Sicht auf die Dinge zu sprechen, dann muss eine christliche Gemeinde es ihm doch gleichtun. Ich möchte im kommenden Jahr noch mehr als bisher schauen: Wo haben wir Menschen, Frauen und Männer, die über ihren Glauben, über ihre Sicht auf das Leben, sprechen können – und sie ermutigen, das in unseren Gottesdiensten zu tun. Menschen, die etwas zu sagen haben und die uns spüren lassen können, welchem Geist sie vertrauen. Ich weiß, dass viele von Ihnen sich darüber freuen würden. Vielleicht machen ja manche von Ihnen auch selbst mit dabei?
»Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus.« Wir sind versammelt im Namen des Juden Jesus, der seine Arme ausgebreitet hat für alle Menschen. Wer in seinem Geist unterwegs ist, darf das nie vergessen. Und – fast noch wichtiger: Wer ihm vertraut, braucht keine Angst zu haben. Nicht naiv mit Kopf im Sand, sondern ermutigt durch Worte und Taten, die zeigen, wie wunderbar das Leben sein kann. Komme, was kommen mag!
Alexander Bergel